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Samstag, 21. Dezember 2002

045 | Kino Babylon

Nein, ich werde nichts über die (Vor-)Weihnachtszeit schreiben. Hatte ich mir fest vorgenommen. Keinen weiteren Misston in die Alle-Jahre-wieder-Kakophonie unterschiedlicher Standpunkte bringen. Wenn die angezündeten Lichter zu hell leuchten: Augen zu und durch. Motiviert vom Wissen, dass der heutige Tag – obgleich der kürzeste – für Weihnachtsmelancholiker und Dezemberdepressive der bedeutsamste ist: Wintersonnenwende!
Das war mir gestern Anlass, um die längste Nacht im Kino zu verkürzen. Passenderweise mit Kurzfilmen - im „Babylon“ am Luxemburgplatz.
Cut!
Ich war lange nicht mehr dort. Alles neu gestrichen, neue Klappsitze, aber noch das kleine Kassenhäuschen, der barocke Balustradenschwung von den oberen Logen, die mich immer an eine Kellerassel oder einen ausgestorbenen Trilobiten erinnernde Lüftungsanlage der Decke und – der ebenfalls vom Aussterben bedrohte Kino-Gong: Bing – Bang – Bong ...
Bing:
Mit dreizehn hatte ich an der kleinen Kasse einen Pyrrhussieg errungen – den Eintritt zu einem Film ab vierzehn. Es sollte um Wahnsinn und Mord gehen! Draußen in den Glaskästen hingen Szenenfotos in Schwarzweiß; fast immer waren die Szenenfotos in Schwarzweiß. Der Titel lautete: „Das Kabinett des Doktor Caligari“ Das Klang schon so dunkel und gruselig. Aber der Film enttäuschte mich. Er war auch in Schwarzweiß, ein Stummfilm von Anno Zopf. Dass er ein expressionistisches Meisterwerk von Fritz Lang ist, also mehr als Kult, interessierte mich nicht.
Bang:
Am letzten Jahrestag der DDR war ich abends mit einer Freundin im Babylon verabredet. „Die Legende von Paul und Paula“ wurde gezeigt. Als ich vom S-Bahnhof Alexanderplatz kommend die Liebknecht-Straße überquerte, quoll mir eine verbotene Menschenmasse von links entgegen. Von rechts hielten Funkstreifenwagen. Und ich stand für einen Moment wie gelähmt auf der Straße, zwischen dem unbekannten Neuen und denen, die das nicht aufhalten konnten. Ich wusste, wo mein Platz sein sollte, jedenfalls nicht im Babylon. Aber meine Freundin überredete mich, bei ihr im Kino zu bleiben. Fassungslos saß ich vor der Scheinwelt DEFA-realistischer Filmkunst, während draußen geschrien wurde: „Kommt heraus und reiht euch ein!“.
Am nächsten Abend war ich Freiwilliger der Bürgerwehr, doch an diesem nur ein gefühlter Deserteur. Paul liebte Paula und die Revolution kam aus dem Off. Wintersonnenwende schon im Herbst.
Später, in der Nachwendezeit, sah ich viel Progressives im Babylon. Nur einmal, als ich mit einem Freund dort zur „Rocky-Horror-Picture-Show“ wollte („Da kannste mit Reis werfen!“), drehte ich im girlandengeschmückten Foyer wieder um: Eine Gay-Party! Zu viel Horror-Picture-Show für zwei neunzehnjährige Heteros.
Bong:
Gestern war das Publikum gemischt und angenehm überschaubar. Männer Ende zwanzig mit langen Mänteln, Koteletten, Wochenbärten und herausgewachsenem Kurzhaarschnitt. Die Frauen – etwa im selben Alter – waren äußerlich vielfältiger. Und doch kann man sie als typisch für den Friedrichshain und Prenzlauer Berg bezeichnen. Innerlich sind sie wohl alle Einzelkämpfer, wenn auch gemeinsam zwischen entspannter Abgrenzung und etablierter Subkultur beheimatet. Extrovertierte Introvertierte, bei denen jede Schublade klemmt und zu klein bleibt. Obschon vergleichbar mit erdachten entradikalisierte Nachkommen von Uschi Obermeier und Reiner Langhans.
Merkwürdig: Dieser Menschenschlag kreativer Intellektueller zieht mich jedes Mal genauso an, wie er mich voller Skepsis Abstand gewinnen lässt. Da die klugen, neugierigen Augen und da die spöttisch blasierten Blicke. Und hinter mir die liberale kleinbürgerliche Erziehung, die prägt, egal wie oft man sich häutet.
Ab dreißig, habe ich mal gelesen, sind die grundlegenden Wert- und Weltanschauungen festgemacht. Ob das nun gut oder schlecht ist, liegt an der Art der Anschauungen. Und eben an den altersbedingten Blickwinkeln.
Cut!
Die Kurzfilme waren ganz nett, mit Weihnachten als thematischer Klammer. Je nach Anschauung und Blickwinkel kamen die Storys als versalzene Feuerzangenbowle oder Molotowcocktail daher, als verbrannte Plätzchen oder entlaubte Weihnachtsbäume. Und als hübsch verpackte Geschenke Pandoras - mit zum Spielen freigegebener Hoffnung. Wintersonnenwende!

Sonntag, 1. Dezember 2002

044 | Schmuddelwetter

Wenn es in Berlin nicht regnete, würden die Straßen im Hundekot versinken. Und die Arbeiter auf ihren Baugerüsten schrien sich den ganzen Sonnabend Großstadt-Dschungel-Laute zu. So ziehen sich die Hiesigen aber zurück, quälen die Fernseher, telefonieren mit anderen Zurückgezogenen oder gehen einfach wieder ins Bett. Vorausgesetzt, sie müssen sich nur um sich selbst kümmern. Dort bei einer Tasse Tee oder Kaffee zu lesen, ist für mich der spartanischste Luxus, den ich mir in Winterschlafzeiten denken kann. Überdies ist es manchmal besser, sich aus dem halb wachen Leben da draußen herauszuhalten. So genieße ich zur Zeit drei Bücher: Für die Morgenstunden „Picknick mit Bären“ von Bill Bryson, für den entspannten Nachmittag eine Schiller-Biographie und Buchheims „Die Festung“ für nachts. Zwischendurch nur mal schnell wegen des versäumten Wochenendeinkaufs in den nächsten Supermarkt wie welche, die besser im Regen stehen geblieben wären: Ein langhaariger Bartträger, der inmitten des Konsums mit seinem angegammelten Geruch beinahe prophetisch daherschlurft und penetrant an die Vergänglichkeit allen Seins gemahnt. Er ist die Personifizierung des Spätherbstes, wenn man von seinen nackten Sandalenfüßen einmal absieht.
Ähnlich sonderbar, und auch fast schon ins Surreale gesteigert, war der Anblick eines anderen Mannes, der vor ein paar Abenden auf dem Beifahrersitz eines geparkten Autos saß: Ende sechzig, kurzatmig, und zur braunen Hornbrille passend dick. Unpassend nur – eben surreal – die Musik, welche er bei heruntergeleiertem Fenster hörte: „Sag mir, wo die Blumen sind“. In einer Millva-Interpretation, wie ich im Vorübergehen hörte. Und da glaubt man, die Menschen zu kennen ...
Was mich gestern Abend trotz Dunkelheit und Schmuddelwetters wieder hoch brachte, war eine Einladung von Freunden. Sie wollten etwas ganz Außergewöhnliches kochen.
Ich war schon spät dran, stieg frisch geduscht und mit zwei Flaschen badischen Riesling bewaffnet ins Auto, da stieg im Gegenzug die Batterie beim Anlassen aus. Sehr schön! ADAC angerufen und gewartet. Und gewartet. Draußen nieselte es.
Als die Scheiben beschlugen, stellte ich mich unweit des Wagens vor einen Eckladen unter eine handbreit Markise. Und gewartet. Weil der Laden schon geschlossen war, musste ich auf die einzelnen Passanten, die beim Im-Dunkeln-um-die-Ecke-biegen vor mir erschraken, genauso suspekt gewirkt haben, wie die oben beschriebenen Männer vorher auf mich. Und unbeeindruckt davon, dass die Schuhe mit Wetterschutzcreme behandelt und und mit Imprägnierspray besprüht waren, krochen Kälte und Feuchtigkeit durch Leder und Strümpfe.
Als der ADAC-Mann nach einer dreiviertel Stunde kam, hielt er mir noch ein Referat über Autobatterien, statt endlich die beiden Starterkabel anzuklemmen. Offenbar schrieb er nach der Arbeit an einer Doktorarbeit über das Versagen von Batterien im Allgemeinen und das von PKW-Fahrern im Besonderen.
Um 22.00 Uhr war ich bei meinen Leuten. Da ich vorher durchgeklingelt hatte, war die frische Pasta noch heiß und der Abend noch zu retten. Wir unterhielten uns nach dem Essen über das merkwürdige Verhalten von Großstädtern und aus den Augen verlorene Bekannte, die uns im Grunde nicht mehr wirklich interessierten. Über das Schmuddelwetter aber verloren wir kein Wort.

Sonntag, 24. November 2002

043 | Sushi

Sushi mag man oder nicht. Für die einen Innbegriff gesunder, bewusster und vor allem ästhetischer Ernährung, für die anderen Synonym mondäner Dekadenz außerhalb Japans.
Ich hingegen mag dieses Fingerfood. Da ich allerdings Gourmet wie gourmand bin, war mir Sushi bisher immer eine Spur zu teuer, um satt zu werden. Bis ich unlängst den Tipp erhielt, vor 18.00 Uhr ins „Sushi Circle“ (Französische Straße 48) zu gehen. Da gäbe es bis 23.00 Uhr Happy Hour und für 14,90 € Sushi satt. Weil ich gestern Abend nichts weiter vorhatte und wegen eines späten Frühstücks das Mittagessen ausfallen ließ, machte ich mich auf den Weg. Bei Swingmusik im Auto wie durch New York am Alex vorbei und Unter den Linden lang, von den merkwürdig illuminierten Bäumen flankiert: Weihnachtliche Lichterketten zeichneten ihre Stämme und Äste nach, nur die dürren Zweige blieben ausgespart. So sehen die ge- und verkappten Linden wie surreale Leuchtkorallen aus und Berlin wie das untergegangene Atlantis.
Aber bereits in der Friedrichstraße ist der Spuk vorbei. Am Kaufhaus „Lafayette“ in die Französische Straße gebogen, mit Glück eine Parklücke gefunden und schon bin ich da, 20 vor, so wie es sein soll, will man noch einen der 26 Plätze um den quadratischen Tresen mit den abgerundeten Ecken ergattern.
In der Mitte, wie hinter einer Burg verschanzt, steht der japanische Sushi-Koch und stellt seine geschickt kreierten Häppchen-Teller mit Plastikkäseglöckchen auf das ihn umkreisende Fließband. Immer zwei Portionen übereinander. Wie er hinter seiner Burg vorkommt, ist mir anfangs ein Rätsel, da ich es von meinem Platz aus nicht einsehen kann. Ein gefangener Samurai im Dienste der Kundschaft. „Modern Times“ auf Japanisch.
Quadratisch und praktisch wie der Tresen ist auch der ganze Raum. Hell, sachlich und auch hier alles auf Wesentliches reduziert: Schaufenster, Holzfußboden, eine kleine Verkaufstheke, 5 Schriftzeichen an der Wand. Und - als Zugeständnis - ein Fernseher, der tonlos Euro-Sport überträgt: Gewichtheber, von leiser Radiomusik und sanftem Fließbandgeräusch unterspült.
Die Tresenburg ist schnell umzingelt. Das Publikum besteht aber nicht nur aus jungen Zeitgeistrittern. Gemein ist jedoch allen der Sinn für stilvollen Tafel-Genuss anzusehen. Glaube ich zumindest, wenn ich mit vollem Mund um mich schaue.
Bis auf ein paar wie gerade gepflückt aussehende grüne Schoten und ebenso grüne Algen probiere ich so ziemlich alles: Maki-Röllchen mit Gurke, mit Paprika oder Lachs, Sepia, Meerbrasse, Thunfisch oder Garnele auf Reis, und dann irgendwie alles noch einmal durcheinander. Hier etwas und da etwas, wie Schneewittchen an der Tafel der Zwerge. Nur eben mit Wasabi und eingelegtem Ingwer, und immer schön in Sojasoße gedippt. Zwischendurch kleine Schlückchen vom warmen Sake.
Die für die Abrechnung entscheidenden Farbkreise auf den Tellern spielen zwar keine Rolle, mir fällt diesbezüglich aber auf, dass beim All-inclusive-Preis das Beste vom Besten fehlt: Lachskavier (Inkura) und Jakobsmuschel (Hotagei). Doch irgendwie muss es sich ja rechnen.
Um die Getränkewünsche und abzuräumenden Tellerchen kümmern sich eine junge Deutsche und eine junge Japanerin. Beide sehr freundlich; die Deutsche auf eine übermäßig asiatische Art, die Japanerin westeuropäisch cool. Und ein Schwarzer bringt als Nachschub portionierten Obstsalat und frittierte Schmankerln aus der hinteren Küche. Unter anderem meinen Favoriten: Tintenfischstreifen in scharf-knuspriger Panade. Es schmeckt, auch wenn mir immer wieder aufstößt, von Schwarzen bedient zu werden. Ich komme mir dann so kolonialistisch vor, auch wenn das Quatsch ist.
Neben der Eingangstür stehen gleichmütig wie zur DDR-Zeit einige Gäste in der Hoffnung an, bald plaziert zu werden. Sie kennen sich offenbar bestens aus, denn nach 1 Stunde kann ich beim besten Willen nicht mehr, gebe mich vor den Künsten des Sushi-Samurai und seiner Crew geschlagen und räume rollend das quadratische Feld.

