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Samstag, 21. September 2002

030 | Starbucks und 14 Apostel

Den gestrigen Wochenendauftakt begann ich halbwegs dekadent. Mit einer Tasse Kaffee. Im "Starbucks", Rosenthaler Straße, für 3,90 €. Gut, es war kein gewöhnlicher Kaffee, sondern ein "Caramel Macchiato" aus "Arabica-Bohnen", und je mehr ich mich in einen der ausliegenden "Kaffeegenuss"-Flyer einlas, um so bewusster wurde mir, schmeckte mir, was ich da trank: Espresso ("Seele des Kaffees") + heiße Milch + aufgeschäumte Milch + Karamelsirup. Ein Meisterwerk sozusagen, eine "Leidenschaft", "eine wahre Sinnesfreude"! Gereicht von keinem Geringeren als dem "Barista", dem "Kaffeespezialisten", dem "jede Tasse (...) am Herzen liegt" ... Am besten gefiel mir der Satz aus der "Starbucks-Garantie": "Wir kaufen die besten Kaffeebohnen der Welt ein und" – jetzt kommts – "rösten dann jede einzelne bis zur Perfektion ..." Wow! Und ich Ignorant hatte meine Tasse bereits wie nebenbei ausgeschlürft, im Obergeschoss, wo gemütliche Sessel englische Club-Atmosphäre verbreiten und mit der Swingmusik und dem Kaffeeduft ein Hauch Kolonialzeit mitschwebt. Dass ich mir für 3,90 € locker ein Päckchen Kaffee bei Kaiser´s kaufen könnte, ließ ich mir nicht anmerken. Nein, ich war entspannt und bemüht, genauso blasiert dreinzuschauen wie die anderen Gäste.
Diesen Blick haben übrigens auch immer mehr auf den Straßen rund um den Hackeschen Markt drauf. So unterscheiden sie sich besser von den Berlin-Touristen, die vor dem "Dante" ihre Regenschirme öffnen, wenn es plötzlich aus dem mit Schläuchen präparierten Baum regnet.
Weniger elitär geht es in einem der italienischen "Zwölf Apostel"-Restaurants zu, von denen Berlin einige hat, das gemütlichste vielleicht in der Georgenstraße 179 (im Internet fälschlicherweise als Nr. 2 aufgeführt).
Ich hatte für abends, was sicherer ist, vorbestellt und saß nahe der Museumsinsel unter einem der vielen nutzbar gemachten S-Bahn-Bögen. Das Ambiente lässt sich am besten mit "aristokratischer Volkstümlichkeit" beschreiben. Schon die freskenartige Wandbemalung verbindet bäuerliche und mythologische Motive im Stile der italienischen Renaissance und Lebensfreude. Und deutsche Renaissance am Tonnengewölbe über mir: bürgerliche Wappen aus dem 16. Jahrhundert. Deren Bedeutung ging mir jedoch nicht auf. Aber deswegen war ich auch nicht da. Ich bestellte mit Parmesan panierte Kalbsschnitzel auf Spaghetti und vorweg – dummerweise – Antipasti; denn die Portionen dort sind so groß, dass man weinen möchte, wenn so viel von dem nicht zu schaffenden Guten abgeräumt werden muss. Unzählige Kellner kümmern sich um die unzähligen Gäste. Wenn das Stimmengewirr angeregter Tischrunden stört wie das S-Bahn-Rumpeln über einem, sollte nicht herkommen, wer etwas Berlintypisches möchte, schon. Italienisch als berlintypisch? Eben!
Und heute früh: Berliner Typen an der Tankstelle. Ein Radfahrer mit braun getönter Brille, mit – Achtung! – Blindenabzeichen an der Jacke stellte sich vor meinen Wagen und begann mit dem bereitstehenden Scheibenreiniger sein Rad zu säubern. Ich war perplex. Sehr penibel nahm er sich jede Speiche vor, und ich fragte mich, wie er sah, was er nicht mehr sehen wollte, wie er überhaupt Rad fahren konnte. Seltsam. Dass er mir schließlich im Weg stand, bekam er freilich nicht mit.
Dann die zwei skurrilen Altachtundsechziger, die als joviale Sandwichpicker, als doppelseitige Reklametafeln für die Grünen warben. Die Kleidung im Öko-Stil, die Haare grau, der Blick - in bester Don-Quichotte-Manier – voller Idealismus. Und ebenso plakativ wie das Bild vom schmerzhaft lächelnden Herrn Ströbele, dem einer der reanimierten Aktivisten ständig mit dem Finger an die hohe Stirn tippte.
Eigentlich hätten die beiden Apostel einen Tag vor der Wahl für die Union werben müssen. Um letzten Unentschlossenen die Entscheidung dagegen zu erleichtern. Amen.

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