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Sonntag, 28. Juli 2002

023 | Wochenendausflüge

Sonnabend
Der Sommer ist zurück! Endlich kann man wieder über zu hohe Temperaturen und Ozonwerte klagen. Oder sich ins Auto setzen und raus ins Grüne fahren.
Gestern hatte ich über drei Ecken eine Einladung zu einer "Schweineparty". In dem Lokal einer Kleingartensparte wurde Spanferkel am Spieß gebraten. Dazu gab es warmes Sauerkraut, Brot und so viele verschiedene Nudelsalate wie Biersorten. Bei 8,- Euro all inclusive. Tolle Idee in Zeiten, wo das Wirtschaftssystem kränkelt wie das Ökosystem in den 80ern und Ausgehen am Wochenende teuer ist. Im Lokal legte der DJ auch gleich etliches aus den 80ern auf: Jimmy Summerville, Depeche Mode, Billy Idol. Ich denke über Zusammenhänge nach und beobachtete die ungefähr 60 Leute zwischen Tresen und Terrasse - Zwanzig- bis Dreißigjährige: Zottelige Biker, Männer mit Glatzen und Kinnbärten, Frauen mit langen Haaren und kurzen T-Shirts ... Ein Glatzkopf trägt Schottenrock, Springerstiefel und Schiebermütze, ein anderer ein Baby auf dem Arm. Eingelöste Forderungen nach Gleichberechtigung, und dahinter der unversehrt gebliebene grinsende Schweinekopf.
Mir fallen die Etiketten ein, die man in immer kürzeren Abständen meiner Generation anstickt (Generation Golf, Generation Internet), als ob es noch generationsverbindende Gemeinsamkeiten oder Gesinnungen gibt. Aber immerhin befindet sich dieser repräsentative Haufen von Individualisten gemeinsam in einem Gartenlokal und hat Spaß.
Wie auf einer Insel, denke ich und blicke in das schwarze Drumherum, wo die zeitlose Generation Laubenpieper bereits schläft.

Sonntag
Auf dem Weg zum Liepnitzsee bei Wandlitz hielt ich vor einer Eisdiele, zu der ich als Kind oft mit dem Rad gefahren bin. Gott sei Dank haben die sparsamen Modernisierungsversuche dort den Tante-Emma-Charme nicht verdrängt. Die Eisbecher und Preise sehen zwar anders aus, aber das Angebot ist größtenteils das gleiche geblieben. Meine Favoriten waren immer der Schwedenbecher (mit Apfelmus) und der Kirschbecher.
Mit verklärtem Blick bestellte ich bei der älteren Verkäuferin mit Brille den Kirschbecher ohne Sahne und konnte nicht an mich halten:
"Wissen Sie, den habe ich bei Ihnen das letzte Mal vor 20 Jahren gekauft."
Sie stutzte kurz, erwiderte dann aber mit brandenburgischer Schlagfertigkeit und gespielter Empörung, dass sie mir deshalb eigentlich keinen Eisbecher mehr verkaufen könne. Denn schließlich hätte ich dadurch nicht sehr viel für ihren Umsatz getan. Ich lächelte.
"Dort draußen, auf dem Fensterbrett habe ich immer gesessen ...", sagte ich und es war mir irgendwie peinlich, dass ich es nicht für mich behielt.
"Ja", freute sie sich, "da hat wohl schon jede Generation draufgesessen!"
"Ich auch!", meinte der Mann um die 50, der mit seiner Frau nach mir die Eisdiele betreten hatte. Dann war es für einen Augenblick still.
Die Sonne schien durchs Fenster, die alte Wanduhr tickte feierlich vergänglich und eine Wespe umflog wie eh und je meinen Eisbecher, den ich doch noch bekommen hatte.
Als ich ging, rief mir die Verkäuferin noch nach, ich solle mir bis zum nächsten Mal nicht wieder 20 Jahre Zeit lassen, weil sie dann schon längst in den Ruhestand getreten sei. Und sie lachte.