Sonntag, 10. November 2002

042 | Straßenköter am Catwalk

Freitagabend 17.00 Uhr in der Kastanienallee 40. Eine befreundete junge Modedesignerin präsentierte in einem klitzekleinen Laden mit Überputzstromleitungen ihre erste Kollektion. Vorerst nur für Frauen. Der Stil lässt sich mit sachlich-streng, klassisch-antik, auch futuristisch und irgendwie androgyn umschreiben. Im Schaufenster ein Hochglanzposter mit Model: Der offene Blick wie eine rhetorische Frage, der sinnliche Mund hält bei der Antwort jedoch inne und bleibt geöffnet. Wie ein Geheimnis, wie die Jacke in Weiß. Auf das Wesentliche reduzierte Unschuld. Wenn darunter nicht diese verdammt kurzen Shorts wären ... Den bärtigen Penner, der sich eingeschlichen hat, scheren solche ästhetischen Dinge nicht im Geringsten, solange er sein frech aus dem Beck´s-Kasten gegriffenes Bier im Warmen genießen kann. Selbst das Getuschel der geladenen Gäste ignoriert er gekonnt und weiht die aufgebügelten Jacken, Kleider und Röcke mit dem Rauch einer Zigarette. Darauf angesprochen sagt der Weihepriester prophetisch: „Ich weiß! Ich weiß, dass hier nicht geraucht werden soll. Ich weiß!“ Und verschwindet. Dafür kommt ein anderer Schmarotzer ins Spiel, mit vom Trinken roter Gesichtsfarbe und vom Hunger üblem Mundgeruch. Er spricht sie alle an: Freunde, Mutter, Schwester und Freund der Designerin. Und die Künstlerin persönlich. Die Sachen gefallen ihm, ja, wirklich. Aber warum sie nichts für Männer mache. Die Jacke dahinten würde ihm gefallen, die mit dem hohen Kragen, wie für Kellner gemacht, müsste aber doch eine Nummer größer sein ... Er redet, er lacht, er nervt und merkt es nicht. Peinlich berührtes Lächeln nimmt er für Freundlichkeit. Ein kleines Kind quängelte im Hintergrund. Es wollte nach Hause, die Rothaut nicht. Aber ich war es, der ging. Der Abend war dunkel, aber jung. Und ich war noch verabredet. Ein wenig bedaure ich meine Mode schöpfende Bekannte. Nicht wegen überflüssiger Gäste, sondern weil sie nach monatelanger Konzeptionen und Ausführungen bis zum 7.12. im klitzekleinen Laden stehen und auf Käufer warten wird. Di - Fr von 12 - 20 Uhr und Sa von 12 - 16 Uhr. Und das in Zeiten allgemeiner Rezession. Sie steht somit neben Typen, bei denen die Welt so lange in Ordnung ist, wie noch irgendwer einen Kasten Bier spendieren kann, als Gegenpol, ist eine Art Allegorie für die nicht unterzukriegende berlintypische Innovation. Auch wenn der Hype von vor 3 Jahren einer Normalität gewichen ist. Glück wird sie gebrauchen können, ihre Sachen aber, die wirklich gut sind, werden für sich sprechen. Und für sie: Anuschka Hoevener.

Donnerstag, 31. Oktober 2002

041 | Halloween und etwas behindert

Pünktlich zu Halloween und einen Monat nach dem Berlin-Marathon humple ich wie die Inkarnation Quasimodos durch die Straßen Berlins. Sogar ein wenig farblos im Gesicht. Würde Mutter sagen. Ich aber sage jedem, der danach fragt, mit dem stoischen Heldenmut eines Kriegsveteranen: „Meniskus“. Mehr Worte bedarf es nicht. Doch es ist Halloween! Also setze ich was von „Kernspin(n!)tomographen“ nach (Mich faszinieren diese Fachtermini!) und einer „möglichen Operation“. Was nichts Besonderes ist unter uns Kriegsveteranen, Profifußballern und Sonstwiehelden.
Fragt mich jedoch einer, wie es passiert sei, winde ich mich: „Es war ..., also ich ... wollte auf einen Tisch ... für ein Gruppenfoto ... --- Und kam nicht rauf.“
Aus die Maus. Nix mit Held. Ironisches Grinsen statt penetranten Mitleids. Schnell weiter. Gehumpelt. Zum Beispiel den laufstegartigen U-Bahngang „Stadtmitte“ entlang. Durch die immer präsente melancholische Schifferklaviermusik eines Russen wirkt der Weg zwischen der U6 und der U2 beinahe metaphorisch. Deshalb bewahre ich meinen aufrechten Gang und blicke stolz in neugierige Gesichter. Weil Stolz immer das Letzte sein sollte, was vor die Hunde geht. Aber ich habe gut reden, ich bin ja nur ein Behinderter auf Zeit, ein Kriegsveteran ohne Waffe, ein Fußballspieler ohne Ball ... Und dennoch ein Mensch.
Was nährt den Stolz, wenn man von der Selbstüberhebung absieht? Potentiale? Der bereits auf einzigartige Weise zurückgelegte Weg? Schmerz negiert das Sein zu Schein, den wir aufrecht(er)halten, solange es geht. Absehbare Schmerzen können einem sogar wie Orden gut zu Gesicht stehen, die man (er)trägt, die man im Griff hat, so Muskelkater & Meniskusrisse.
Warum aber die Schmerzen, die dich beherrschen können, dir das Mark, den Willen zum Leben aus den müden Knochen saugen? Warum die Schmerzen, die in ihrer Intensität und lebenslänglichen Unendlichkeit zynischerweise verlässlich sind?
(Vorhin telefonierte ich mit meiner Großmutter, die bereits den Tod anbetet, weil ihr Glaube an das Leben nachlässt wie die Wirkung ihrer Schmerzmittel.)
Was ist schlimmer: seelischer oder körperlicher Schmerz? Beides lässt sich wohl nicht wirklich vergleichen. Der Vergleich wird immer – wie ich gerade – hinken. Wer seelisch leidet, hat keine Ahnung mehr von stechenden, bohrenden, hämmernden körperlichen Qualen. Und umgekehrt genauso: Dem äußerlich Verstümmelten muss jede Art innerlicher Verluste wie ein bloßes Konversationsthema vorkommen. Nur der wahnsinnige Wunsch nach Erlösung ist allen Leidenden so gleich wie das Unvermögen, sich an vergangene Schmerzen genau zu erinnern.
Doch genug gelitten. Zurück ins Leben und zurück zu Halloween: Halloween regte mich im Grunde stets auf. Halloween in Deutschland, wo es sich über die letzten Jahre wie ein Kürbis auswuchs. Weil die verkleidete Bettelklingel-Tradition eine moderne Leihgabe amerikanischer Filmkultur ist. (Aber, aber, wer wird denn im toleranten Berlin so spießig denken? Lass doch die Kinder. Ihre Eltern verkleiden sich schließlich auch, wo sie können, und eifern sonst wem nach.) Ja, ich weiß, dieser infantile Firlefanz bringt auch noch etwas Schwung in die von allen Heiligen verlassene Wirtschaft. Und von daher ist es immer gut, wenn die kleinen Geister, die ihre Eltern schon mal „Mom“ und „Dad“ nennen, dafür sorgen, dass der Euro beim Einzelhandel rollt. Nur wer sind hier die Trendsetter? Sie oder clevere Wirtschaftsstrategen? Was war zuerst da: der Kürbis oder die Kerze? Vorhin rannten 7 Kinder an mir vorbei, von Tür zu Tür. Blass- und blutiggeschminkt, mit gruseligem Bonbonblick „Süßes oder Saures!“ rufend. Sie waren wie die grotesken Personifizierungen unserer Schicksale: „Süßes oder Saures! Süßes oder Saures!!“ Und wie meinte schon Forrest Gump: „Man weiß nie, was man kriegt.“ Das hätte aber auch Konfuzius sagen können.

Sonntag, 27. Oktober 2002

040 | Noch 'ne Party

Gestern war ich zu einer Wohnungs-Einweihungsparty geladen. Mehr so ein ruhiges sit in. Die Schuhe konnten angelassen werden. Keine Selbstverständlichkeit bei Einweihungsfeiern. Obwohl es um 21.00 losgehen sollte, kam – wie immer - vor 23.00 kaum jemand. Verstehe ich nicht. Man hätte doch viel mehr von einer längeren Nacht. So macht mich das Warten müde und jeder Neuankömmling wird – statt mit Neugierde - mit dezentem Gähnen begrüßt. Was machen die Leute überhaupt so lange zu Hause? Wenn ich die Zeit vor dem Fernseher überbrücken will, komme ich von Stunde zu Stunde immer schwerer hoch.
Na immerhin hatte ich um 22.00 das Vergnügen, mit 8 Frauen in der Küche zu sitzen und sie zu belauschen:
Eine interessierte sich für die erleuchteten Hof-Fenster des Nachbarhauses. Mit einem Fernglas, sagte sie, könne man da abends wunderbar reinschauen. Aha. Sehr aufschlussreich. Es wurde sich über Jobs & Wirtschaftskrise unterhalten, aber auch über Netzstrumpfhosen, Frisuren, Klatsch & Tratsch. Natürlich lassen sich Frauen nicht auf diese Klischee-Themen reduzieren, aber diese Themen haben für Frauen offenbar den großen Unterhaltungswert, den man ihnen nachsagt. Auch wenn es nicht für alle Frauen zutrifft. Gespräche über Fußball und Autos interessieren mich ja auch nicht, wohl aber die meisten Männer.
Eine der Frauen trug ein schwarzes Motörhead-T-Shirt, sah sonst aber nicht nach Schwermetall aus. Auf meine Frage, ob sie Motörhead höre, sah sie mich verständnislos an. Motörhead hören? Sowas gehe doch gar nicht. Nein, aber das Logoprint gefalle ihr. Ich verstand. Sie war Designerin. Die Gastgeberin – aus dem westlichsten Westen des Landes – erklärte nicht ohne Stolz, wo sie ihre 70er-Jahre-Ostalgie-Möbel herhabe. So so. Eine Lampe erkannte ich von früher wieder. Wie ein vertanes Foto aus Kindertagen. Eine werdende Mutter naschte sich durch Pizza, Couscous und Nachos, zwei Freundinnen sabberten bei jedem Klingeln nach potentiellen Männern. (Kein neidischer Machospruch von mir, sondern das Zitat einer Frau.) Und der Mann, der nach mir kam, führte sich wie ein Hybride aus Hahn und Hirsch auf, bis er als uninteressant geschnitten wurde. Bessere Männer zogen später nach und einige Frauen wie Magnete aus der Küche ins Wohnzimmer ab. Oder sie blockierten gemeinsam den engen Korridor dazwischen. Wer sich zum Bad durcharbeiten musste, sah aus wie ein praktizierender Tai Chi-Anhänger. Wenn er oder sie nicht gerade über ein Glas zuviel stolperte. Und der Sitzplatz war dann weg. Ich auch gegen 2.00. Wie bei der „Reise nach Jerusalem“. Warum eigentlich nach „Jerusalem“?

