Seiten

Montag, 7. Juni 2004

073 | Liquidrom

Seit heute soll die große Wärme zurückgekehrt sein. Nur zu, wenn es nicht gerade so heiß wird wie letztes Jahr. Wer aus „The Day after tomorrow“ rauskommt, wird die große Wärme überdies auf sehr dankbare Weise empfinden.
Am Sonnabend war es aber noch einigermaßen frisch draußen. Letzte Chance für mich, mein Wintervorhaben – ins „Liquidrom“ zu gehen – in die Tat umzusetzen. Das Liquidrom gehört zum neuen Tempodrom, wo zur Zeit der Pferdeflüsterer für Stille im Publikum sorgt, und befindet sich in der Möckernstraße 10, nicht weit vom Potsdamer Platz und Anhalter Bahnhof entfernt. Schon von weitem weist das stilisierte Zirkusdach aus offenem weißen Beton den Weg.
Wer von Spaßbädern mit Massenbetrieb genug hat und das exklusive Wellness-Erlebnis sucht, ist im Liquidrom genau richtig. Schreiende Kinder und fastfood-verseuchte Erwachsene werden schon von den 15,-€ für 2 Stunden Eintritt abgeschreckt. Vielleicht auch von der Stille, die im Badebereich Gesetz ist, oder von der puritanischen Innendekoration (viel nackter Beton). Und wer wie ich das erste Mal hierher kommt, interessiert sich nicht für Sauna, Massage und Außenpool, er geht am langen Tresen vorbei, direkt ins Herz der Anlage, besser: direkt in den Mutterleib. Denn der runde Pool befindet sich in einem dunklen Raum unter einer riesigen, auf vier Pfeilern ruhenden Betonkuppel. Am Zenit ein Bullauge zum Himmel über Berlin. Ringsum wabern sparsame Lichteffekte zu entspannter elektronischer Musik. Es riecht ein wenig nach Chlor. Das Wasser hat Badewannen-Temperatur, ist aber gesalzen wie das Meer. Verwöhnte Nixen würden sich hier sofort wohl fühlen. Das tun aber auch alle anderen. Zumeist Paare schieben sich abwechselnd wie im Kreise einer Schwimmbad-Therapiegruppe durchs Wasser. Das Gesicht dabei nach oben, die Ohren unter Wasser. Das ist wichtig, denn unter Wasser ist die Akustik wegen der Pool-Lautsprecher am besten. Man lauscht wie ein Wal und bewegt sich auch so behäbig. In Zeitlupe oder wie ein Astronaut im All. Man kann mit den Füßen auch am Beckenrand „andocken“, indem man sie einfach unter das Geländer klemmt. Dann ist das Astronautengefühl perfekt. Man schwebt in seiner Welt, im eigenen Kosmos und fühlt den Schoß Gottes, das Leben davor oder den Mutterleib danach. Wiedergeburt, denke ich, wenigstens für 1-2 Stunden. Türkisches Bad, denke ich weiter, unter Wasser gesetzte Krypta eines New-Age-Tempels. Auf jeden Fall ein Chill-out-Raum (Sonnabends legt ein DJ auf, freitags gibt’s „Klassik unter Wasser“). Je mehr ich denke, um so weiter treibe ich der Vernunft entgegen in dem Raum, wo laut Eigenwerbung des Liquidroms die „Kultur ins Wasser fällt“. Doch hier fällt nichts, hier schwebt alles, hier taucht man höchstens vor dem Alltag ab. Oder man flirtet. Und Flirten ist ja schließlich auch Abtauchen. Manchmal ist es im Liquidrom so sinnlich, wie ich mir einen anspruchsvollen Swingerclub vorstelle. Aber das ist es in einer Sauna auch, da sich Sinnlichkeit und Erotik zum Verwechseln ähnlich sehen, ähnlich anfühlen.
Nach anderthalb Stunden habe ich dennoch genug. Meine Haut ist schrumpelig und der Abend dementsprechend nicht mehr ganz so jung (Das Liquidrom hat bis nachts geöffnet). Ein Bier!, denke ich am Ende meiner Wiedergeburt, denn Salzwasser macht durstig.

Samstag, 29. Mai 2004

072 | Caveman, Arena & Osthafen

Berlin hat kein Geld. Weil die Konjunktur noch künstlich beatmet wird und die Stadt mit Geld nicht recht umzugehen weiß. Wie eine meiner Bekannten, die ständig über finanzielle Probleme jammert, doch jeden Tag essen geht. Berlin bläht sich mal auf und entwickelt in Sektlaune Visionen, dann schrumpft es wieder in Katerstimmung zusammen. Bauprojekte werden oft nicht zu Ende gedacht, aber zur Hälfte fertiggestellt (U 55); Halbfertiges wird abgerissen (Topographie des Terrors), Halbabgerissenes bleibt über Jahre (Palast der Republik).

