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Donnerstag, 7. Juli 2005

078 | Schwarzsauer und Life 8

Ostern ist wohl schon eine Weile her. Will sagen, der letzte Eintrag. Ich entscheide mich aber dafür, dass es nicht weiter schlimm ist. Und hier kommt auch schon der aktuelle:

Das letzte Wochenende begann ich sehr gemütlich im Café "Schwarzsauer" mit einem Frühstück. (Kastanienallee 13). Ein kleines kostet dort 4, das große 6,-€. Und ein kleines reicht völlig. Dazu einen richtigen Kaffee, den Tagesspiegel und sommerliches Wetter. Mehr braucht es nicht. Die weibliche Bedienung hätte vielleicht noch lächeln können, aber das scheint Privatsache oder gilt als uncool.

Das "Schwarzsauer" heißt offenbar nach einem norddeutschen Schlachtgericht so, bei dem Blut und Essig eine Rolle spielen. Und das Café war eines der ersten Nachwende-Cafés in der Kastanienallee. Seine Gäste wirken immer noch bodenständig kiezbezogen. Wer hier frühstückt, hat auch schon mal das Shirt vom Vortag an oder geht mit seiner Frisur recht antiautoritär um. Ein Mann, der sich an meinen Nachbartisch setzte, aß - obwohl in Begleitung - unbefangen vom stehen gelassenen Teller einer jungen Frau. Und er aß alles auf! Zwei Tische weiter wurde zur Selbstgedrehten selbstvergessen im Mund und im Ohr rumgepolkt, später Milchschaum vom fleißigen Finger gelutscht. Viele der Gäste wirken wie Kreative vom Bau: verwildert, verschlafen, ungeduscht. Was bei Bauleuten so natürlich nicht stimmt. Aber ich bleibe beim Bild: Hier ist nur der Blaumann bunt, aber verwaschen und knittrig. Bei aller Pragmatik auch eine Art Dresscode.
Lauter Münder, die kauen oder Worte zu großen Gesten liefern. Gelbe Straßenbahnen und Rucksackgänger im Hintergrund, "Freitag"-Taschen- und Coffee-to-go-Träger. Weiter links ist ein Parkplatz, der zumindest in DDR-Tagen als Schwulentreff bekannt war. Davor Kastanien in allen Größen und ohne große Mottenfraßspuren. Ich bestelle noch einen Kaffee, diesmal auch ohne zu lächeln. Keine Retourkutsche, mir ist das Lächeln äußerlich einfach nur vergangen.

Jamiroquai oder sein Doppelgänger schlendert vorüber, mit gelber Ballonmütze. Das ist hier nicht außergewöhnlich. Dann kommen vier Rumänen mit Akkordeon, Saxophon, Tambourin und Pappbecher für Euro-Kling-Klang. Auch das nichts Neues. Den meisten Frühstückern ist es lästig. Auf der anderen Straßenseite macht die "Kani Mani Bar" auf.

Ich liebe urbanen Sinneseindrücke, solange ich sie noch auseinanderhalten kann: Mal ist es das Tellerklappern, mal der U-Bahngeruch aus Luftschächten. Als Kind mochte ich sogar Benzingerüche an Tankstellen. Und überall die Menschentypen, die wie eigene Welten durchs All gehen, ohne miteinander zu kollidieren, oder als Besucher fremder Galaxien Kontakt aufnehmen; nur ihren Gesetzen und einer größeren Ordnung gehorchend.