Sonntag, 20. Oktober 2002

039 | Shoppen

Gestern war ich wegen einer neuen Hose, Schuhen und Büchern unterwegs. Und weil ich herausfinden wollte, was der Unterschied zwischen "Shoppen" und "Einkaufen" ist.
Wenn es für die ideale Zielgruppe zwanzig- bis dreißigjähriger unverheirateter Großstädter einen Shoppingtag gibt, heißt er Samstag. "Samstag" klingt frischer als "Sonnabend", "Samstag" ist Tagesmagie pur, "Samstag" ist die Zeit bis zur sonnabendlichen Mitternachtsparty, die sich beim Shoppen besser als mit Hausarbeit überbrücken lässt, zumal die Geschäfte oft bis 16.00 Uhr aufhaben. Vorheriges langes Ausschlafen und ein kurzes, aber entspanntes Frühstück vor dem Fernseher verstehen sich von selbst. Brunchen gehen ist schlecht, weil durch die vorzeitig einsetzende Selbstzufriedenheit der Tag dann schon irgendwie gelaufen ist.
Nach dem Frühstück beginnt der entscheidende Teil in der Vorbereitung: Paare müssen trotz Morgenmuffligkeit rücksichtsvoll sein und dürfen sich nicht in die Haare kriegen. Sonst hat es sich schon am Anfang ausvergnügt. Und weil Männer erfahrungsgemäß eher Zweck- als Lustkäufer sind, bemühen sich in erster Linie deren Frauen um gute Stimmung. Einige wissen, dass sich der Einsatz am Ende bezahlt macht. Nicht weil der Mann am Ende bezahlt (Wo leben wir denn!), sondern weil er schlichtweg mal wieder dabei ist. Andere verzichten eben deshalb auf die Begleitung ihres schnell überfordert und zerstreut wirkenden Schattens, der von ihrer Typberatung so viel versteht wie von ihrem Innenleben. Also ziehen diese Frauen lieber alleine oder mit der Freundin los, nachdem sie sich bei Musik ausgiebig geduscht, vielleicht ihre Intimrasur erneuert, sich vor dem Spiegel geschminkt, gestylt, gedreht haben. Denn Frauen müssen sich vor der großen Shopping-Tour schön finden, sonst wird das nix. Sie müssen sich schließlich bei den unzähligen Spiegeln der Klamottenläden gern begegnen. Und wer sich gerade selbst nicht mag, verwöhnt sich lieber gar nicht und bleibt auf jeden Fall zu Hause.
Shopping ist eine Art Vorspiel für die Seele, der Kauf als Höhepunkt wünschenswert, muss aber - anders als bei den meisten Männern - nicht sein. Kommt sie anschließend wieder nach Hause und er fragt, was sie "eingekauft" habe, schüttelt er nur den Kopf, wenn sie "nichts" sagt, und dabei ergänzt: "Es war trotzdem schön ..." Das ist der Unterschied. Zwischen "Shopping" und "Einkaufen", zwischen Männern und Frauen. Ausnahmen bestätigen das. Doch welche Frau kommt schon ohne Plastiktütchen heim.
Die nettesten mir bekannten Läden Berlins gibt es am Hackischen Markt. Bei "Jimmy´s" (Oranienburger Str. 8) bekommt man nicht nur eine kompetente Beratung wie im "Hotel" nebenan, sondern auch schon mal ein Glas Prosecco vom Chef. Und das nicht bloß nach dem Kauf. Überhaupt ist von Kaufzwang nichts zu spüren. Man nimmt sich Zeit für die Kundschaft, ist entspannt und versteht sich nicht bloß als Verkäufer. Dagegen muss man in Konsumtempeln wie H&M, dem IKEA der Bekleidungsindustrie, häufig lange anstehen, will man in eine Umkleidekabine, oder findet in selbiger einen ganzen Fundus nicht weggehängter Klamotten vor. So erlebt in der Friedrichstraße. Das Personal war offenbar überfordert und machte den Laden bereits um 15.45 Uhr dicht. Dafür stand DUSSMANN bis 22.00 Uhr offen. Wer wie ich noch nicht genug hatte, fand sich vor den CD- und Bücherregalen ein. Nur ein kleines Mädchen war übermüdet und weinte auf dem Arm des Vaters, während sich eine lächelnde ältere Dame nach dem "Glücklichen Massenmord" oder so erkundigte.
Als auch bei DUSSMANN die Pforten schlossen und ich mich zu Hause längst bei Tagliatelle und Prosecco erholt hatte, raffte ich mich noch einmal fürs Kino auf. "Halbe Treppe" kam, einer der Low-Budget-Gewinner auf der letzten Berlinale. Gedreht im Stile von Doku-Soaps und Dogma-Filmen (wackelnde Handkamera!).
Es ging um die eingeschlafenen Beziehungen zweier Ehepaare aus Frankfurt an der Oder. Die Schauspieler waren brillant, die Dialoge teilweise improvisiert. Am Ende des Films gab es Applause und stille, glückliche Gesichter im Publikum. Weil es nichts auszusetzen hatte. Da war echte Tragik, komische Tragik und tragische Komik. Hier und da ein wenig Hoffnung und Erfüllung. So wie das Leben eben oft zwischen zwei Shopping-Touren.

Samstag, 12. Oktober 2002

038 | Letzter Tag

Gestern bin ich noch einmal durch den Kaiserstuhl gedüst. Alle Örtchen mehr oder weniger lauschig, herausragend keiner. Bemerkenswert vielleicht nur der jüdische Friedhof außerhalb Ihringens. Eine weiße Mauer um ein kleines Areal inmitten der Weinberge. Der Eingang verschlossen, die Grabsteine mit dem Rücken zum betrachtenden Auge. Abgewandt. Über eine jüdische Gemeinde stand nichts in meinen Reiseführern. Ganz klar. Mir fiel das alte Familienfoto meiner Wirte ein: darauf ein Mann mit Hitlerbärtchen.
Vor dem "Kräuterladen" von Burgheim zwei Reisebusse, innen ein unerträgliches Duftgemisch: Duftkerzen, Duftöle, duftende Trockenkräuter für die ausschwärmende Zielgruppe unzähliger Senioren. Zwischen Büchern, Kirschkernkissen und Zimmersprudlern wurde nach dem volkstümlichen Wissen der Großmütter genauso gesucht wie nach neueren Esoterikversprechen. Hauptsache es hilft, die jahrelang vernachlässigte Gesundheit zu sanieren. Das fette Essen, die Zigaretten, die Bewegungslosigkeit. Bloß drei Männer saßen stoisch draußen und sahen ihrem Schicksal illusionslos entgegen.
Um den Kopf wieder frei zu kriegen, machte ich in der Dämmerung einen Spaziergang zum Rhein. Vorbei an Gartenastern, Apfelbäumen, überreifen Maisfeldern und einer von Wildschweinen zerwühlten Auenlandschaft. Ein Herbstgedicht Georg Trakls kam mir in den Sinn. Im vergehenden Licht noch ein letzter Blick nach Frankreich, dann kehrte ich um. Es war Zeit, wieder nach Berlin zu fahren.
Letztendlich bleibt für mich das Ländliche Provinz, wo die Zeit für den Städter kurzzeitig inne hält, aber langfristig verrinnt, nur anders als in der Stadt, in der noch mehr wächst außer Flora und Fauna. Wo man besser lebt, ist nicht pauschal zu sagen. Das wechselt von Person zu Person und von Zeit zu Zeit.
Nach wenigen Stopps kam ich heute Abend wieder in Berlin an. Die Stadt war nur äußerlich kalt. Und der Schnee, der für morgen angesagt ist, wird mich nicht davon abhalten, schon Sonntagmittag um die Häuser zu ziehen. Vielleicht gehe ich wieder mal irgendwo brunchen, wo ich noch nicht war und wo ich in Ruhe die Tage bis zum nächsten Frühling nachzählen kann.

Donnerstag, 10. Oktober 2002

037 | Weil und Basel

Weil am Rhein ist eine Stadt und keine Konjunktion. Sie hat aber durch ihre Grenzlage zur Schweiz eine ähnlich verbindende Bedeutung. Wer wie ich nicht direkt bis Basel durchfährt, kommt mit Sicherheit wegen des Vitra-Design-Museums. Ich hatte Glück und konnte an einer anderthalbstündigen Führung teilnehmen. Hauptschwerpunkt: die Architektur der Gebäude auf dem Gelände der Büroausstattungsfirma. Das eine verspielt wie das Guggenheimmuseum in Bilbao, das andere streng-sachlich, errichtet nach japanischen Zen-Prinzipien. Viel Beton und Glas, und bis zur Ungemütlichkeit auf das Wesentliche beschränkt. Das Wesentlichste aber befand sich hinter eben diesen Mauern: Stühle. Industriell gefertigte Designerstühle des 20. Jahrhunderts. Für jedes Jahr gab es einen Stuhl. Numeriert und wie in einem riesigen Setzkasten-Regal ausgestellt. Bequemlichkeit neben revolutionärer Innovation, Kurioses neben Zeittypischem. Zeitloser, aber nicht weniger kurios waren die Besucher. Viele verklärte Blicke, die eine gewisse Lebensfremdheit verraten, darunter das eingefrorene Dauerlächeln pensionierter Gymnasiallehrer. Alles sehr nett, alles sehr schön. Nur eine ältere Dame musste kundtun, dass ihr von den schrägen Wänden "ganz schwindlig" wurde.Eine andere fand die Architektin des Ganzen sogar "erschreckend konsequent". Gott sei Dank verlor sich irgendwann alles in einer Ausstellung von Ingo Maurer. Lichtobjekte mit dunklem Sinn für Ironie, auf zwei Etagen verteilt. Nicht alles mein Fall, aber eine Wohltat nach den unzähligen Fachwerkhäusern und Münstern der letzten Tage. Hätte ich geahnt, wie anstrengend der Baseler Straßenverkehr ist, ich wäre noch ein wenig länger geblieben ...
Basel, die geschäftstüchtige Stadt, scheint ordentlich zu sparen. An Ampeln und Vorfahrtszeichen. Dafür gibt es jede Menge Zebrastreifen und Straßenbahnen. Auf der Suche nach einem freien Parkhaus rollte ich auf eine Kreuzung, sah nach rechts und überlegte, wer zuerst dürfe, als von links - wie hinterhältig - die Straßenbahn kam. Der Stress! Berlin ist Erholung dagegen. Das Parkhaus erschien als rettende Insel. Dachte ich. Falsch abgebogen, nur für Kurzparker. Macht schon mal einen Schweizer Franken, den ich noch nicht hatte (wie einfach ging das da in Frankreich). Also den Franken besorgt, bezahlt, wieder raus und wieder rein. - Mir kam das eingefrorene Besucherlächeln in den Sinn - Dann öffnete sich eine Art Tresortür. Aber ich wollte doch nur ... Geschafft. Irgendwie war ich irgendwo in der Tiefgarage eines Hotels gelandet. Egal. Bis zum Nachspiel 3 Stunden und 8,- Schweizer Franken später: Statt mich rauszugeleiten führte der einzige Weg in die nächste Tiefgarage. Ich konnte aber die Visa-Card einschieben und - die Schranke öffnete sich, die nächste auch. Das war die Hauptsache. Keine Ahnung, ob und wieviel Geld abgebucht wurde.
Und sonst? Ein weiteres Münster, ganz klar, doch mit erwähnenswertem romanischem Grundbau. Der Blick auf den erstaunlich breiten Rhein, viele Brunnen, Banken, Geschäfte. Und Maroni-Röster, wie andernorts Wurstverkäufer. Viele Mädchen, die (wie überall) im Viererpack zu McDonald´s oder H&M pilgern, wenn sie keine Maronen mehr sehen können. Und eben die Straßenbahnen, die offenbar so zahlreich eingesetzt werden, um die Schweizer von ihrem Phlegma zu befreien. Ich hingegen darf mich diesem nach ein paar Stunden in Basel getrost hingeben.

Mittwoch, 9. Oktober 2002

036 | Schwarzwaldtour

Heute Mittag, als sich der Nebel verzog, ging es richtig rein ins Postkartenidyll. Durchs Glottertal Richtung Furtwangen. Bewaldete Berge hüben und drüben, dann Serpentinen ohne Ende. Wer hier wohnt, dem scheint es gut zu gehen, nicht nur der Landschaft wegen. Die Sonne strahlte auf Herbstlaub und grüne Matten. Einmal drei Ziegen auf der Straße, verließen sie aber ohne zu meckern. Und vor einer der Kurven ein Schild: "Halt wegen Räumung nach Steinschlag bis zu einer halben Stunde". Unwillkürlich sah ich nach oben. Nichts. Geradeaus eine rote Ampel, davor ein Straßenarbeiter: orange Jacke mit Reflektorenstreifen und linkisch debilem Gesichtsausdruck. Er deutete mir an, den Motor auszumachen. Ich machte. Und genoss kurzzeitig die Stille. Zwei Minuten später eine Anweisung über sein Funkgerät. Der Mann begann ferngesteuert und doch manuell die Ampel auf gelb zu schalten. Eben per Knopfdruck. Dann suchte er offenbar den für grün. Fand ihn nicht. Ich grinste. Er, noch mit dem Rücken zu mir, schien das zu spüren und begann, mich unwirsch durchzuwinken.
Später im sogenannten "Hexenloch". Eine wasserbetriebene Sägemühle in einer touristisch erschlossenen Schlucht. Wer seinen Kaffee getrunken hat, kann sich an einem kleinen Fleischstand im Inneren Schwarzwälder Schinken, Blutwurst oder "Landjäger", kleine Dauerwürste, kaufen. Oder es sein lassen. Wer für Kitsch zu haben ist, sieht sich im Kellerraum zwischen jeder Menge Kuckucksuhren um. Handarbeit versteht sich. Na da. Ein Blick auf die Preise und ich wanderte mit Müllers Lust den Wildbach entlang. Dazu war ich hergekommen. Die Landschaft erblühte beinahe frühlingshaft unter dem schönen Wetter. Hier ein paar Blüten, da noch ein später Schmetterling. Weitere lustige Wanderer sah ich die nächsten 10 km kaum. Zum Glück. Dafür fand ich ein paar prächtige Birkenpilze.
Bevor ich mich am Spätnachmittag wieder auf den Heimweg machte, fuhr ich einen kleinen Umweg nach Triberg, wo Deutschlands größter Wasserfall (162 m) tost. Superlative sind eben wie Magnete. Im Sommer fällt das Wasser allerdings nur gegen Entgelt für Besucher. Den Tribergern selbst bescherte das Ganze aber bereits vor 120 Jahren die erste elektrische Straßenbeleuchtung Deutschlands. Wieder ein Superlativ? Na so ähnlich. Das Naturschauspiel an sich beeindruckt jedenfalls. Und ich honorierte es mit zwei Fotos, bevor ich zurückfuhr, um mir die Pilze zu braten.