Nur: Berlin wäre kaum Berlin, wenn bei dem städtebaulichen Debakel nicht doch noch etwas ginge – abseits kommunaler Beton-Politik, dank privater Investoren, kreativer Projekte und fernab experimenteller Selbstbefriedigung mit falscher Subventionierung. So wird bald am Ostbahnhof mit dem Bau der „Anschutz-Arena“ begonnen, einem Kolosseum der Neuzeit & Superlative. Die Arena wird als Multifunktionshalle das größte Eisstadion Europas beherbergen und zur WM-Eröffnung ab 2006 für Sport- und Musikveranstaltungen genutzt werden. Die veranschlagten Kosten von 150 Millionen Euro trägt ausschließlich die Anschutz-Entertainment-Group aus den Staaten. Da können die Stadtkämmerer diesmal wohl ganz entspannt bleiben.

Die Arena, welche es in Berlin seit 10 Jahren bereits gibt, wird mit der Fertigstellung der neuen sicher die „alte Arena“, die „Konzert-„ oder „Kulturarena“ genannt. Sie befindet sich am Osthafen der Spree und wird vielleicht irgendwann einmal, wenn es der Hauptstadt besser geht, so schön saniert sein wie die „Kulturbrauerei“ in Prenzlauer Berg, auch wenn die alte Hafen-Industriehalle nicht halb so viel hermacht. Und es werden dann immer noch Konzerte oder Theateraufführungen stattfinden.
Zur Zeit läuft dort im dazugehörigen „Glashaus“ (Eichenstr. 4) „Caveman“ (www.caveman.de), eine absolut empfehlenswerte Ein-Mann-Comedy aus New York („erfolgreichstes Solo-Stück aus der Geschichte des Broadways“) in einer Inszenierung von Esther Schweins. Es geht um das unterschiedliche Ticken von Männern und Frauen und die sich daraus ergebenen Rhythmusstörungen und Taktlosigkeiten bei Hetero-Paaren. Hier werden Klischees nicht bedient, sondern auf Kollektiv-Erfahrungen zurückgeführt. Und hier wird auf augenzwinkernd-witzige Weise – was Intelligenz voraussetzt – um Nachsicht für die Andersartigkeit von Männern und Frauen gebeten. Auch wenn man(n)/frau als Publikum sich für nicht typisch hält, ist der vorgehaltene Spiegel bei „Caveman“ groß genug, um ihn oder sie, sich und seinesgleichen darin wiederzuerkennen und lachend mit dem Finger auf das andere Selbst zu zeigen.

Neben dem Glashaus und der Arena liegt die „Hoppetosse“, ein Gastro- und Musikschiff vor Anker. Man kann auf dem Segler nicht ganz so gut essen wie auf dem „Klipper“ (Bulgarische Straße, vor der Insel der Jugend), hat von dort aber einen wunderbaren Ausblick auf die Spree mit Oberbaumbrücke, Universal-Haus, die riesige Wasserskulptur und die neuste architektonische Attraktion Berlins: das Badeschiff.
Als Weiterentwicklung umzäunter Spree-Badeorte von vor hundert Jahren kann man seit dem 8. Mai über eine großflächige Stegkonstruktion zu dem „Badeschiff“ - einem schwimmenden Metallpool - gelangen und einen Meter über der Wasseroberfläche in und doch nicht in der Spree baden. Abends ist die Riesenwanne beleuchtet, im offenen Zelt am Ufer wird aufgelegt, in zwischen dicken Steg-Pfählen befestigten Hängematten oder im Zuckersand am Ufer gechillt. Man trinkt aus Flaschen oder Cocktailgläsern an der „Strandbar“, flirtet, genießt die Ruhe oder freut sich über eine Erweiterung des seit 2-3 Jahren anhaltenden Trends, Bacardi- und Insel-Feeling an die Spree zu holen (geöffnet von 8.00-24.00, Eintritt 3,-€).
Bei so viel Innovation und Zeitgeist ist es kein Wunder, dass der seit 1913 existierende Osthafen als traditioneller Warenumschlagplatz nach 2005 nicht mehr existieren wird. Stattdessen werden zwischen Oberbaum- und Elsenbrücke Ateliers, Büros und Wohnungen gebaut. In der Hoffnung auf vergleichsweise wenig Leerstand entsteht also ein Viertel für die „Multimedia – (Next)Generation“. MTV als möglicher Arbeitgeber ist bereits wie schon Universal vor Ort. Das klingt.