Mittags ziehe auch ich weiter - zum Life8-Konzert vor der Siegessäule. Interpreten wie Die toten Hosen, Wir sind Helden und Faithless, aber auch Chris de Burg spielen drei Songs, um bei mir und der breiten Masse Bewusstsein zu wecken. Afrika soll von seinen Gläubigern, den G-8-Staaten, entschuldet werden, weil sonst weiterhin alle drei Sekunden ein Kind an Armut stirbt. Ich bin beeindruckt von dieser Initiative, wenn ich auch generell Massenveranstaltungen wenig mag. Zeitgleich Konzerte in Rom, London, Moskau, Philadelphia, Barrie, Tokio und Johannesburg. Seit Sonnabend trage ich das weiße Armband, ein Solidaritäts-Symbol. Hätte ich nicht in Berlin zu tun, wäre ich auf jeden Fall am Sonntag nach Edinburgh gereist.
Heute ist Donnerstag. Gestern hieß es in den Nachrichten, dass es wieder von wenigen zu Ausschreitungen kam. Polizisten wurden angegriffen, Autos zerstört. Der Schaden, den diese Leute verursachen, ist natürlich viel größer und bringt das Ganze in Misskredit. Diese Leute verkaufen Anarchie als Freiheit, diese Leute sind Typen, die wie Meteoriten durchs All gehen, die es auf Kollision angelegt haben, weil sie ihre Begrenztheit und ihr Paralleluniversum zum egozentrischen Weltbild erklären.

Für den Sonntag verordnete ich mir Erdung und Ruhe: Ich sah mir in der Neuen Nationalgalerie am Potsdamer Platz die Ausstellung "Brücke und Berlin - 100 Jahre Expressionismus" an. Vieles kannte ich, nicht alles kam mir bedeutsam vor, aber vor allem an einigen Holzschnitten hatte ich meine wahre Freude. Später Mittagessen auf dem "Klipper", dem Segelschiffrestaurant am Plänterwald, dann zwei Biere auf dem Pfefferberg. Dort im Biergarten ist es meistens nicht zu voll, man kann auf die Schönhauser Allee runterschauen, neue Pläne skizzieren oder alte auswerten. Deswegen ist dort einer meiner Lieblingsplätze. Andere gilt es noch zu entdecken. Der Sommer in Berlin hat ja gerade erst begonnen.

Mittwoch, 23. März 2005

077 | Ostergeschwafel

Ins Osterwochenende schleppen und kurz kurzatmig auf der Couch sitzen. Ein Auge zum Himmel, ein Ohr dem Wetterbericht. Naja. Wird schon. Alles eingekauft? Oder sich als Besuch angekündigt? Super! Kann also losgehen. Wer sich nach dem Luftholen vor dem Fernseher die Wunden leckt, ist selber schuld. Von morgens bis abends die üblichen Verdächtigen: Winnetou verbrüdert sich mit James Bond und die Dornenvögel fliegen auf, wenn die Titanic sinkt. Kreuzweise quergesehen. Alle Jahre wieder wird die Auferstehung des Heidenspaßes gefeiert. Da kann der Papst leben und leiden, was er will: Das Märtyrertum ist zum Islam konvertiert, die Besinnlichkeit hat es sich im Weihnachtsmannsack gemütlich gemacht. Ostern gehört allein den Hasen und anderen spaßigen Aktivisten. Den Osterspaziergängern zum Beispiel (Gibt es eigentlich noch Ostermärsche?). Wer allerdings den Goethe´schen Osterspaziergang aus der Schublade, wo auch der Weihnachtsklimbim lagert, holt, sollte nur den Mund aufmachen, wenn Ironie statt Pathos dabei herauskommt. Wo war ich stehen geblieben? Egal, weiter:
Ich werde mich im Garten Verwandter nützlich machen. Körperlicher Ausgleich für ein gutes Gefühl. Statt ProSieben: Kompost sieben, Baum fällen, Stubben roden, Teich anlegen. Oder so. Oder die Hälfte von allem. Dann ein Bier leeren und den Grill anschmeißen ("Angrillen!"). So einfach bleibe ich gestrickt nach all den klugen Büchern, Gedanken und Worten, die mich bisher und bis hierher begleiteten. Kein Weltverbesserer oder wenigstens Vegetarier mit interessanten Karotten-Marotten ist aus Mutters Bestem geworden. Nur einer, der zu geben und nehmen weiß, zu arbeiten und zu genießen. Ist das schon der Sinn des Lebens oder bloß das Leben zwischen dem Sinnen und der Sinnlosigkeit? Sorry, ich will hier niemanden langweilen, also weiter:
In Rand-Berlin zeigen sich wieder die Kroküsschen auf den kackbraunen Mittelstreifen der Bundesstraßen. Dazwischen ein paar Blitzer, mal auf Stativen, mal in Mülltonnen. So phantasievoll ist die Polizei im osterlichen Verstecken und - wo selbst anwesend - Begrünen der Landschaft. Blitz! Ein Erinnerungsfoto von der Fahrt nach jwd ("janz weit draußen"), die dem Berliner schon immer irgendwie teuer war.
Ein Foto, wenigstens das; weil sich doch so schnell vergisst, wie der Frühling riecht, wo der Baum im Garten stand und was man Ostern so gemacht hat.