Dienstag, 8. Oktober 2002

035 | Über Sessenheim nach Straßburg

Bevor ich mich in die Stadt begab, die mit dem Etikett "Sturm und Drang" behaftet ist und wo sich Goethe, Herder und Lenz kennen lernten, fuhr ich 40 km an ihr vorbei, nach Sessenheim. Aus romantischen Gründen. Hierhin wurde nämlich 1770 der junge Frankfurter Schnösel Goethe von einem Freund mitgenommen, hier lernte er die Pfarrerfamilie Brion kennen und die Tochter Friederike lieben. Goethe galt 1 Jahr als ihr Verlobter, war mit seinen 21 Jahren deutschlandweit ein Niemand und wurde von den Sessenheimern doch in guter Erinnerung behalten, als er sich irgendwann wieder nach Frankfurt fortstahl. Friederike, ein schönes Kind mit dicken blonden Zöpfen, inspirierte ihn zum "Mailied", zum "Heidenröslein" und zu "Willkommen und Abschied", meinem Lieblingsgedicht aus dieser Zeit.
Als der heute kaum noch bekannte Lenz Friederike über Goethes Weggang trösten wollte, hatte auch er nur das Nachsehen. Denn wo ein Goethe war, konnte kein anderer landen. Friederike blieb, bis sie mit 61 Jahren starb, ledig.
Von dem Pfarrhof, den Goethe wie in Eile zeichnete (da das Wetter und Friederike zum Spaziergang lockten), gibt es noch die alte Scheune. Weil der Poet sich einmal bei der Maisernte nützlich machte. "Goethescheune" heißt sie demnach heute. Ein deutsch sprechender Mann, welcher das dazugehörige Haus verließ (vielleicht der heutige Pfarrer), sah mich schulterzuckend an, als ich mich nach der Scheune erkundigte. Es sei nur eine Scheune, sagte er, da gäbe es nichts weiter zu sehen. Ich wusste, dass er Recht hat. Und dennoch.
In dem verträumten Ort, wo Haus und Hof märchenhaft lieblich anmuten und die Einwohner selbst Fremde mit "Bonjour" begrüßen (es könnte ja wieder ein Dichter unter ihnen sein), gibt es auch eine Goethestraße und eine Friederikestraße, ein Goethemuseum (das leider zu hatte) und ein "Goethe-Memorial". Das ist ein zweiräumiges Fachwerkhäuschen vis-à-vis der Goethescheune. Der eine Raum belehrt über die frühe Goethe-Zeit mit gerahmten Texten und Bildern, der andere dient zur Andacht. Die riesige Büste des pensionierten Geheimrats hinter einer Absperrung befremdet. Steif und unnahbar blickt er an einem vorbei, wirkt so, wie man ihn seit der Schulzeit zu kennen glaubt.
Einige Jahre nach seinem Sessenheimer Abschied kam Goethe übrigens noch einmal vorbei. Wohl des schlechten Gewissens wegen. Aber niemand, selbst Friederike nicht, war ihm böse oder fühlte sich hintergangen. So war das in Sessenheim.
Dann nach Straßburg. Zum Münster. Der erste Eindruck: überwältigend! Ich ging einmal herum, dann hinein. Die Illumination durch die Rose, der etwas byzantinisch anmutende Chorraum, die Silbermann-Orgel, welche wie ein Präludium zu schweben scheint, die riesige astronomische Uhr ... Der erste Eindruck bleibt.
Als ich ich die 330 Stufen zur Aussichtsplattform besteigen wollte, kam ich allerdings 15 Minuten zu spät. Schade. Goethe ging bei seiner Straßburger Ankunft sofort hoch. Wollte nach einer Krankheit Höhenangst und Lärmempfindlichkeit überwinden, setzte sich fast unter die Glocke und war - für den Augenblick sicher taub - von der Übersensibilität am Ende jedoch geheilt. Vielleicht auch deshalb der unsensible Abschied von Friederike, man weiß es nicht.
Straßburg selbst wirkt im Vergleich zu Colmar weltstädtischer, jünger, betriebsamer. Die Fachwerkhäuser rund um das Münster sind zwar bezaubernd altehrwürdig wie das Maison Kammerzell, bezaubernder aber sind die jungen Verkäuferinnen, die in ihnen arbeiten. In Bezug auf Charme und Lebensart ist die Stadt reinweg französisch. Zumindest wirkte sie auf mich flüchtigen Besucher so.

Montag, 7. Oktober 2002

034 | Weingut Weber und die Elsass-Tour

Gestern nur Regen. Das heißt lange schlafen und dann schön heizen. Natürlich gibt es hier in der Ferienwohnung Heizungen, aber eben auch den Ofen. Der Romantik und besseren Wärme wegen.
Am Nachmittag reichte das aber nicht mehr, ich musste raus. Von meinen Wirtsleuten ließ ich mich in Sachen Weingüter beraten. Sie beziehen ihren Weißen immer beim Winzer Werner Weber (sic!) aus Ettenheim. Zwar kein Kaiserstuhl-Wein mehr, sondern - als "Randerscheinung" - vom Kaiserberg, aber dafür nicht schlechter. Rotwein wird in Baden übrigens kaum angebaut.
Die Webersche Straußenwirtschaft hatte den letzten Tag im Jahr auf. In einer ausgebauten Scheune mit allerhand Weinbauernstaffage war es gästemäßig voller, als ich dachte. Der Hausherr, eine imposante Erscheinung, bediente persönlich. Souverän und freundlich. Sah aus wie Iwan Rebrow mit blauem Kittelhemd und Lederhut.
Für 7,50 € schlürfte ich mich durch 6 Weinproben: Müller-Thurgau, Riesling Kabinett, Grauburgunder, Weißburgunder, Spätburgunder, Rosé. Oje! Dazu Brot zum Neutralisieren und: Zwiebelküchle für den Geschmack. Der Zwiebelkuchen unterscheidet sich eigentlich in nichts vom Flammkuchen. Das ist bei der elsässischen Nachbarschaft aber auch - wortwörtlich - naheliegend.
Mein Wein-Favorit war der Webersche Riesling. Schön süffig, frisch und mit Restsäure. Passt gut zu Meeresfrüchten, und die mag ich sehr gern. Also gleich einen Karton mit 6 Flaschen für den grauen Berliner Winter ins Auto.
Heute war besseres Wetter. Scheint sich hier immer im Zweitages-Rhythmus abzuwechseln. Es ging ins Elsässische. Mit der Fähre bei Rhinau übergesetzt und die Landstraße südwestwärts weiter. Eigentlich hatte ich mit Kohlfeldern gerechnet, weil doch das Elsass für sein Sauerkraut mindestens genauso bekannt ist wie für seine wechselvolle Geschichte. Aber statt dessen sah es wie im Badischen aus: Neben Wein wurde fast nur Mais angebaut.
Bei Séléstat sah ich mir die Haut Koenigsbourg an, die Kaiser Wilhelm nach der Jahrhundertwende mit neoromantischen Intentionen wieder aufbauen ließ. Auf Kosten der noch erhaltenen Teile und des damaligen Reichslandes Elsass-Lothringen. Und so wirkt alles etwas seelenlos-kulissenhaft. Deutsche Wertarbeit am Fuße der Vogesen eben. Wenigstens der Ausblick von den 720 Höhenmetern beeindruckte mich. Und wäre da nicht dieser Dunst gewesen, ich hätte bis in den fernen Schwarzwald blicken können.
Weiter ging es nach Ribeauvillé. Ein lieblicher kleiner Weinort, mit lieblichen kleinen Fachwerkhäusern. Die Touristen sind noch zu verschmerzen wie die Preise. Für 11,- € bestellte ich mir zu einem Regionalbier "La Choucroute", einen mit Würstchen, Kasseler und Speck garnierten Sauerkrautberg, unter dem sich zwei Kartoffeln versteckten. Klingt nach unzeitgemäßer deutscher Küche, und eigentlich ist mir alles Mediterrane lieber. Aber ich muss gestehen: diese landestypische Spezialität war schlichtweg köstlich. Das Kraut ohne Kümmel und Süße, die Würstchen schmeckten nach Rauch, und das Fett konnte ich ja vom Fleisch abschneiden.
Ich saß vor dem Restaurant in der letzten Sonne des Jahres und überblickte den ruhigen Besucherstrom, der entspannt wie der Rhein durch die Grand'Rue floss.
Ein Nachbarort - Riquewihr - war das ganze Gegenteil: deutsches Disneyland für Rentner. Weihnachtsmarktartige Buden, Patisserien, Musik, Gedränge, zwei Museumsbesuche zum Preis von einem ... Fast glaubte ich, vor den offenen Weinkellern "Happy Hour"- Tafeln zu entdecken. Aber nein, selbst fürs Parken und Pinkeln wird man in dem 1000-Seelen-Ort zur Kasse genötigt. Also nichts wie weiter.
In Colmar, wo ich abends anlangte, muss man zwar auch Parktickets ziehen, aber nicht zu überteuerten Preisen. Selbstverständlich hat Colmar auch ein Münster, aber da ich davon erst einmal genug habe und mich auf das Straßburger freue, ersparte ich mir den Besuch. Außerhalb des historisch-lauschigen Zentrums wirkt die Hauptstadt des Oberelsass gewöhnlich. Im Champ de Mars, dem Stadtpark, lungerten zwielichtige Gestalten rum, dahinter das Allerweltsbahnhofsviertel.
Für den Isenheimer Altar von Grünewald, den ich mir unbedingt ansehen wollte, war es zu spät. Den gibt es tagsüber im Musée d'Unterlinden als Glanzlicht deutscher Frührenaissance zu sehen. Für mich blieben nur diverse Außenaufnahmen von gleichaltrigen Gebäuden. Einige noch mit den typischen glasierten Dachziegeln im grün-gelben Rautenmuster.
Bevor es völlig dunkel wurde, fuhr ich über die Rheinbrücke von Breisach zurück ins unbequeme Vaterland und staunte einmal mehr, wie leicht das geht, so ganz ohne Zollkontrollen.

Samstag, 5. Oktober 2002

033 | Kurzer Urlaub in Baden // Freiburg und Breisach

Nicht einmal 10 Stunden mit dem Auto und ich befand mich am Tag der deutschen Einheit im Dreiländereck. Wenn schon, denn schon. Im Breisgau bezog ich Quartier. Warum? Weil ich den Schwarzwald genauso einmal erkunden wollte wie das Elsass. Weil ich nach Straßburg wollte und nach Basel. Weil der deutsche Indian Summer im Breisgau am schönsten sein soll, zumal in der Weinlesezeit.
Mein erster Tag gehörte Freiburg. Irgendwo stand was von "Vorhof zum Paradies" und wer dort nicht alles wohnen möchte. Das hätte mich warnen sollen: Menschen über Menschen, selbst für hartgesottene Berliner ein Kulturschock. Von wegen "österreichische Kaffeehauskultur" (Freiburg war Habsburger Exklave), keinen freien Platz gab es. Und in den Puppenstubengässle nur Regen und Bächle. Da konnte mich auch der Hochaltar von Hans Baldung Grien im Münster nicht gerade erbauen. Das gelang vorübergehend nur einer Bauernbratwurst und der "Striebele", einer hiesigen Backspezialität aus Omelettteig. Das Historische Kaufhaus aus dem frühen 16. Jahrhundert war bei dem Wetter keine Sehenswürdigkeit, sondern allenfalls ein Unterstand für mich und meine Bratwurst. Schwerer Dunst hüllte den Turm des Münsters und die Berge dahinter ein. Das also zu Freiburg.
Erst als ich abends in den knackenden Kaminofen starrte und mich einer halben Flasche Spätburgunder aus dem Kaiserstuhl widmete, hatte ich so was wie einen Lichtblick ...
Und der heutige Tag entschädigte vollends: Ich fuhr dahin, wo der Spätburgunder herkam, in den Kaiserstuhl, einem kleinen Gebirge. Vom Umfang mit dem Harz vergleichbar, nur weniger schroff. Statt dessen Weinberge und Straußenwirtschaften, wohin das Auge schweift. Man kann Äpfel, Walnüsse, Elsässer Sauerkraut und in Milchflaschen gefüllten Pflaumensaft bei Kleinerzeugern kaufen. Überall zieren dort Kürbisse die Zufahrten. Und überall bremsten mich Erntefahrzeuge aus. Beladen mit kleinen blauen Trauben in großen Metallbottichen. Da ich kein Ziel hatte, schlich ich ihnen nach.
In einem Dorf war Weinfest. Ich machte mir die Freude und setzte mich in den Saal einer Winzergenossenschaft. Der Ruländer vom "Fass Nr. 7" war vorzüglich. Dazu ein Stück Zwiebelkuchen und Freiburg war vergessen. Selbstverständlich saßen fast ausschließlich Senioren um mich rum, aber das machte nichts. Auf der Bühne spielten 3 Musiker ein gemütliches Feiertagspotpourri, zu dem wie auf Kommando ansatzweise mitgesungen und -geschunkelt wurde: "Trink, trink, Brüderlein trink ..." Na ja, ich musste noch fahren.
In Breisach stieg ich zum Münster hoch, genoss den sonnigen Panoramablick über den Rhein nach Frankreich und fragte mich darauf im Inneren der Kirche, warum die Wandmalereien nicht endlich restauriert werden, schließlich blätterten sie nur noch sandsteinbraun herbstlich vor sich hin. Der Reiseführer aber belehrte mich eines Besseren: sie stammen von einem Herrn Schongauer, sind über 400 Jahre alt, von unschätzbarem kunsthistorischen Wert und natürlich bereits restauriert. Oh, so kann man sich irren. Der Stolz dieses Münsters ist aber ein aus Lindenholz geschnitzter Hochaltar, gerade mal 40 Jahre jünger als die Wandbilder und bei all dem gotischen Zierrat wohltuend ohne Farbanstrich.
Nach diesen neuen Erkenntnissen für das Kurzzeitgedächtnis stieg ich von der überdauernden Gottesburg wieder hinab in die weltlichen Niederungen. In einem Café hinter der großen Rhein-Wehranlage saß ich sonnenbebrillt auf der Terrasse und sah noch einmal nach Frankreich rüber. Wie Goethe einst vom Gotthard nach Italien. Nur ohne Feierlichkeit im Herzen. Woher auch, wenn das Baby der hinter mir sitzenden Sachsen unaufhörlich auf den Tisch klopfte, wie mittlerweile die Leute im Festsaal der Winzergenossenschaft. Und wie sollten sich erhabene Gefühle einstellen, wenn neben der Terrasse jemand begann, den doch noch kurzen Rasen zu mähen? Aber egal. Es war letztlich ein schöner Tag. Wirklich.