Berlin bleibt vorerst jedoch arm, wird in meinen Augen aber immer mehr zur Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten, wenn auch leider nur für die, welche etwas und sich gut zu verkaufen wissen. Der Osthafen als symbolischer Ort: Die einen streichen die Segel, die anderen ankern im ruhigen Wasser. Und wer bis dorthin gekommen ist, sucht mit Tucholskys „Ideal“ die „Villa im Grünen mit großer Terrasse, / vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße; / mit schöner Aussicht, ländlich-mondän, / vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn, / aber abends zum Kino hast dus nicht weit.“
Für den Rest bleibt die Wirklichkeit, der Kiez, Berlin als Dorf und Verachtung für die vom Osthafen.

Mittwoch, 26. Mai 2004

071 | Poltern & Blinkern

Ruckizucki ist der Mai vorbei. Mit Fliederduft und Kastanienblüten, mit erstem Spargel und letztem Bodenfrost. Was ich für diesen Sehnsuchtsmonat auf meine „To-do-Liste“ geschrieben hatte, ließ sich auch an fünf Wochenenden nicht ganz verwirklichen und wird in den Juni mit rübergenommen. Zum Beispiel bei wärmerem Wetter in einem Gartenlokal am Wasser oder unter einer Kastanie bis zum Abendrot sitzen oder ins MoMA gehen (hatte vorgestern zu).
Aber ich schaffte es mit dem Rad 111 km ins Anhaltinische zu fahren, wobei ich auf jeden einzelnen Kilometer stolz bin. Man hatte mich zu einer dörflichen Polterhochzeit eingeladen (und ich liebe Hochzeiten, sofern ich nur Gast sein kann).
Das Ganze fand auf einem großen Gehöft statt, mit Bierwagen und ordentlicher Überdachung gegen den kalten Regen. Nachdem sich Männer, die im Anzug erschienen waren, und Frauen, die mit ihren Highheels den nassen Rasen zu vertikutieren schienen, bequemer und wärmer angezogen hatten, begann der bekannte Ablauf von Reden, Showeinlagen und Tanz nach dem Kaffee. Diesmal war es nicht nur erträglich, sondern sogar unterhaltsam.
Mich beeindruckte vor allem diese flexible Dorfgemeinschaft: Ein gelernter Fleischer (Er sah so aus, wie man ihn sich vorzustellen hat) bereitete aus zwei Schweinen – ein Haus- und ein Wildschwein (selbstgeschossen!) – über offenem Feuer eine Art Gulasch zu. Frauen in den Rollen von Kellnerinnen inszenierten sich später flexibel mit in- und externen Parodien.
Die Frischvermählte selbst ließ es sich auch nachts nicht nehmen, nur im Brautkleid rumzuwuseln. Voller Energie und voller Pfützendreck am Saum. Die Alten am Rande schlugen entsetzt amüsiert die Hände zusammen. Vor allem, als einer von ihnen der Brautstrauß in den Schoß flog. Dann wurde wieder getanzt, mit ländlicher Nonchalance, Hand in Hand und Hand um Schulter oder Taille, nach altbewährtem Dreh. Dazu volkstümliche Stimmungsmusik („Ein wie-ßer Schwaan / zie-het den Kaahn / mit der schö-nen Fi-sche-rin / auf dem blau-en See da-hin ...“ und der unvermeidliche „Holzmichel“, der – Jaaa!!! – noch lebt!). Befremdlich, aber es passte von Bier zu Bier immer besser, wie ich fand.
Vor dem Poltern wurden offenbar ganze Sanitärgeschäfte und Gärtnereien geplündert. Ein Traktor kam beispielsweise mit Anhänger und Massen an alten Tonblumentöpfen in der stolz erhobenen Baggerschaufel an. Nachdem der Fahrer diese ausgeleert hatte, stieg er aus, sagte den vor dem Tor Versammelten trocken „n´Abend!“, öffnete die Seitenklappe des (nicht einsehbaren) Anhängers, stieg wieder ein und setzte den hydraulischen Kippmechanismus in Gang. Die Umstehenden traten in ungewisser Erwartung, was da gleich rausscheppern werde, zurück. Und: Die Ladung, welche am Straßenrand in Scherben ging, bestand nur aus einem einzelnen (zerbrochenen) Krug. Die Art Humor gefällt mir.
Ja, und anderntags radelte ich wieder die Strecke nach Berlin zurück.
Himmelfahrt war ich wie letztes Jahr mit dem Kanu in Mecklenburg unterwegs. Aus der wild-romantischen Umtragestelle zwischen dem Plätlinsee und dem Klenzsee war auf dem Areal eines über 120 Jahre alten Wustrower Bauernhofes ein „Kanuhof“ geworden. Mit Bootsverleih, WC und Waschmöglichkeiten, mit Pacht fürs Zelten und – jeder Menge Durchreisender. Tagsüber blinkerte ich nach Hechten und hoffte, dass es nicht regnen würde. Denn am Himmel wechselten sich Cumulus- mit Regenwolken ab. Manchmal kam aber auch die Sonne durch und wärmte mich, während ich auf einem Steg döste oder heißen Kaffee trank. Marlboro-Feeling, nur ohne Zigaretten. Für den großen Fischfang war es jedoch zu kalt. Ein untermaßiger Hecht, ein annehmbarer Barsch, eine Güster, eine Plötze.
Trost gibt es da oben in solchen Fällen immer noch in der Fischräucherei von Rheinsberg, wo es neben Zuchtforelle und -lachs Selbstgefangenes wie Maräne, Barsch und Schleie gibt.
Dazu abends am Lagerfeuer ein Bier und die Bekanntschaft mit Karateka aus Rheinsberg oder einer geselligen Truppe aus Dresden. Mehr braucht es nicht. Eine Gymnasiallehrerin hatte tatsächlich ihrer Gitarre dabei und belebte mit Evergreens den vollkommenen Mythos von der Lagerfeuerromantik. Authentizität statt Retro. Es wurde mitgesungen. Leise. Und die dunkle, kalte Welt um uns wurde einfach und gut. Wie damals ..., als Erinnerungen begannen.
Einfach und gut ..., bis ein Waschbär kam und uns skeptisch beäugte, als wären wir ein paar idealistische Dinosaurier, die er nicht fürchten muss.