Samstag, 20. Juli 2002

022 | Ab durch die Mitte

Es ist Samstag. Allmählich verzieht sich das seit Tagen anhaltende London-Wetter aus dem spätnachmittäglichen Berlin. Am Hackeschen Markt werden wieder die Sonnenbrillenvisiere runtergeklappt. Touristen beäugen neugierig hier ansässige junge Kreative. Junge Kreative äugen ironisch zurück. Man sitzt entspannt vor dem DANTE und wirft beim vielen Reden und Äugen auch immer wieder Blicke zu den beiden indisch angehauchten Straßenmusikern: Eine tätowierte Blondine mit rotem Punkt auf der Stirn schlägt zwei Klanghölzer, ein Mann mit gebändigtem Wuschelhaar schlägt eine große Bongo-Trommel. Später, wenn es dunkel ist, werden sie wie jedes Wochenende akrobatisch mit Feuer spielen. Und sich erfolgreicher verkaufen als die beiden verwelkten Männer weiter hinten ihre kleinen Sonnenblumen (3 Stk. zu 2 Euro) oder als die beiden Typen mit den kleinen russischen Werbeplakaten aus den 20ern (á 2 Euro).
Vor der Alten Nationalgalerie bildet sich langsam eine Schlange für das Konzert von Michael Nyman, der hier nachher beim Museumsfestival mit seiner Band auftritt. Wer das ist? Er hat u.a. die Filmmusik zu "Das Piano" und "Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber" geschrieben. Ach so. Aber noch ist es ruhig. Nur auf der Friedrichsbrücke fiedelt wieder der Chinese auf seinem exotischen Instrument, bis er von einem Gitarristen abgelöst wird. Die Melodie kenne ich. Wurde so vor 20 Jahren immer als Pausenfüller beim NDR-Fernsehen gebracht. Dazu eine Nordsee-Stadtlandschaft wie aus einem Kinderbilderbuch, vom Ballon überflogen. Berlin hat seine Spree, denke ich, und den Sat 1-Ballon auf dem Potsdamer Platz. Welche Melodie wohl dazu passen könnte ...
Am Ende der Brücke verkauft ein magersüchtiges Mädchen Laugenbrezeln. Dahinter läutet der Eismann seine Glocke. Nein, kein Eismann, jemand versucht nur noch letzte Passagiere für eine Schiffsrundfahrt mit der "Nordstern" anzulocken, die unten, an der Kaimauer vertäut liegt. Daneben, direkt über der Wasseroberfläche, Einschusslöcher, wie hingespritzt. Als wären die kriegsmüden Soldaten im Frühjahr ´45 auf Entenjagd gegangen.
In der Rosenthaler Straße flutet das Leben an einem Säufer vorbei, der bei Rossmann in einer Feuerwehrzufahrt steht, als würde es brennen. Er löscht seinen Durst mit Büchsenbier, damit die Augen auf Halbmast bleiben und nicht sehen müssen, was sie nicht verstehen. Es geht weiter. Da, wo ein weggebombtes Nachbarhaus den Blick auf die entblößte Seitenwand der Gormannstraße 6 freigibt, wurde vermutlich nach der irrsinnigen Entenjagd von ´45 ein 2x3m großes Reklamefeld angemalt. Noch schwach lesbar und von den darunter gesprühten Graffiti erstaunlicherweise verschont geblieben: "Wäscherei / Plätterei / Gardinenspannerei / Annahmen für chemische Reinigung / Rosa Zimmermann / Rechts um die Ecke Steinstraße 20" Oder 26. Oder 28. Also biege ich um die Ecke in die Steinstraße. Aber da gibt es auch nur die Nummer 6 und keine Nummer 20, 26 oder 28. Und auch keine Zimmermanns mehr. Nebenan nur ein riesiger Baustellenkrater für die Keller zukünftiger Wohn- und Gewerberäume. Dahinter steht ein ehemals besetztes, dann geräumtes Haus leer. "SCHÖNBOHM DU VERSAGER BALIN PLEIPT BUNT" steht weiß auf grau an der Fassade. Dem Haus Nummer 6 über Eck befindet sich "Juliettes Literatursalon" (Buchhandlung, Verlag, Galerie), in der Gormannstraße 25. Nach der Performance-Lesung von Ulrike Haage und Thea Dorn ("Bombsong" – CD-Release Sansoleil) plaudert man inspiriert vor der Tür.
Zwei Häuser weiter, in der Gormannstraße 23, steht das Pfefferkuchenhaus von Hänsel und Gretel hinter Schaufensterglas. Eigentlich ein Haus aus Keksen und Zuckerguss, das als Installation in der Galerie "Arx Art" seit gestern bis zum 30.07. zu sehen ist (Mi – Sa 15.00 – 19.00). Fällt den Künstlern beim Kleben ein Keks runter und zerbricht, wird er mit gelassener Geste verspeist. Damit sieht man, dass Kunst, die man nicht unbedingt verstehen muss, auch Spaß und satt machen kann.
Alles friedlich, alles heiter. Wo früher die Sass-Brüder in der Untergrund-Kaschemme "Mulack-Ritze" saßen und sich kaum ein Polizist hintraute, sitzt man Ecke Mulackstraße vor dem "Gormann", einer der vielen neuen Berlin-Kneipen. (Wer war eigentlich Gormann?) Nur auf der wieder mal weiß überrollten Seitenwand vor der Franz-Mett-Sporthalle steht rot und deutlich: "Ich hasse!" Warum, wen oder was, das möchte ich wie vieles gerne wissen. Aber nicht jetzt. Und nicht heute. Es ist Samstag!