Montag, 30. September 2002

032 | Berlin-Marathon-Gedanken

Eines vorweg: Auch bei meinem 4. Marathon habe ich die 4-Stunden-Hürde wieder nicht nehmen können, aber es lief gut. Und in Anbetracht eines erneuten Todesfalles auf der Strecke ist das wohl die Hauptsache. Bei meinem ersten 42-km-Lauf musste ich mir etwas beweisen; inzwischen zählt für mich nur noch jährliche Kontinuität und das Hochgefühl, wenn die Beine wie von selbst laufen und der Geist sich am Spektakel berauscht. Der Körper nimmt den Rhythmus der Sambagruppen als isotonischen Caipirinha auf, und der anschließende Muskelkater ist keine schmerzhafte Ernüchterung, sondern ein fühlbares Selbstbewusstsein, weil der tief sitzende Überdruss entschlackt wurde.
Ich kannte mal ein Mädchen, das sich mit einer Rasierklinge den Namen ihres vergeblich Geliebten in die Haut ritzte und ihn derartig mehrfach "unterstrich". Ihr Hang, durch äußere Schmerzen innere zu betäuben, war da, aber noch nicht pathologisch ausgeprägt. Noch kokettierte sie mit ihren Narben und mit bekannten Todessymbolen.
"Du suchst den Schmerz?!", fragte ich sie. "Dann geh laufen. Und wenn du glaubst, es geht nicht mehr, lauf weiter. Du wirst den wahren Schmerz entdecken, so wie du dich selbst entdecken wirst." Sie sah mich skeptisch an, weil sie hinter dieser doch pathetischen Altklugheit die Ironie suchte. Aber hier gab es keine. Und sie verstand mich nicht. Wahrscheinlich, weil sie nie gelaufen ist, weder vorher noch hinterher.
Zurück zum Marathon. Augenzwinkernd behaupte ich immer, dass der Stress der Marathonmesse und die Fahrt zum Start mit der BVG den schwierigsten Teil darstellen. Zur Messe am Funkturm wird man nicht nur genötigt, weil man seine Starternummer und den Zeitmess-Chip abholen muss, man wird auch noch nach einer endlosen Parkplatzsuche durch übervolle Hallen geschickt, ehe man - vorerst - am Ziel ist. Und die Fahrt mit der U-Bahn am Sonntagmorgen ist eine Art Rechenaufgabe: Wenn an jeder Station 10 Läufer und 5 Angehörige einen Wagen betreten, wie lange brauchen da die Scheiben, um vollends beschlagen zu sein?! Dieses Jahr wurde es sogar noch spannender, weil die entlastende S-Bahn gerade am Marathon-Wochenende wegen Bauarbeiten ausfiel. Eine Goldmedaille für den Bausenator! Welche Eindrücke blieben mir von der Strecke erhalten? - Das sich steigernde Klatschen vor dem Start - die nicht mehr gebrauchten Pullover, die aus der Masse an den Rand geworfen wurden - der Applaus auch nach Jahren, als es durchs fast fertig gestellte Brandenburger Tor über den neuangelegten Pariser Platz ging, also lief - der Mann, der vor mir seine Bananenschale einfach fallen ließ - die junge Frau, die am Straßenrand lag und deren Beine noch bei Ankunft des Krankenwagens hochgehalten wurden - "Die vier Jahreszeiten" Vivaldis, aus einer Kreuzberger Dachwohnung wie aus heiterem Himmel runtergeigend (und tatsächlich kam dann die Sonne durch) - der gelangweilte Junge, der mit Kastanien warf und nur knapp jemanden verfehlte - die anfeuernde Großmutter mit dem regenbogenfarbenen Staubwedel in der Hand, die Flagge zeigenden Dänen, die Cheerleader am "Wilden Eber", das begeisternde und begeisterte Publikum der 41.000 Läufer ...
Wo bleibt die Ironie, die Pointe? Hier gibt es keine, nur den Weg. Und das Ziel.

Sonntag, 22. September 2002

031 | Party

Wenn am Sonntagmorgen – also mittags - die Augen kleiner als sonst sind, die Stimme tiefer und der Kater ausgeblieben ist, dann war die Party der letzten Nacht unter Umständen gut. In meinem Fall auf jeden Fall. Mit Party meine ich kein Familientreffen, bei dem man die Schuhe neben der Eingangstür auszieht, sondern richtiges Clubtreiben in einer freigeräumten WG.
In einem Zimmer wurde aufgelegt, im anderen ("Love Lounge") gechillt, die Küche hatte man zurecht als "Hells Kitchen" ausgeschildert und das Klo wurde von Drink zu Drink immer dichter umlagert. Zumal die Badewanne bis zum Rand mit Bier und Wein und Eis gefüllt war.
Im dritten und letzten Zimmer (Dreier-WG) gab es sogar eine kleine Cocktailbar. Nachdem die Pitu-Flaschen leer waren, wurde experimentiert. Und am Ende kam es auf den guten Geschmack sowieso nicht mehr an.
In diesem Sinne ein wenig belustigt stellte ich fest, dass fast jede Frau, selbst die Trendsetterin mit den Ringerstiefeln, ein Handtäschchen mit sich führte. Ich kann mir nicht helfen, aber es wirkt immer ein wenig madamig.
Einige Jungs trugen zu den 0,33er-Flaschen verwegene Drei-Tage-Bärte, T-Shirts, Stoffturnschuhe und – wo noch Haare - David-Backham-Frisuren.
Viele der über 60 Leute kamen aus der Multimedia-Branche. Eine komplette Hockeymannschaft war auch da und etliche Leute aus Hamburg.
An Abenden wie diesen ist alles möglich. Die Beauty vom Anfang, die ich bald dicht umschwärmt wähnte, blieb unangesprochen und ging vorzeitig traurig nach Hause. Das Mauerblümchen war dagegen in einem endlosen Gespräch mit dem Prinzen vertieft.
Bestimmt das Schicksal, wer wann wie ankommt? Häufig hinterlässt man mehr Eindruck, wenn man auf zwei Fingern pfeifen kann oder sein Bier mit dem Feuerzeug öffnet, statt den Gebrauch des 20-GB-iPods zu erklären. Schon sonderbar.
Als die ersten Drinks verschüttet wurden, war die Stimmung am größten. Der DJ krümmte sich vor seinen Turn-Tables, Art-Directors wurden zu "Murder on the Dancefloor" und tanzten sich frei, dass die Dielen bebten. Weil sich immer noch kein Nachbar beschwerte, hüpfte die halbe Hockeymannschaft in der Küche einen Sirtaki. Und gegen zwei ging selbst das Mauerblümchen irgendwo auf dem Hof pinkeln ...
Ich machte mich auf den Heimweg, erstaunt, dass die Party in den Straßen Berlins weiterzugehen schien und die Straßenbahn sogar noch im Halbstundentakt fuhr.
Die junge PDS-Kandidatin für Pankow verteilte noch am U-Bahnhof Eberswalder Straße wenige Stunden vor dem Öffnen der Wahllokale Infomaterial. Mal sehen, welches Schicksal ihr beschieden sein wird.

Samstag, 21. September 2002

030 | Starbucks und 14 Apostel

Den gestrigen Wochenendauftakt begann ich halbwegs dekadent. Mit einer Tasse Kaffee. Im "Starbucks", Rosenthaler Straße, für 3,90 €. Gut, es war kein gewöhnlicher Kaffee, sondern ein "Caramel Macchiato" aus "Arabica-Bohnen", und je mehr ich mich in einen der ausliegenden "Kaffeegenuss"-Flyer einlas, um so bewusster wurde mir, schmeckte mir, was ich da trank: Espresso ("Seele des Kaffees") + heiße Milch + aufgeschäumte Milch + Karamelsirup. Ein Meisterwerk sozusagen, eine "Leidenschaft", "eine wahre Sinnesfreude"! Gereicht von keinem Geringeren als dem "Barista", dem "Kaffeespezialisten", dem "jede Tasse (...) am Herzen liegt" ... Am besten gefiel mir der Satz aus der "Starbucks-Garantie": "Wir kaufen die besten Kaffeebohnen der Welt ein und" – jetzt kommts – "rösten dann jede einzelne bis zur Perfektion ..." Wow! Und ich Ignorant hatte meine Tasse bereits wie nebenbei ausgeschlürft, im Obergeschoss, wo gemütliche Sessel englische Club-Atmosphäre verbreiten und mit der Swingmusik und dem Kaffeeduft ein Hauch Kolonialzeit mitschwebt. Dass ich mir für 3,90 € locker ein Päckchen Kaffee bei Kaiser´s kaufen könnte, ließ ich mir nicht anmerken. Nein, ich war entspannt und bemüht, genauso blasiert dreinzuschauen wie die anderen Gäste.
Diesen Blick haben übrigens auch immer mehr auf den Straßen rund um den Hackeschen Markt drauf. So unterscheiden sie sich besser von den Berlin-Touristen, die vor dem "Dante" ihre Regenschirme öffnen, wenn es plötzlich aus dem mit Schläuchen präparierten Baum regnet.
Weniger elitär geht es in einem der italienischen "Zwölf Apostel"-Restaurants zu, von denen Berlin einige hat, das gemütlichste vielleicht in der Georgenstraße 179 (im Internet fälschlicherweise als Nr. 2 aufgeführt).
Ich hatte für abends, was sicherer ist, vorbestellt und saß nahe der Museumsinsel unter einem der vielen nutzbar gemachten S-Bahn-Bögen. Das Ambiente lässt sich am besten mit "aristokratischer Volkstümlichkeit" beschreiben. Schon die freskenartige Wandbemalung verbindet bäuerliche und mythologische Motive im Stile der italienischen Renaissance und Lebensfreude. Und deutsche Renaissance am Tonnengewölbe über mir: bürgerliche Wappen aus dem 16. Jahrhundert. Deren Bedeutung ging mir jedoch nicht auf. Aber deswegen war ich auch nicht da. Ich bestellte mit Parmesan panierte Kalbsschnitzel auf Spaghetti und vorweg – dummerweise – Antipasti; denn die Portionen dort sind so groß, dass man weinen möchte, wenn so viel von dem nicht zu schaffenden Guten abgeräumt werden muss. Unzählige Kellner kümmern sich um die unzähligen Gäste. Wenn das Stimmengewirr angeregter Tischrunden stört wie das S-Bahn-Rumpeln über einem, sollte nicht herkommen, wer etwas Berlintypisches möchte, schon. Italienisch als berlintypisch? Eben!
Und heute früh: Berliner Typen an der Tankstelle. Ein Radfahrer mit braun getönter Brille, mit – Achtung! – Blindenabzeichen an der Jacke stellte sich vor meinen Wagen und begann mit dem bereitstehenden Scheibenreiniger sein Rad zu säubern. Ich war perplex. Sehr penibel nahm er sich jede Speiche vor, und ich fragte mich, wie er sah, was er nicht mehr sehen wollte, wie er überhaupt Rad fahren konnte. Seltsam. Dass er mir schließlich im Weg stand, bekam er freilich nicht mit.
Dann die zwei skurrilen Altachtundsechziger, die als joviale Sandwichpicker, als doppelseitige Reklametafeln für die Grünen warben. Die Kleidung im Öko-Stil, die Haare grau, der Blick - in bester Don-Quichotte-Manier – voller Idealismus. Und ebenso plakativ wie das Bild vom schmerzhaft lächelnden Herrn Ströbele, dem einer der reanimierten Aktivisten ständig mit dem Finger an die hohe Stirn tippte.
Eigentlich hätten die beiden Apostel einen Tag vor der Wahl für die Union werben müssen. Um letzten Unentschlossenen die Entscheidung dagegen zu erleichtern. Amen.