Mittwoch, 28. April 2004

070 | Biken

Letzten Sonntag habe ich die erste lange Radtour dieses Jahres gemacht. Und dann gleich 4 Stunden im Sattel gesessen. Jede dieser Stunden kostete anschließend meinem Hintern einen Tag Regeneration. Dabei wollte ich eigentlich nur durch den Grunewald fahren, ganz entspannt, wie einst die Könige mit ihren Mätressen, wenn sie aus dem Jagdschloss kamen. Aber für die Spazierfahrtidylle waren zu viele Hunde mit Herrchen und Frauchen unterwegs. Klein, groß, dick, doof, über- oder unterzüchtet. Herrchen, Frauchen und Hunde. Letztere sind ja schließlich auch nur Menschen. Und manch kleiner Kläffer, bulliger Boxer oder versnobter Windhund wirkte wie das Alter Ego seines Strippenziehers.
Dann gab es Hunde, die Radfahrer und Biker anfallen („Der will bloß spielen ...“), Hunde, die nicht ausweichen können, und Hunde, die an langer Leine als wandelnde Fallen unterwegs sind. Das Wort Slalom musste neu definiert werden.
Selbst im Grunewaldsee: lauter Hunde. Was Wunder, dass der Nachbarsee „Hundekehlesee“ heißt.
Also machte ich, sobald es ging, einen großen Bogen um den Wanderzirkus und fuhr parallel zur S-Bahn und Avus an zwei Kleingartenkolonien vorbei (Kolonie „Hundekehle“ und Kolonie „Hundekuhle“!). Dort: Ruhe und Schlaglöcher, Kinder, die schaukeln, Mütter, die Beelitzer Spargel schälen, und - nur noch ab und an: ein Hund.
Am Großen Stern, wo die Avus untertunnelt ist, suchte ich das Weite: bis zum Havelstrand, die Havelchaussee südlich, und dann den Kronprinzessinnenweg weiter zum S-Bahnhof Wannsee. Weil es langsam Spaß machte, folgte ich der Königstraße als Königstrecke Richtung Potsdam.
Im Pavillon des Glienicker Schlosses machte ein Fotograf bei perfektem Licht erotische Aufnahmen von einem Model auf Highheels mit kurzem Rock, langem, offenem Mantel und professionellen Posen. Sie arbeiteten diskret und leise.
Auf der Glienicker Brücke, 100 Meter weiter, war es dagegen laut, keine Kulisse mehr für einen Agentenaustausch, dafür alles schön saniert. Aber eben zu viel Lärm für den Eintritt in Brandenburgs ruhige Hauptstadt. Denn Potsdam bleibt für mich zwar eine Stadt mit Potential, großen und verstreuten Kunstschätzen, ist im Grunde aber langweilig-gediegen. Stahnsdorf und Teltow, Orte, die auf meiner weiteren Route lagen, sind dagegen zu komplex, als dass ich sie mit einem armen, aber gemütlichen märkischen Dorf vergleichen könnte: Bürgerhäuser und Plattenbauten zwischen Normalität und einigermaßen blühender Landschaft. Aber nichts Reiz- oder Geheimnisvolles im Vorbeifahren.
Obwohl gerade Teltow links und rechts der Hauptstraße kein Ende zu nehmen scheint, kommt der Übergang nach Berlin abrupt. Plötzlich ist man in Lichterfelde oder Zehlendorf. Dort sieht es nicht großstädtisch aus, aber es ist immerhin Berlin. Und irgendwo darin wusste ich am Sonntag meine Dusche und meine Couch. Alles andere durfte auf der Strecke bleiben.