Sonntag, 7. Juli 2002

021 | Brunchen

Heute Benjamin von Stuckrad-Barre schrieb sich einmal negativ über die Unsitte des Brunchens aus. Masse statt Klasse, Selbstbedienung und am Ende ein Völlegefühl, das sich länger als der Kater vom Vorabend hinzieht. Sei´s drum, mir gefällt´s. Wer sich im Alltag für eine eher spartanische Kühlschrank-Inneneinrichtung entschieden hat, wird ein barockes Buffet am Wochenende zu schätzen wissen. Denn hier bekommt man nicht nur symbolisch etwas vom Wohlstandskuchen ab. Und bei 7,- oder 8,- Euro Pauschale eine bezahlbare Trotzreaktion auf die europaweite Teuro-Euro-Klage. Nur anhand der georderten Getränke lässt sich ahnen, wie gut es dem einen oder anderen Prasser noch geht. Milchkaffee und O-Saft zum Brunch sind vertretbar, wenn zusätzlich aber noch große Cola-Gläser oder gar Cocktails verlangt werden, deutet das nicht nur auf eine latent ungesunde Lebensführung hin, sondern vor allem auf eine schamlos zur Schau getragene Dekadenz. Jawoll! Denn bei den überteuerten Getränkepreisen ist öffentliches Trinken kaum noch zu tolerieren. So wurden betreffende Personen heute Mittag in Friedrichshains kulinarischem Bermudadreieck zwischen dem "Euphoria", "Habana" und "+ - 0" (sic!) von durstigen Passanten wie Streikbrecher betrachtet und verachtet. Sie sind es, verrieten ihre Blicke, die den 1. Juli, an dem man Groß- und Einzelhandel durch Nichtkauf finanziell ausbluten lassen wollte, zu einem Flop verkommen ließen. Sie kauften Cola bei Kaiser´s und reichlich bei Reichelt. Aber mir, dem Hungrigen, war das Ganze schlichtweg egal. Bestochen von 2 beladenen Tellern schlang ich vegetarische Köstlichkeiten in mich rein und ließ mich in diesem Bermudadreieck der Völlerei hoffnungslos wegstrudeln. Je satter ich aber wurde, um so mehr wurden in mir auch kritische Stimmen wach. Nur bezogen die sich ausnahmslos auf das Essen: zu kalt, zu ungewürzt, zu lieblos bereitet ... Undank ist eben auch der Köche Lohn. Doch unbezahlbar die Eindrücke von den anderen Abzuspeisenden. Eine überreife Frau zum Beispiel bediente ihren Mann genauso wie ihr Enkelkind. Stand ständig von einer gewissen Jäger- und Sammlermentalität getrieben auf und stürzte Richtung Buffet. Die Drohne von Mann sagte nicht einmal "Danke", wenn sie wiederkam, und sah auch nicht so aus, als könnte sie – also er - es im Bett wettmachen. Dabei hätte er ihr das Aufstehen direkt verbieten müssen, weil sie mit ihrem prallen Weißwurst-Outfit nahe dran war, jedem anderen ein schlechtes Gewissen zu machen, wo nicht gar den Appetit zu verderben. Ebenso der Penner, der – schon mittags hacke – im Selbstgespräch vertieft die Straße überquerte. Wenn der sich bereits jetzt einen Vollrausch leisten kann, dachte ich und musste aufstoßen, dann ist es um Euro und Spaßgesellschaft doch noch nicht so schlecht bestellt.