Sonntag, 8. September 2002

029 | Karl-Marx-Allee

Spätestens seit der Sanierung der Wohnpaläste wurde die Karl-Marx-Allee, die "Paradestraße" zwischen Frankfurter Tor und Alex, als Kulisse für Reklame- und Musikclips ausgemacht. Die gern von Architekten als Atelier genutzten Glaskuben entdeckte eine junge Werbeagentur als "Location" und drehte einen berlinkompatiblen Spot für Coca Cola. Und am Straußberger Platz entstand ein Popvideo zur "Alles Neu"-CD von Mia, eben passend zur Straße, die 1953 noch Stalinallee hieß und den 17. Juni zum Gedenktag machte.
Im Windschatten der Kneipenkultur rings um die Simon-Dach-Straße haben auch in der Karl-Marx-Allee neue Restaurants und Cocktailbars aufgemacht oder fristen unter Linden ihr Dasein. Erstaunlich ist, wie sich das Publikum nach nur wenigen Straßenzügen unterscheidet. Sind in der Simon-Dach-Straße junge Kreative auf der Suche nach dem Berlin-Mythos, rekrutieren sich die Gäste in der Karl-Marx-Allee eher aus potentiellen Mallorca-Urlaubern und vom Bier zum Longdrink konvertierten Leuten, deren Weltbild sich im Kurzhaarschnitt und discotauglichen Klamotten erschöpft. Eine Ausnahme allerdings: das nach dem kaum mehr erinnerten Dichter benannte "Ehrenburg". Das Lokal ist angenehm in oranges Licht getaucht. Das Konterfei des Poeten an der Wand, eine junge Frau am Laptop davor, draußen, bei Kerzenschein, ein Schach spielendes Paar. Ich setzte mich gestern an den Nebentisch, um nach einem entspannten Tag noch einen Absacker zu bestellen. Aber der Kellner kam nicht, und somit ging ich wieder. Ein Abstecher in die Koppenstraße, wo noch vor anderthalb Jahren das "Buena Vista" kubanisches Flair verbreitete. Der Inhaber war Neffe von, ich glaube Ibrahim Ferrera, dem großartigen Sänger der Buena-Vista-Formation. War – im Sinne von: die Bar gibt’s nicht mehr, dafür, als traurigen Ersatz, eine Döner-Bude.
Zurück zur Karl-Marx-Allee: Das "Abgedreht" am Frankfurter Tor, hatte mir jemand erzählt, solle "ganz lustig" sein. Zumindest hat der Kellner lustige Tattoos auf den Armen und schien auch zur Mitternacht gut drauf zu sein. Doch draußen sitzen ging aus "lärmtechnischen" Gründen nicht. Aber eben das wollte ich, wettertechnisch bedingt. Direkt daneben, im U5 hat man kein Problem mit schlaflosen Anwohnern. Der Kellner hier war ebenfalls guter Dinge, was jedoch an seinen Getränken gelegen haben muss, die er immer mal wieder probiert haben wird, bevor er sie seinen Gästen empfehlen konnte.
Nach meiner Bestellung hatte ich Zeit, in der Karte nachzulesen, dass "Cocktail" so viel wie "Hahnenschwanz" heißt und auf den Umtrunk nach Hahnenkämpfen zurückgeht. Doch ich glaube, den Begriff haben eher geschäftstüchtige Barkeeper geprägt, welche ihre Gäste wie Federvieh zu rupfen verstehen.
In diesem Sinne kam der Kellner mit seinem Rundtablett und ein wenig gravitätisch daher. Der Fuß des Glases blieb am Tablettrand wie der eines Hochspringers an der Latte hängen und schwungvoll servierte sich der Inhalt selbst. Der Kellner ärgerte sich so leidenschaftlich wie der Hochspringer über die verrissene Latte und kümmerte sich kaum um den Gast, der sich stumm die süßen Tropfen von der Hose tupfte. Gut, der Pechvogel von Kellner nahm das halbleere Glas wieder mit und brachte ein neues, das aber so wortlos wie später die Rechnung. Selbst die kleine "Knabberschale" ging nicht auf das Haus für das, was auf die Hose gegangen war. Er sagte am Ende nur: "Bis zum nächsten Mal!", der Ahnungslose!

Sonntag, 1. September 2002

028 | Lange Nacht der Museen

Für die Nicht-Berliner: Die lange Nacht der Museen ist so etwas wie ein Wochenend-Buffet mit Seelenköstlichkeiten, wobei das Auge nicht nur mitisst, sondern regelrecht frisst. Mit 12,-_ war ich wieder dabei. Die Türen sämtlicher Museen und öffentlicher Verkehrsmittel standen mir theoretisch bis in die Morgenstunden offen. Aber wie das so ist bei Buffets – irgendwann kann man nicht mehr.
Doch vorerst fand ich jede Menge Genuss in der Alten Nationalgalerie. Das erste Mal nach der Wiedereröffnung vor einem halben Jahr. Es war umwerfend! Große helle Aufgänge mit rotem Teppich, ein Wandfries von Arminius, der die Römer besiegte, über Goethe, Schiller bis hin zu den nachgeborenen Klassizisten, die sich freiwillig den Römern ergaben, glänzender Marmor, Säulen, Skulpturen, Bilder. Und Besucher, die manchmal Alarm auslösten, weil sie der Kunst zu nahe kamen. Das Aufsichtspersonal hatte Adrenalinschübe ohne Ende, bis es von den besänftigenden Klängen eines Lautenspielers halbwegs beruhigt wurde.
Den heimlichen Spaß, "Leute zu gucken" machte ich mir diesmal nicht. Was unbedingt für die Qualität der Ausstellungsgegenstände spricht. Hier begeisterte mich die meisterliche Pinselführung bei Stadtansichten, da die Farben von Idyllen. Dann der Zauber der Lichtverhältnisse und nicht zuletzt eine unerwartete Motivwahl wie die des fleischige Fußes eines Malers in Öl.
Alles wird in den 3 Etagen epochenweise präsentiert: Historisierendes, Romantik, Realismus, Impressionismus, Jugendstil ... Der Expressionismus fehlt oder ist mir entgangen.
Von den großen Malern wie C. D. Friedrich, Böcklin, Leibl, Liebermann & Co gab es etliche ihrer bekanntesten Werke. Friedrichs "Mönch am Meer" lud mit seinem frechen Mut zum leeren Raum zur Selbstreflexion ein, zu der ich jedoch keine Lust verspürte. Manets "Im Wintergarten" erzählte mir dagegen - diskret wie die Musik des Lautenspielers - eine intime Geschichte. Und wer kann da schon weghören.
Nach 3-4 Stunden ging ich rüber ins Pergamonmuseum. Doch es machte auf mich genauso wenig Eindruck wie zu Kindertagen. Da waren nur kalte, wenn auch bedeutsame Steine, aus denen ich kein Feuer zu schlagen wusste.
Gegen ein Uhr war dann auch die Kraft, noch ins Nikoleiviertel zum Zille-Museum und ins Ephraim-Palaise zu wandern, aufgebraucht. Sie reichte bloß noch zum Sitzen und Sekt trinken. Und das war ja auch die versteckte Botschaft, die mir in der alten Nationalgalerie von den meisten Malern zugeflüstert wurde: das Leben immer trinken, wo sich die Gelegenheit bietet, in vollen Zügen und bis zur Neige. Carpe diem und gute Nacht.

Samstag, 31. August 2002

027 | ***

Der letzte Augusttag ist für mich immer wie der letzte Sommertag. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass in meinen Kindertagen am 1. September die Schule begann. Mit Fahnenappell zum Weltfriedenstag und damit man gleich wieder wusste, wo Hammer und Sichel hängen.
Aber vielleicht spukt der Herbstanfang schon in meinen Gedanken rum, weil ich heute Morgen beim Wochenendeinkauf Lebkuchen und Spekulatius in den Supermarktregalen entdeckte. Habe ich mir auch vorgenommen, dergleichen zu ignorieren wie Daily Soaps & Teenie-Talk am Nachmittag, so beschäftigt es mich doch jedes Jahr aufs Neue. Ebenso die Frage, wie lange die Blätter den Bäumen noch grün sind. Dabei besteht gar kein Grund zur Sorge, denn wenigstens der Hochsommer hat derzeit Konjunktur. Und dafür duscht man auch gerne zweimal am Tag. Oder wartet am See auf Freunde, im Biergarten auf die Bedienung, auf unbürokratische Hochwasserhilfe, auf den Kreuzzug Amerikas, die erneute Entlassung oder den nächstbesten Job. Dafür soll sich der Herbst ja besser ausnehmen. Wenn man an Politiker, Prognosen oder die Sterne glaubt. Und wer nachts eine Schnuppe entdeckt, darf sich was wünschen ...
Meine bescheidenen Sommerwünsche haben sich zumindest erfüllt. Sehe ich auf Wochen zurück, ist da keine Trauer, irgend etwas verpasst zu haben. Ich war in Berlin! Hatte Spaß am Neuentdecken, Abenteuer auf den Radwegen und das Grün direkt vor der Haustür. Wenn ich auch noch immer keine Bouillabaisse in Marseille gegessen habe oder ewig keine Paella mehr in Barcelona, so wusste Berlin noch stets meinen Hunger zu stillen. Selbst in diesen mageren Zeiten.

Samstag, 24. August 2002

026 | "Kühe würden Künast wählen"

Am Freitagnachmittag fällt die Woche von einem ab. Alle Gesichter wie ausgewechselt. Das gestrige Licht als Erfüllung jeglicher Sehnsucht, und das als Kurstadt empfundene Berlin liegt sichtbar am globalen Meer. Also zuerst einen Strandspaziergang durch den Mauerpark vom Prenzlauer Berg. Vier Trommler geben schon von weitem den Rhythmus fürs Wochenende vor. Basketballer bewegen sich in Videoclip-Ästhetik. Dann Jongleure, Skater-Akrobaten und Beck´s trinkende Zuschauer. Ich fühle mich gut. Wärme, Sonnenbrille und Schluffi-Klamotten, was braucht´s mehr?! Dass der Sommer seinen Höhepunkt überschritten hat, ist bloß ein Gerücht.
Später im Prater-Biergarten. Noch ist es halbwegs leer. Gemessen daran laufen viele Kleinkinder rum, zwei sogar nackt. Auf das Hefeweizen vom Fass freute ich mich seit Tagen. Dazu gegrillter Leberkäse im Brötchen und eine Laugenbrezel. Ich wundere mich, warum es in der Hauptstadt keine Buletten gibt.
Dann rüber zur Kulturbrauerei. Renate Künast wird zu 19.00 auf Plakaten angekündigt. Aber deswegen bin ich nicht hier. Es ist 21.00. Menschen mit Kuh-Flecken-T-Shirts kommen mir entgegen. Vor dem "Palaise" ist Gedränge. Drinnen spielt eine Band. Blues-Brother-Songs. "Grün wirkt" wird beweglich an die Wand projeziert, die Schrift natürlich in Grün. Und immer wieder der Slogan: "Kühe würden Künast wählen". Welche Rindviehcher waren für diese Kampagne verantwortlich, frage ich mich und halte einfach mal nach der Künast Ausschau. Die steht aber schon direkt neben mir, mit einem Beck´s in der Hand und in ein Gespräch vertieft. Ob die Beck´s trinkt, weil die Flaschen grün sind? Oder weil dieses Berliner In-Bier Basisnähe demonstriert? Hm, wer weiß, vielleicht schmeckt es ihr einfach.
Neben ihr ein junger Mann im Anzug, Bodyguard? Dafür zwinkert er zu oft mit den übermüdeten Augen. Keine Konzentration, kein Personenschutz. Was, wenn ich der Frau Künast das Bier wegnehmen würde? Was, wenn sich ihr so ein Verrückter mit Geflügelschere nähert wie am Vortag beim Schäuble im Würtembergischen?
Polizei gibt es erst am Ausgang. Einige Straßen weiter trägt jemand einen Kasten Beck´s zu einer Party, und ich bin immer noch nicht dahintergestiegen, was das Bier so trendig macht.
In einer Kneipe bestelle ich Wernesgrüner vom Fass. Kein Trotz. Trotzdem Kopfschmerzen heute Vormittag. Und keine Aspirin im Haus. Lässt sich aber aushalten, wenn ich an gestern denke.
Wie es Frau Künast wohl geht?

Dienstag, 13. August 2002

025 | Bei Potsdam

Manchmal befinden wir uns im Schatten großer Ereignisse oder Städte ohne dabei weniger glücklich zu sein. Im Gegenteil, oft finden wir unser leises Glück gerade fernab des Rummels. Will sagen: Während letzten Samstag in Sanssouci die Potsdamer Schlössernacht stattfand, saß ich nur einen Spaziergang weit entfernt bei Freunden im Garten. Wir grillten Zucchini, Auberginen & Steaks, tranken Schwarzbier und Rotwein und freuten uns, dass es doch nicht zu regnen begann. Bis in die Morgenstunden war da eine angenehm milde Sommernacht. Und warum sollte das Schlosspark-Feuerwerk, welches wir um null Uhr hörten, nicht auch unseren bescheidenen Tag krönen! Hier waren wir es, die Schatten warfen.
Am Sonntag sah ich mir ausgeglichen und frei von Kopfschmerzen Petzow an. Der Ort liegt am Schwielow, der größten seeartigen Havelbucht im Berliner Umland. Von einer versteckten Bank aus sah ich Segelboten und Libellen hinterher, hörte das Badegeschrei von Kindern, studierte die verjüngten Gesichter von Einheimischen und Sommerfrischlern, die das Ganze mit mir genossen, weil wir um die grauen Tage wussten.
Über Petzow hat Fontane in seinen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" geschrieben. Dabei muss er ähnlich angetan gewesen sein. Einzig die Radikalität, mit der hier Kirchen gebaut wurden, verdross ihn. Denn von der alten gotischen Kirche unweit des Schwielow blieb nichts erhalten, keine Grabplatte, nichts. Stilistisch gesehen ein Vorteil, aber letztlich eine seelenlose Angelegenheit. Mit preußischer Gründlichkeit – für den Neubau war kein Geringerer als König Friedrich Wilhelm IV. verantwortlich – wurde Historisches einfach als Gerümpel beseitigt.
Das Äußerliche dagegen ist perfekt: Auf einem sanften Hügel des Petzower Schlossparks, den Lenné anlegte, befindet sich die im romanischen Stil erbaute schnörkellose kleine Kirche. Die Pläne dafür stammen noch von Schinkel, der jedoch ein Jahr später in der Bauphase 1841 starb. Davon hat Fontane nichts geschrieben.
Die zur DDR-Zeit vernachlässigte Kirche wurde in den 90ern wieder hergerichtet und bietet jungen 2.- und 3.-klassigen Künstlern eine Ausstellungsmöglichkeit. Davon hat Fontane nichts schreiben können.
Für seine Aussicht gerühmt ist der Kirchenturm, den man für 1,- _ und mit nur wenigen Schritten besteigen kann. Dass ich es nicht tat, ist unverzeihlich, aber auch im Schatten dieses ereignishaften Turmes war ich – wie eingangs gesagt -nicht weniger glücklich. Und heute, am 2. Regentag in Folge mit deutschlandweiten Hochwassermeldungen, denke ich an den Turm und seine sonnige Wochenendaussicht wie an einen bereits verjährten Urlaub zurück.