Freitag, 9. April 2004

069 | Urbi et orbi

Hoppla, da bin ich wieder! Auferstanden bereits am Karfreitag, wenn auch erst gegen Mittag. Immerhin, denn Frühjahrsmüdigkeit und Nieselwetter wollen mich glatt wieder ins Bett schicken. Ein wenig fühle ich mich wie die Bäume da draußen, die in sich ruhen, aber nur halbherzig blühen und darauf warten, dass ihnen der Lebenssaft von alleine einschießt. Ich genieße – nach der gestrigen Einkaufshektik – die Stille, höre (kein Widerspruch!) die Meisen durchs offene Fenster und vermisse höchstens noch das Knacken einer alten Schallplatte oder das brennender Holzscheite im Ofen, um mich vollends behaglich zu fühlen. Behaglich und etwas kraftlos, ja, das trifft meinen Zustand. Vielleicht hätte ich mir mit der Auferstehung bis zum Sonntag Zeit lassen sollen; aber der Winter war schließlich lang genug.

Ich recke mich, prüfe schon mal den Reifenluftdruck am Fahrrad und wische liebevoll den Staub vom Angelkram. Jetzt, da das eigentliche Jahr beginnt, wenn die ersten Angler am See sitzen. Davor war nur Geplänkel und Wunsch nach kleinen oder (besser!) großen Fischen („Manntje, Manntje, Timpe Te ...“). Mal sehen, was dieses Jahr anbeißt: abgetauchte oder neue Freunde, das große Glück? Hält die Schnur? Geht man baden?

Vom Fenster aus beobachte ich die lange Schlange vor der Neuen Nationalgalerie. „MoMA“ heißt das Stichwort und die Ausstellung in eigener Sache: Museum of Modern Art. Ausgesprochen wirkt es (ausgesprochen gut). Als Abkürzung hört es sich lächerlich an: MoMA! Wie der Name eines Indoor-Spielplatzes. Für eine Dada-Ausstellung wäre es okay, nur nicht für die visuellen Kavierhäppchen der Top-Moderne. MoMA klingt so hipp wie gleichnamiger Babybreihersteller in Werbespots rüberkommt. Aber wie unwichtig ein Name letztlich ist, weiß man ja nicht erst seit „Romeo und Julia“. Hingehen werde ich auf jeden Fall - wenn es sich ausgeschlängelt hat.

Falls es hier jemanden gibt, der/die meine Tagebuchaufzeichnungen (besser: Wochenbuchaufzeichnungen) regelmäßiger liest, als ich sie verfasse, wird er/sie sich vielleicht fragen, was ich die letzten beiden Monate getrieben habe. Die Antwort ist einfach: Wenn ich das abziehe, was mir zu privat oder banal erscheint, bleibt unterm Strich nicht mehr viel übrig. Geschrieben: (fast) nichts. Ausstellungen: (noch) nicht. Konzerte: nein. Kino: selbst das nicht. Vielleicht mal gut essen, aber davon kann ich nicht in einer Tour berichten. Kulturell bin ich also aus dem Training, halte mich höchstens mit Lesen geistig in Form (Tucholsky-Biografie).

Tja, manchmal macht der Alltag selbst aus Berlin ein Dorf. Man lebt nicht viel anders als in der Provinz, man hat nur mehr Möglichkeiten - neben Frühjahrsputz, Freundschaftsbesuchen und Feierabendbier. Wer die Berliner Möglichkeiten allerdings längerfristig nicht nutzt, sollte sich fragen, worauf sich sein Lokalpatriotismus (so er/sie hat) bezieht.

Die Meisen sind still geworden da draußen ...
Ob die Menschen in der Schlange vor der Neuen Nationalgalerie mehr Angst vor Anschlägen haben als die Angler im abgeduckten Umland? Nur so ein Gedanke. Und bevor ich das Fenster wieder schließe:
Wo auch immer ihr seid: Frieden & fette Beute, urbi et orbi, also: alles Gute zum neuen Jahr!

Mittwoch, 4. Februar 2004

068 | Die „Berlinale“ & „Das Magazin“

Morgen beginnt in Berlin die Berlinale. Aber das interessiert mich nicht wirklich. Bei mir muss es sich erst ordentlich rumgesprochen haben, dass ein Film gut ist, bevor ich ihn mir ansehe (so bei „Halbe Treppe“). Dann darf die Kassenschlange auch nicht länger als die von „Burgerking“ sein, sonst gehe ich lieber dorthin oder gleich in die Videothek. Ohnehin ist mir zur Zeit eher nach Hausmannskost: Nach langer Zeit hat mich eine ordentliche Erkältung erwischt, die es mir mit Nachholebedarf so richtig zu zeigen gedenkt. Jeden Tag gehen einige Packungen Taschentücher drauf, die Augen sind so wässrig trübe wie das Wetter da draußen und mein beim Atmen offener Mund würde mich für eine intellektuelle Herausforderung wie die Berlinale ohnehin zu debil erscheinen lassen.