Montag, 1. Juli 2002

020 | Finale

Fußball im Fernsehen interessiert mich genauso wenig wie Dauerwerbesendungen. Doch bei Fußballweltmeisterschaften ist das was anderes. Da bin ich nicht nur am Gucken, da bin ich im Fieber. Und wenn die deutsche Mannschaft spielt, fühle ich in mir einen gesunden Patriotismus, den ich als nachgeborener "guter" Deutscher allerdings immer auch vor mir zu rechtfertigen versuche. Weil schon das Wort "deutsch" nach Fanatismus klingt. Kein Komplex, sondern ein vererbtes "Familienleiden", mit dem man – besser wohl als übel – leben muss. Nationalstolz wird entweder bejaht oder abgelehnt, zumal in emotionalen Situationen. Aber nichts davon würde den Deutschen auf lange Sicht bekommen. Sie müssen ihren Nationalstolz relativieren, um ihr altes "Familienleiden" in den Griff zu kriegen.
Für alle Länder gilt, dass es im Grunde genommen nationale Katastrophen und internationale Fußballspiele sind, die ein Volk zusammenrücken lassen. Wenn es auf der Straße kracht – von Anschlägen oder Freudenböllern – treten Nachbarn auf die Balkone und begegnen sich unter Umständen zum ersten Mal. Wobei der Balkon auch ein guter Aussichtspunkt ist, um die Toleranz im Lande zu überblicken: Regt man sich nach dem 0:2-Sieg der Brasilianer auf, wenn geböllert wird? Böllern gar deutsche Landsleute sportlich fair für den fünffachen Meister? Oder haben die Deutschen es endlich gelernt, auch stolz auf ihre Elf zu sein, wenn Deutschland nicht unbedingt über alles steht. Sie haben! Schon zu Heines Zeiten äußerte sich deutscher Nationalismus in Form von Hohn und Hass auf den Rest der Welt. Jetzt lassen die heiseren deutschen Fans – wenn auch etwas steifbeckig – ihre Hüften zu Sambarhythmen kreisen und feiern mit den Brasilianern zusammen am Ku´Damm. Wenn das kein Fortschritt ist! Frotzeleien sind natürlich erlaubt, sofern sie ausschließlich als solche erkennbar sind. Da können die Deutschen durchaus mit den hier lebenden Türken mithalten, die den Deutschen – nachdem ihr 3. Platz gesichert war – die Daumen drückten.
Eigentlich sind Gesten der Fairness bei sportlichen Kämpfen das Beste am Spiel. Wie sich viele Fußballer hoch halfen, für Fouls entschuldigten, wie sich die Türken und die Koreaner am Ende Arm in Arm beim Publikum bedankten ... Das ist der olympische Geist, der Korea auch eines Tages wieder einen wird! Und vielleicht weht der auch in 4 Jahren durch die landesweit letzte Selbsthilfegruppe der Ost- und Westdeutschen. Aber so schlimm ist es ja inzwischen auch nicht mehr.
(Ups, eigentlich wollte ich hier kein humanistisches Plädoyer vom Stapel lassen, sondern darüber schreiben, wie sich vorgestern meine aus Pellkartoffeln, Parmesan und Pecorino geformten Gnocci im Topf auflösten und wie ich beinahe das Endspiel verpasst habe, weil der Nike-Subground am Reichstag, wo das Spiel unter anderem gezeigt wurde, überfüllt war. Und ich wollte diesen Eintrag mit der Frage enden lassen, warum junge Berliner so gerne Beck´s trinken. Aber das passt ja jetzt irgendwie nicht mehr hierher.)