Montag, 5. August 2002

024 | Freizeitspaß

Von Freitag bis Sonntag verkam die Karl-Marx-Allee zum längsten Biergarten Berlins. Biersorten aus aller Herren Länder wurden dort beim "Bierfest" geschluckt und so oder so rausgebracht, wie es bereits die Vorväter taten. Das Ganze allerdings mit El-Arenal-Feeling aufgepeppt. Und weil sich alles auch irgendwie steigern lässt, bewarfen einige in der Nacht grüne Ordnungshüter mit leeren Flaschen. (Ein Prooooosit der Gemütlichkeit!)
Betulicher ging es bei bestem Wetter im größten und ältesten (Selbstbedienungs-)Biergarten Berlins zu, auf dem Hof des "Praters" (Kastanienallee). Dort wird neben Kristal- und Hefeweizen sogar hauseigenes "Prater"-Pils ausgeschenkt. Dazu gibt es Laugenbrezeln, Käsespieße, Oliven oder Rostbratwürste, in denen mir aber zu viel Kümmel war.
Nach den reichlichen Kalorien war Jogging angesagt, diesmal im Volkspark Friedrichshain. Vorbei an den halb- oder völlig nackten Sonnenanbetern, Grillmeistern, spielenden Kindern, dem Café "Schönbrunn", dem wiedererrichteten Denkmal des alten Fritz´, hoch zum Mont Klamott, wieder runter und dann immer im Kreis um eine Freiluftarena und immer gegen den Strom von Inline-Skatern, Radlern und weiteren Läufern. Wie im überfüllten Tiergarten unterbleibt hier das gegenseitige Grüßen (erhobener Zeigefinger) der laufenden Autisten. Stattdessen sieht man zum Beach-Volleyball-Feld im Zentrum der Anlage, auf die Uhr oder lässt vorerst wenigstens seine Gedanken ausspannen.
Später und frisch geduscht verfiel ich ebenfalls der großstädtischen Liegewiesenmentalität, wenn auch nicht nackt. Nur irgendwie schaffte ich es, meine Decke genau über die ungezählten Ausgänge ungezählter Ameisen am Ententeich auszubreiten. Mal schnippte ich kleine schwarze herunter, dann wieder kleine rote. Dann kam eine kleine schwarze, um eine kleine rote abzutransportieren, die ein Riese beim Umdrehen einfach plattgemacht hatte.
Irgendwann schien es mich überall nur noch zu jucken; und dagegen hat auch die beste Sommerlektüre keine Chance. Außerdem nervte mich Familie Flodder, die "Enten füttern" als Wochenendhöhepunkt entdeckt hatte und – schlimmer noch – das ganze lautstark kommentierte ("Oh, kuck mal!"). Als sie anschließend mit Knüppeln die japanische Friedensglocke bearbeitete, wusste ich, was die Stunde geschlagen hatte und ging, wo der Spaß auf der Strecke blieb, meiner Wege.

Sonntag, 28. Juli 2002

023 | Wochenendausflüge

Sonnabend
Der Sommer ist zurück! Endlich kann man wieder über zu hohe Temperaturen und Ozonwerte klagen. Oder sich ins Auto setzen und raus ins Grüne fahren.
Gestern hatte ich über drei Ecken eine Einladung zu einer "Schweineparty". In dem Lokal einer Kleingartensparte wurde Spanferkel am Spieß gebraten. Dazu gab es warmes Sauerkraut, Brot und so viele verschiedene Nudelsalate wie Biersorten. Bei 8,- Euro all inclusive. Tolle Idee in Zeiten, wo das Wirtschaftssystem kränkelt wie das Ökosystem in den 80ern und Ausgehen am Wochenende teuer ist. Im Lokal legte der DJ auch gleich etliches aus den 80ern auf: Jimmy Summerville, Depeche Mode, Billy Idol. Ich denke über Zusammenhänge nach und beobachtete die ungefähr 60 Leute zwischen Tresen und Terrasse - Zwanzig- bis Dreißigjährige: Zottelige Biker, Männer mit Glatzen und Kinnbärten, Frauen mit langen Haaren und kurzen T-Shirts ... Ein Glatzkopf trägt Schottenrock, Springerstiefel und Schiebermütze, ein anderer ein Baby auf dem Arm. Eingelöste Forderungen nach Gleichberechtigung, und dahinter der unversehrt gebliebene grinsende Schweinekopf.
Mir fallen die Etiketten ein, die man in immer kürzeren Abständen meiner Generation anstickt (Generation Golf, Generation Internet), als ob es noch generationsverbindende Gemeinsamkeiten oder Gesinnungen gibt. Aber immerhin befindet sich dieser repräsentative Haufen von Individualisten gemeinsam in einem Gartenlokal und hat Spaß.
Wie auf einer Insel, denke ich und blicke in das schwarze Drumherum, wo die zeitlose Generation Laubenpieper bereits schläft.

Sonntag
Auf dem Weg zum Liepnitzsee bei Wandlitz hielt ich vor einer Eisdiele, zu der ich als Kind oft mit dem Rad gefahren bin. Gott sei Dank haben die sparsamen Modernisierungsversuche dort den Tante-Emma-Charme nicht verdrängt. Die Eisbecher und Preise sehen zwar anders aus, aber das Angebot ist größtenteils das gleiche geblieben. Meine Favoriten waren immer der Schwedenbecher (mit Apfelmus) und der Kirschbecher.
Mit verklärtem Blick bestellte ich bei der älteren Verkäuferin mit Brille den Kirschbecher ohne Sahne und konnte nicht an mich halten:
"Wissen Sie, den habe ich bei Ihnen das letzte Mal vor 20 Jahren gekauft."
Sie stutzte kurz, erwiderte dann aber mit brandenburgischer Schlagfertigkeit und gespielter Empörung, dass sie mir deshalb eigentlich keinen Eisbecher mehr verkaufen könne. Denn schließlich hätte ich dadurch nicht sehr viel für ihren Umsatz getan. Ich lächelte.
"Dort draußen, auf dem Fensterbrett habe ich immer gesessen ...", sagte ich und es war mir irgendwie peinlich, dass ich es nicht für mich behielt.
"Ja", freute sie sich, "da hat wohl schon jede Generation draufgesessen!"
"Ich auch!", meinte der Mann um die 50, der mit seiner Frau nach mir die Eisdiele betreten hatte. Dann war es für einen Augenblick still.
Die Sonne schien durchs Fenster, die alte Wanduhr tickte feierlich vergänglich und eine Wespe umflog wie eh und je meinen Eisbecher, den ich doch noch bekommen hatte.
Als ich ging, rief mir die Verkäuferin noch nach, ich solle mir bis zum nächsten Mal nicht wieder 20 Jahre Zeit lassen, weil sie dann schon längst in den Ruhestand getreten sei. Und sie lachte.

Samstag, 20. Juli 2002

022 | Ab durch die Mitte

Es ist Samstag. Allmählich verzieht sich das seit Tagen anhaltende London-Wetter aus dem spätnachmittäglichen Berlin. Am Hackeschen Markt werden wieder die Sonnenbrillenvisiere runtergeklappt. Touristen beäugen neugierig hier ansässige junge Kreative. Junge Kreative äugen ironisch zurück. Man sitzt entspannt vor dem DANTE und wirft beim vielen Reden und Äugen auch immer wieder Blicke zu den beiden indisch angehauchten Straßenmusikern: Eine tätowierte Blondine mit rotem Punkt auf der Stirn schlägt zwei Klanghölzer, ein Mann mit gebändigtem Wuschelhaar schlägt eine große Bongo-Trommel. Später, wenn es dunkel ist, werden sie wie jedes Wochenende akrobatisch mit Feuer spielen. Und sich erfolgreicher verkaufen als die beiden verwelkten Männer weiter hinten ihre kleinen Sonnenblumen (3 Stk. zu 2 Euro) oder als die beiden Typen mit den kleinen russischen Werbeplakaten aus den 20ern (á 2 Euro).
Vor der Alten Nationalgalerie bildet sich langsam eine Schlange für das Konzert von Michael Nyman, der hier nachher beim Museumsfestival mit seiner Band auftritt. Wer das ist? Er hat u.a. die Filmmusik zu "Das Piano" und "Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber" geschrieben. Ach so. Aber noch ist es ruhig. Nur auf der Friedrichsbrücke fiedelt wieder der Chinese auf seinem exotischen Instrument, bis er von einem Gitarristen abgelöst wird. Die Melodie kenne ich. Wurde so vor 20 Jahren immer als Pausenfüller beim NDR-Fernsehen gebracht. Dazu eine Nordsee-Stadtlandschaft wie aus einem Kinderbilderbuch, vom Ballon überflogen. Berlin hat seine Spree, denke ich, und den Sat 1-Ballon auf dem Potsdamer Platz. Welche Melodie wohl dazu passen könnte ...
Am Ende der Brücke verkauft ein magersüchtiges Mädchen Laugenbrezeln. Dahinter läutet der Eismann seine Glocke. Nein, kein Eismann, jemand versucht nur noch letzte Passagiere für eine Schiffsrundfahrt mit der "Nordstern" anzulocken, die unten, an der Kaimauer vertäut liegt. Daneben, direkt über der Wasseroberfläche, Einschusslöcher, wie hingespritzt. Als wären die kriegsmüden Soldaten im Frühjahr ´45 auf Entenjagd gegangen.
In der Rosenthaler Straße flutet das Leben an einem Säufer vorbei, der bei Rossmann in einer Feuerwehrzufahrt steht, als würde es brennen. Er löscht seinen Durst mit Büchsenbier, damit die Augen auf Halbmast bleiben und nicht sehen müssen, was sie nicht verstehen. Es geht weiter. Da, wo ein weggebombtes Nachbarhaus den Blick auf die entblößte Seitenwand der Gormannstraße 6 freigibt, wurde vermutlich nach der irrsinnigen Entenjagd von ´45 ein 2x3m großes Reklamefeld angemalt. Noch schwach lesbar und von den darunter gesprühten Graffiti erstaunlicherweise verschont geblieben: "Wäscherei / Plätterei / Gardinenspannerei / Annahmen für chemische Reinigung / Rosa Zimmermann / Rechts um die Ecke Steinstraße 20" Oder 26. Oder 28. Also biege ich um die Ecke in die Steinstraße. Aber da gibt es auch nur die Nummer 6 und keine Nummer 20, 26 oder 28. Und auch keine Zimmermanns mehr. Nebenan nur ein riesiger Baustellenkrater für die Keller zukünftiger Wohn- und Gewerberäume. Dahinter steht ein ehemals besetztes, dann geräumtes Haus leer. "SCHÖNBOHM DU VERSAGER BALIN PLEIPT BUNT" steht weiß auf grau an der Fassade. Dem Haus Nummer 6 über Eck befindet sich "Juliettes Literatursalon" (Buchhandlung, Verlag, Galerie), in der Gormannstraße 25. Nach der Performance-Lesung von Ulrike Haage und Thea Dorn ("Bombsong" – CD-Release Sansoleil) plaudert man inspiriert vor der Tür.
Zwei Häuser weiter, in der Gormannstraße 23, steht das Pfefferkuchenhaus von Hänsel und Gretel hinter Schaufensterglas. Eigentlich ein Haus aus Keksen und Zuckerguss, das als Installation in der Galerie "Arx Art" seit gestern bis zum 30.07. zu sehen ist (Mi – Sa 15.00 – 19.00). Fällt den Künstlern beim Kleben ein Keks runter und zerbricht, wird er mit gelassener Geste verspeist. Damit sieht man, dass Kunst, die man nicht unbedingt verstehen muss, auch Spaß und satt machen kann.
Alles friedlich, alles heiter. Wo früher die Sass-Brüder in der Untergrund-Kaschemme "Mulack-Ritze" saßen und sich kaum ein Polizist hintraute, sitzt man Ecke Mulackstraße vor dem "Gormann", einer der vielen neuen Berlin-Kneipen. (Wer war eigentlich Gormann?) Nur auf der wieder mal weiß überrollten Seitenwand vor der Franz-Mett-Sporthalle steht rot und deutlich: "Ich hasse!" Warum, wen oder was, das möchte ich wie vieles gerne wissen. Aber nicht jetzt. Und nicht heute. Es ist Samstag!