Alles Ausflüchte, ich weiß. Ich bin halt kein Cineast und es würde mir beim Risiko-Kauf einer Kino-Karte nur ums Geld leid tun. Im Sommer wäre das was anderes. Die Berlinale als Open-Air-Event mit Friedrichshainer Volkspark-Charme kann ich mir gut vorstellen. So was Ähnliches gab es ja mal bis 1978. Doch der Februar war lukrativer, weil konkurrenzloser. Und die Schlangen vor den Kino-Kassen sind ja immerhin auch im Februar so lang, wie das Interesse groß ist. Wenn man von Leuten wie mir absieht.

Ich habe es ja noch nicht mal geschafft, mir „Lost in Translation“ anzusehen. Dabei weiß ich durch Trailer und Filmkritiken, dass mir der Film gefällt. So wie ich es von köstlichen Speisen weiß, die ich nie probiert habe, aber deren Rezepte ich kenne.
Also sitze ich zu Hause, lese mir köstliche Rezepte durch, koche etwas ganz anderes und schmecke – wegen des Schnupfens – ohnehin nichts.

Heute morgen sagte Fitness-Guru Ulrich Strunz, der gerade auf Teneriffa ist, bei RadioEins: „Wenn man die ganze Zeit hier ist, sehnt man sich nach dem deutschen Schmuddelwetter zurück ...“ Der Heuchler! Neulich beim Joggen dachte ich daran, wie er immer sagt: „Beim Laufen muss man lächeln, es muss leiiiiiiicht aussehen.“ Ich habe beim Laufen noch nie gelächelt, und ich laufe seit über 6 Jahren konsequent, nur eben jetzt nicht (schlecht fürs Herz). Herr Strunz würde bestimmt auch behaupten, die Gäste eines Wellness-Hotels sehnen sich nach Kindergeschrei, resozialisierte Ex-Knackis nach dem Strafvollzug, wohlhabende Mittelständler sehnen sich nach dem Sozialamt oder die als geheilt entlassene Patienten nach ihren überwundenen Krankheiten („Darf´s jetzt eine Metastase mehr sein?!“).
Ich jedenfalls sehne mich nach Sommer und – würde Herr Strunz nicht gerade dort sein – auch nach Teneriffa (mit Wellness-Hotel).


Im „Magazin“-Heft von vor 29 Jahren (Heft Nr. 2), das mir zufällig vorliegt, sitzt ein Mann im Morgenmantel am Frühstückstisch (von Werner Klemke gezeichnet) und sieht noch vergrämter drein als ich. Denn er durfte nicht mal von Teneriffa träumen und „wellness“ kam in seinem Schul-Englisch nicht vor.
Weil ich mich nicht um Kino-Karten kümmere, blättere ich das Heft etwas durch:
Reklame für „Staatliche Lebensversicherung der DDR“ (hat der DDR trotzdem nix genützt), Reklame für „Livio“-Kamillencreme (M 1,50) und „Pohli“-Gesichtswasser (M 2,55) von VEB Dresden Kosmetik.
Dann „Treffpunkt“:
„Berlinerin, 30 J., schlk., mit Hochschulbild., wü. Jg. Mann bis 34 J. m. marx. Weltansch. zw. spät. Heirat kennenzul. MA 6992 DEWAG, 1054 Berlin“
Vielleicht hat sie ja Glück gehabt mit so einem Mann. Vielleicht hat sie die Wendezeit inzwischen verdaut und beide feiern auf Teneriffa Silberhochzeit. Oder sie sitzt frustriert in einer Plattenbauwohnung und sagt bei den Nachrichten zu ihrem Mann: „Ich kann das mit den Reformen nicht mehr hören; damals in der DDR ...“
Weiter! Leserbriefe. Hans-Joachim Illguth aus Hermsdorf schreibt:
„Bis jetzt haben mir ihre Titelbilder immer gut gefallen, aber eins habe ich als Vertreter des männlichen Geschlechts zu bemängeln: Haben Sie schon einmal bemerkt, dass wir Männer stets als die Unterlegenen dargestellt werden? Es sieht immer aus, als gäbe es nur energielose Pfeifen! Meine Verlobte wartet jedes Mal nur darauf, um mir anhand des Magazintitelbildes klarzumachen, wer Herr im Hause ist. Ich wäre ihnen sehr dankbar, wenn Sie den Spieß einmal umdrehen würden!“
Ohne Worte und weiter: Erzählungen, Gereimtes, Porträts, Rätsel, Filmtipps, Karikaturen, Aktbilder, wieder Reklame (für Bücher, „Yava“-Spray, „Sküs“- und „regard“-Kosmetik, TeleLotto), aber auch eine Warnung des Deutschen Hygiene-Museums vor Medikamentenmissbrauch (Tabletten & Abführmittel).
Aus heutiger Sicht war das „Das Magazin“ gespickt mit Zeitlosem wie Skurrilem. Parteipolitisches fehlte. Aus jetziger Sicht: ein Wellness-Magazin! Viele der Schwarz-weiß-Fotos wirken lyrisch, melancholisch, zauberhaft, wie ich es in heutigen Mainstream-Medien vermisse.
Fast bin ich versucht zu sagen: „Damals in der DDR ...“ Aber das liegt nur an der Jahreszeit und an meiner Erkältung. Wenn ich wieder fit bin, werde ich hoffentlich über etwas Gegenwärtigeres zu berichten haben, das ich vor Ort auch beschnüffeln konnte. Bis dahin falte ich mir noch einige Taschentücher auf, blättre im „Magazin“ von Anno dazumal und fühle mich wie eine „energielose Pfeife“.

Sonntag, 18. Januar 2004

067 | Thalbach & „Moon Thai“

Katharina Thalbach wird 50. So stehts im Feuilleton der Zeitungen. Ob´s ihr recht ist, dass es nun auch der letzte U-Bahn-Leser weiß? Es wird sie zumindest nicht stören. Denn in Interviews wirkt sie rotzig-locker wie eh. Und wenn sie über etwas nicht reden möchte (Schwächen von Kollegen oder wovon sie träumt), dann lässt sie es eben. Aber ihr Alter ...? Schließlich gehört Klappern zum Handwerk und schließlich fühlte sie sich immer schon wie ein „altes Kind“, was ich gut nachvollziehen kann. Immerhin erfahre ich mit der „50“ als Aufhänger einiges über ihr Leben, über ihre - wo preisgegeben - Persönlichkeit. Ob sie wirklich mit dem Wachsen aufhörte, weil ihre Mutter starb, ist schwer zu glauben, aber es ist zumindest eine interessante Theorie von ihr (und ihrem damaligen Arzt). Da war sie zwölf und hatte die 1,55 m erreicht. Seitdem: keinen Zentimeter mehr! Es erinnert mich an das Klein-bleiben-Wollen Oskar Matzeraths aus der „Blechtrommel“, dem Film, in dem ich Katharina Thalbach das erste Mal sah. Das war vielleicht auch ihre erste Filmrolle nach der Westausreise 1976. Besonders hübsch fand ich sie nicht, doch sie hatte was. Die Brausepulver-Szene empfand ich wortwörtlich als prickelnd, aber auch irgendwie eklig. Wie einen Zungenkuss mit sieben. Jetzt sieht sie aus, wie ich mir Frodos Mutter im „Herren der Ringe“ vorstelle: große Augen, kleiner Körper; gnomhaft & facettenreich. Und diese Stimme!

Dann nahm ich Frau Thalbach erst wieder (bewusst) als Mutter Ehrenreich in „Sonnenallee“ wahr und fand sie einfach großartig.

Im Theater sah ich sie nie. Bis vorgestern. Da gab sie den Mercutio im Berliner Gorki-Theater. Das „Romeo und Julia“-Stück hatte sie sogar selbst inszeniert.
Eine Frau als Mercutio, und dann noch die Thalbach, das ist mindestens so gewöhnungsbedürftig wie die Vorstellung, dass zu Shakespeares Zeiten nur Männer die Julia spielen durften. Aber es war gut. Sie sprach, soff, kotzte und pisste wie ein Mann, oder wie Frauen sich „richtige“ Männer vorstellen oder sie erlebt haben.
Was mich an dem Stück jedoch störte, war das Übersexualisierte, weil es aus dem Drama eine erigierte Hans-Wurst-Klamotte zu machen drohte: Mercutio poppte Benvolio, der Romeo dabei einen blies, Julia zwirbelte ihrer Amme die Brustwarzen usw. Bei Shakespeare gibt das Komische dem Tragischen die lebensnahe Würze, hier war manches einfach überwürzt, wie Minestrone mit Vanillesoße. Karikaturen statt Anspielungen. Von solchen Einlagen abgesehen hat mir die Vorstellung jedoch gefallen. Ein Bekannter war dagegen schwer enttäuscht „Die Thalbach soll schauspielen und nicht inszenieren!“, sagte er. Wer weiß.

Jedenfalls mag ich ihre erdige Art. Nachdem die großen Berliner Volksschauspieleroriginale mehr oder weniger tot sind, wird deren Herz-und-Schnauze-kleine-Leute-Mentalität von Katharina Thalbach bestens weiterverkörpert. Finde ich zumindest.