Sonntag, 7. Juli 2002

021 | Brunchen

Heute Benjamin von Stuckrad-Barre schrieb sich einmal negativ über die Unsitte des Brunchens aus. Masse statt Klasse, Selbstbedienung und am Ende ein Völlegefühl, das sich länger als der Kater vom Vorabend hinzieht. Sei´s drum, mir gefällt´s. Wer sich im Alltag für eine eher spartanische Kühlschrank-Inneneinrichtung entschieden hat, wird ein barockes Buffet am Wochenende zu schätzen wissen. Denn hier bekommt man nicht nur symbolisch etwas vom Wohlstandskuchen ab. Und bei 7,- oder 8,- Euro Pauschale eine bezahlbare Trotzreaktion auf die europaweite Teuro-Euro-Klage. Nur anhand der georderten Getränke lässt sich ahnen, wie gut es dem einen oder anderen Prasser noch geht. Milchkaffee und O-Saft zum Brunch sind vertretbar, wenn zusätzlich aber noch große Cola-Gläser oder gar Cocktails verlangt werden, deutet das nicht nur auf eine latent ungesunde Lebensführung hin, sondern vor allem auf eine schamlos zur Schau getragene Dekadenz. Jawoll! Denn bei den überteuerten Getränkepreisen ist öffentliches Trinken kaum noch zu tolerieren. So wurden betreffende Personen heute Mittag in Friedrichshains kulinarischem Bermudadreieck zwischen dem "Euphoria", "Habana" und "+ - 0" (sic!) von durstigen Passanten wie Streikbrecher betrachtet und verachtet. Sie sind es, verrieten ihre Blicke, die den 1. Juli, an dem man Groß- und Einzelhandel durch Nichtkauf finanziell ausbluten lassen wollte, zu einem Flop verkommen ließen. Sie kauften Cola bei Kaiser´s und reichlich bei Reichelt. Aber mir, dem Hungrigen, war das Ganze schlichtweg egal. Bestochen von 2 beladenen Tellern schlang ich vegetarische Köstlichkeiten in mich rein und ließ mich in diesem Bermudadreieck der Völlerei hoffnungslos wegstrudeln. Je satter ich aber wurde, um so mehr wurden in mir auch kritische Stimmen wach. Nur bezogen die sich ausnahmslos auf das Essen: zu kalt, zu ungewürzt, zu lieblos bereitet ... Undank ist eben auch der Köche Lohn. Doch unbezahlbar die Eindrücke von den anderen Abzuspeisenden. Eine überreife Frau zum Beispiel bediente ihren Mann genauso wie ihr Enkelkind. Stand ständig von einer gewissen Jäger- und Sammlermentalität getrieben auf und stürzte Richtung Buffet. Die Drohne von Mann sagte nicht einmal "Danke", wenn sie wiederkam, und sah auch nicht so aus, als könnte sie – also er - es im Bett wettmachen. Dabei hätte er ihr das Aufstehen direkt verbieten müssen, weil sie mit ihrem prallen Weißwurst-Outfit nahe dran war, jedem anderen ein schlechtes Gewissen zu machen, wo nicht gar den Appetit zu verderben. Ebenso der Penner, der – schon mittags hacke – im Selbstgespräch vertieft die Straße überquerte. Wenn der sich bereits jetzt einen Vollrausch leisten kann, dachte ich und musste aufstoßen, dann ist es um Euro und Spaßgesellschaft doch noch nicht so schlecht bestellt.

Montag, 1. Juli 2002

020 | Finale

Fußball im Fernsehen interessiert mich genauso wenig wie Dauerwerbesendungen. Doch bei Fußballweltmeisterschaften ist das was anderes. Da bin ich nicht nur am Gucken, da bin ich im Fieber. Und wenn die deutsche Mannschaft spielt, fühle ich in mir einen gesunden Patriotismus, den ich als nachgeborener "guter" Deutscher allerdings immer auch vor mir zu rechtfertigen versuche. Weil schon das Wort "deutsch" nach Fanatismus klingt. Kein Komplex, sondern ein vererbtes "Familienleiden", mit dem man – besser wohl als übel – leben muss. Nationalstolz wird entweder bejaht oder abgelehnt, zumal in emotionalen Situationen. Aber nichts davon würde den Deutschen auf lange Sicht bekommen. Sie müssen ihren Nationalstolz relativieren, um ihr altes "Familienleiden" in den Griff zu kriegen.
Für alle Länder gilt, dass es im Grunde genommen nationale Katastrophen und internationale Fußballspiele sind, die ein Volk zusammenrücken lassen. Wenn es auf der Straße kracht – von Anschlägen oder Freudenböllern – treten Nachbarn auf die Balkone und begegnen sich unter Umständen zum ersten Mal. Wobei der Balkon auch ein guter Aussichtspunkt ist, um die Toleranz im Lande zu überblicken: Regt man sich nach dem 0:2-Sieg der Brasilianer auf, wenn geböllert wird? Böllern gar deutsche Landsleute sportlich fair für den fünffachen Meister? Oder haben die Deutschen es endlich gelernt, auch stolz auf ihre Elf zu sein, wenn Deutschland nicht unbedingt über alles steht. Sie haben! Schon zu Heines Zeiten äußerte sich deutscher Nationalismus in Form von Hohn und Hass auf den Rest der Welt. Jetzt lassen die heiseren deutschen Fans – wenn auch etwas steifbeckig – ihre Hüften zu Sambarhythmen kreisen und feiern mit den Brasilianern zusammen am Ku´Damm. Wenn das kein Fortschritt ist! Frotzeleien sind natürlich erlaubt, sofern sie ausschließlich als solche erkennbar sind. Da können die Deutschen durchaus mit den hier lebenden Türken mithalten, die den Deutschen – nachdem ihr 3. Platz gesichert war – die Daumen drückten.
Eigentlich sind Gesten der Fairness bei sportlichen Kämpfen das Beste am Spiel. Wie sich viele Fußballer hoch halfen, für Fouls entschuldigten, wie sich die Türken und die Koreaner am Ende Arm in Arm beim Publikum bedankten ... Das ist der olympische Geist, der Korea auch eines Tages wieder einen wird! Und vielleicht weht der auch in 4 Jahren durch die landesweit letzte Selbsthilfegruppe der Ost- und Westdeutschen. Aber so schlimm ist es ja inzwischen auch nicht mehr.
(Ups, eigentlich wollte ich hier kein humanistisches Plädoyer vom Stapel lassen, sondern darüber schreiben, wie sich vorgestern meine aus Pellkartoffeln, Parmesan und Pecorino geformten Gnocci im Topf auflösten und wie ich beinahe das Endspiel verpasst habe, weil der Nike-Subground am Reichstag, wo das Spiel unter anderem gezeigt wurde, überfüllt war. Und ich wollte diesen Eintrag mit der Frage enden lassen, warum junge Berliner so gerne Beck´s trinken. Aber das passt ja jetzt irgendwie nicht mehr hierher.)

Dienstag, 18. Juni 2002

019 | Unter den Linden

Vor zwei Wochen suchte ich unter den Linden (oder besser: in der Straße unter den Linden) nach einer bestimmten Adresse. Der Tag war sommerlich, aber ich stand unter Zeitdruck. Ein Passant wies mir den Weg – und half mir doch nicht weiter: "Ja", sagte er, "das ist gleich da vorn, wo die Bäume sind!" Er meinte es ernst und gut; ich bedankte mich höflich. Nur gibt es zwischen Spree und Brandenburger Tor so viele Bäume wie schöne Frauen. Ich musste über drei Ecken an Heine denken, der vor 180 Jahren in der Nähe wohnte und dichtete:
"Ja, Freund, hier unter den Linden/ Kannst du dein Herz erbaun,/ Hier kannst du beisammen finden/ Die allerschönsten Fraun."
... und der schrieb:
"Als ich einst an einem schönen Frühlingstage unter den Berliner Linden spazierenging, wandelten vor mir zwei Frauenzimmer, die schwiegen, bis endlich die eine schmachtend aufseufzte: ‚Ach, die jrine Beeme!’ worauf die andre, ein junges Ding, mit naiver Verwundrung fragte: ‚Mutter, was gehn Ihnen die jrinen Beeme an?’"
Wie auch immer, ich fand mein Ziel, aber nahm mir vor, bei Gelegenheit wiederzukommen und mich ein wenig auf Spurensuche zu begeben, was Heine betrifft. Und das tat ich vor ein paar Tagen, ei bestem Wetter, mit einigen notierten Anhaltspunkten und seinen "Briefen aus Berlin" in der Tasche, die er mit 24 Jahren veröffentlicht hatte.
Im März 1821 kam er das erste Mal nach Berlin, als recht unbekanntes Talent, nicht mehr, nicht weniger. Göttingen, wo er sich bis dato noch mit Jura rumquälte, hatte ihn wegen eines Duells für ein halbes Jahr vom Studium ausgeschlossen. Und er schloss konsequenterweise Göttingen aus, die Provinz und eine Außenseiterrolle, in die man ihn, den Juden, gedrängt hatte. Zuerst stieg er im Nikoleiviertel ab, Hotel "Schwarzer Adler" in der Poststraße. Einen Teil der Straße gibt es noch immer, da wo jedoch das Hotel stand, ödet sich heute das Marx-Engels-Forum aus.
Kaum war der junge Romantiker im Herz und Haupt Preußens angelangt, ergriff ihn jene hektische Betriebsamkeit, die man rund um den S-Bahnhof Friedrichstraße immer noch vorfindet. Er schreibt sich an der Humboldt-Uni ein, geht in die gegenüberliegende Oper und besucht den Salon der Rahel Varnhagen, welcher sich nach einigen Umzügen in der Französischen Straße 20, Ecke Friedrichstraße, befand. In der Parallelstraße, Behrensstraße 71, nahm Heine nur einen Katzensprung entfernt Quartier. Sein "Vaterland" war jedoch der Salon, wo sich Chamisso, Hegel und Humboldt die Klinke in die Hand gaben.
Wenn der reiche Onkel wieder mal Geld überwiesen hatte, konnte man Heine in einem der Cafés unter den Linden treffen, zum Beispiel in der Konditorei von Teichmann, wo es die besten gefüllten Bonbons (gemeint sind sicherlich Pralinen) gab, aber die Kuchen zu fettreich waren. Oder er saß im "Café Royal", Ecke Charlottenstraße. E.T.A Hoffmann sah man dort auch so oft wie heutzutage Heino Ferch in der "Paris-Bar". Aber das lässt sich wohl nicht vergleichen. Hoffmann, "das kleine bewegliche Männchen mit den ewig vibrierenden Gesichtsmuskeln, mit den possierlichen und doch unheimlichen Gesten."
Schräg gegenüber befand sich das "Hôtel de Rôme" und links vom "Café Royal" das "Hôtel de Petersbourg", die zwei besten Gasthäuser der Stadt.
Das Gebäude des "Hôtel de Rôme" (Nr. 10) steht noch. Ob so ursprünglich wie zu Heines Zeit vermag ich nicht zu sagen. Oben die Galerie "Konvention", wo eben konventionelle, also gefällige Kunst ausgestellt wird. Unten, wo einst üppig gespeist wurde, befindet sich eine Buchhandlung ("Berlin Story"), welche sich auf preußische und DDR-Geschichte im Allgemeinen und Kunst und Kultur Berlins im Besonderen spezialisiert hat. Neben der Bücherschau kann man erfahren, dass sich später Kaiser Wilhelm von hier, vom seinerzeit besten Hotel der Stadt, regelmäßig die Badewanne ins Schloss kommen ließ. Wie das ausgesehen haben mag, kann sich jeder – ganz unkonventionell - selbst ausmalen. 1910 wurde aus dem Gebäude das Geschäftshaus "Römischer Hof", allerdings mit Schlosskonditorei. Und jetzt werden dort eben statt Baisers Bücher und Ölgemälde mit historischen Stadtansichten verkauft.
Wo sich gegenüber das "Hôtel de Petersbourg" befand, steht ein jüngeres, wenn auch wunderschönes Haus des Baumeisters G. Gause. Man muss nur einmal seinen Blick zum ersten Stock erheben, um es zu lesen. Das Gebäude ist gut und gerne über 100 Jahre alt und gehört der Preuss AG, die für "World of Tui" wirbt. Davor immerhin eines der heute wie damals einladenden (Straßen)Cafés. Nebenan das "Lindencorso", architektonisch eine Trutzburg mit gläsernen Mauern, hinter der VW´s glänzen.
Aber zurück zu Heine. Will man sich wenigstens den Ort ansehen, wo er 1821 wohnte, muss man wissen, dass aus der Behrensstraße 71 die Nr. 12 wurde. Die Suche wird allerdings durch die Tatsache erschwert, dass das riesige graue Haus Ecke Glinkastraße die zusammenfassenden Nummern 9-13 trägt. Auf jeden Fall schrieb er von hier aus am 29.12.1821 an Goethe: "Ich liebe Sie." Platonisch, versteht sich. Er hatte auf Anraten neugewonnener Berliner Freunde seinen ersten Gedichtband mitgeschickt. Aber der Herr Geheimrat nahm weder jetzt noch zweieinhalb Jahre später Notiz von dem überschwänglichen jungen Mann, der ihn in Weimar besuchte.
Ein paar Häuser weiter befindet sich in derselben Straße die "Komische Oper". Damals hieß sie "Comödienhaus" und führte 1774 Goethes "Götz" auf. Bei seinem einzigen, 5 Tage währenden Berlin-Besuch ging der Dichterfürst dort gleich nach seiner Ankunft hin, um dem Intendanten seine Aufwartung zu machen. Und war kaum älter als Heine später am gleichen Ort ...
Gegenüber und neben dem "Heinehaus", in der Behrensstraße 14, hängt ein großes Banner mit Napoleon-"N" im Fenster. Gute Aussichten für Heine, der den Korsen bewunderte. Hier befindet sich das Funduslager der "Komischen Oper". Ein Aushang kündigt dessen (Aus?)Verkauf an, u.a. Zylinder und Fräcke (welch Plural!), was genau das Richtige für (m)eine Zeitreise wäre. Aber es ist warm und die Gedanken sind ablenkbar kurzlebig. Hier Autos, da eine Schulklasse und dort – dort eine sonnenbebrillte Polizistin. Heine hätte sich seinen ironischen Reim auf sie gemacht. Damals sicher.
Er kam noch zweimal nach Berlin und hatte nach manch harmonischen Stunden auch eine handgreifliche Auseinandersetzung mit dem anarchischen Dichter Grabbe, obwohl er seine Texte mochte. Im Café "Stehely" am Gendarmenmarkt. Und er ging mit zur Beerdigung E.T.A. Hoffmanns, den er kurz zuvor noch im Weinkeller von Lutter & Wegener, Charlottenstraße 32, getroffen hatte. Die Anfangseuphorie relativierte sich zum Ende und er dichtete im Weggang:"Verlaß Berlin, mit seinem dicken Sande/ Und dünnen Tee und überwitz´gen Leuten,/ Die Gott und Welt, und was sie selbst bedeuten,/ Begriffen längst mit Hegelschem Verstande ..." Und er wusste, dass die Alternativen zu Berlin in Deutschland doch noch dünner als Tee sind. Damals wie heute. Ein Grund mehr also zu bleiben.