Da Frau Thalbach im Interview gestand, sie könnte den ganzen Tag lang essen, würde es sie vielleicht interessieren, dass ich in Charlottenburg zwischen vielen vor allem asiatischen Restaurants ein kleines, feines Thai-Restaurant entdeckt habe: „Moon Thai“ in der Kantstraße 32 (Nähe Savignyplatz). Da stehen auch bereits Autogrammkarten von Michael Schanze bis Herrn Olm an der Wand – was unkommentiert bleiben kann. Davon abgesehen ist der kleine Raum wirklich was fürs Auge: Stuckdecke und orange Wände, sphärische Musik und eine nette Kellnerin ohne Lächeln – reizvolle Kontraste. Das folkloristische Interieur wurde liebevoll nach Qualitätsmerkmalen ausgesucht, alles ist sauber, der Gast fühlt sich wohl. Mittags kann er entspannen, abends muss er vorbestellen. Das spricht vor allem für die Kochkünste des „Moon Thai“. Das Chicken-Sate besteht tatsächlich aus Hähnchenfleisch und nicht aus Pute (aber die Erdnuss-Soße im „Chez de Nhad“, dem vietnamesischen Bistro in der Mulackstraße 31, bleibt unübertroffen). Köstlich das doppelt gebratene Hähnchenfleisch mit Reis und Gemüse. Den Reis füllt man sich mit einem dunklen Holzlöffel auf, und dieses Bild (Reis auf dunklem Holzlöffel) ist einfach schon vollkommen! Allmählich macht sich eben in den unzähligen asiatischen Restaurants der Hauptstadt ein höheres Level bemerkbar. Das finden auch die Gastro-Kritiker des Tip-Magazins. Da wird beispielsweise das nagelneue „Cochin“ am Hackeschen Markt empfohlen (Neue Promenade 6). Und ich fürchte, ich muss da bald hin, auf der Suche nach der perfekten Erdnuss-Soße und vietnamesischen Gerichten ohne Koriander. Aber damit werde ich es wohl schwer haben.

Sonntag, 4. Januar 2004

066 | Vor- und Rückblicke

Unter dürren Straßenbäumchen liegt zerfetztes Böllerrot wie abgeschneite Blütenblätter. Und im Fernsehen wirbt man bereits wieder mit Frühlingshaftem. Willkommen im neuen Jahr!

Zwei Monate lang hatte ich keine rechte Lust, etwas zu schreiben. Stattdessen quälte ich mich mit einer Jahresrückschau nach der anderen durch den Dezember und dachte über Johannes Heesters Altersweisheit nach: „Nie zurückblicken!“ Und das aus seinem Mund, Respekt! Aber ich mag die Rückschau genauso wie das Pläneschmieden. Rückschau aus einem warmen Zimmer heraus, wo man getrost überwintern kann hat immer etwas von wahrer Besinnlichkeit. Nur wenn es mir zu kuschelig wurde, zog ich meine Laufschuhe an und zog um die surreale Häuserkulisse.
Selbst in Berlin haben viele aus ihren Balkonen leuchtende Disney-Discos gemacht. Jemand schob einen mit Schmalfilmkamera im Einkaufswagen die Straße lang (Alles festhalten!), ein Sechsjähriger mit Polenböller in der Hand fragte mich nach Feuer ... Der ganz normale Wahnsinn. Aber dann auch Tschaikowskis „Nussknacker“ im detailverliebten Papiertheater (Paulinenhof, Sophienstraße 28/29) und ein Neujahrsspaziergang am Petzinsee. Diese Ruhe! Als sei die dünne Eisschicht des Sees daran schuld, oder Nebeldunst in der Ferne. Der Stein, den ich über das Eis hüpfen ließ wie ein übermütiges Pferd war zweckfrei und gab keine Anstöße. Aber er machte Geräusche wie Eisenbahnschienen, nachdem gerade ein Zug vorbeigefahren ist. Sommererinnerungen. Zirpende Grillen am Bahndamm. Wahre Poesie, Vor- und Rückblicke.
Was noch?
Ein Bekannter erzählte mir vom Auftritt eines geleasten Weihnachtsmannes - türkisch, jung und brauchte das Geld: „Ey Kleine, kannst du mir konkret Gedischt erzähln ...?!“ Sitcom wider Willen. Und doch irgendwie gut. Dabei fällt mir ein, dass Harald Schmidt sich zum Winterschlaf zurückgezogen hat, was ich verstehe und sehr bedaure. Weil Schmidt in der 1. Satire-Liga genialisch konkurrenzlos war.
Aber er ist ja nicht aus dem Leben und das Jahr hat erst angefangen. Ich glaube, es wird ein besonderes.