Mittwoch, 23. Februar 2005

076 | Knoblauchdackel vs. Trübsal

Draußen schneit es aschefein, während gleichzeitig Trübsal von den Dächern tropft. Wirkte alles nicht so schlimm, könnte der Himmel sich etwas blauer zeigen. Aber so. Durchhalten. Beim Marathon wären wir etwa bei Kilometer 25. Die nächste Etappe heißt "März". Vier Buchstaben, genau wie "Ziel". Und es riecht schon manchmal nach Frühling, aber uns wird nichts geschenkt. Einige knicken ein und schleppen sich mit Frust-Food auf die Fernseh-Couch, andere können sich zeitliche Abkürzungen über südlichere Umwege leisten. Konkret heißt das zum Beispiel: Freunde von mir sind gerade in Thailand und haben mir gestern Nachmittag im Sommeroutfit von einem Moped aus durch eine Straßen-Web-Cam zugewunken. Dann brausten sie easyrider weiter. Gemein. Kein Wunder, dass ich mich anschließend nicht auf den winterfetten Feuchtwanger-Roman konzentrieren konnte (da bin ich noch bei Kilometer 1).
Dass meine Topfpflanze neben dem Fernseher eingeht, ist auch nicht gerade erbaulich. Vielleicht ist das Trash-TV schuld. (Auch eine Art Frust-Food ohne Dünge-Effekt.) Aber warum soll es der Pflanze oder mir besser gehen als den meisten von euch? Zwischen Gähnen und Kaffetrinken gab es bei mir nicht wirklich viel zu erleben. Doch ich glaube, was uns in diesen Tagen vor der Winterdepression bewahrt, ist das gegenseitige Besuchen. Wer niemanden hat, den er besuchen oder empfangen kann, ist natürlich verloren wie jemand, der nachts keinen Schlaf findet. Er kann sich auch nicht mit Pseudo-Besuchen bei Dussmann oder Karstadt rausreden, auch nicht mit einer Stunde Mittagsschlaf, das zählt nicht. Für richtige Besuche muss man sich ausdauernder zivilisieren: die Wohnung herausputzen, halbtote Topfpflanzen entsorgen und Feuchtwanger-Romane wegstellen, damit es nicht so aussieht, als ob. Gestern Abend hörte ich von einem richtigen Besuch die wahre Geschichte eines Dackels, der immer alleine Bus fuhr und immer Knoblauch ins Futter bekam. Das eine hatte aber nichts mit dem anderen zu tun; ich meine, im Bus saßen wohl noch weitere Fahrgäste, trotz der Knoblauchausdünstungen. Der Dackel fuhr bloß ohne Herr- oder Frauchen. (Dabei würde mich einmal interessieren, ob man als Verantwortlicher für einen Hund als allein fahrendes Gewohnheitstier nicht auch zur Kasse gebeten werden könnte. Und ob man von einem Kontrolleur verlangen darf, sich auf alle Viere zu begeben, um Monatskarten an Hundehalsbändern zu überprüfen.)
Allein der Hund als Fahrgast wirkt schon - gern auch im doppelten Sinne - auf mich ziemlich abgefahren. Doch dann endete die krude Story damit, dass der Dackel eines Tages in den falschen Bus stieg. "Dann war er weg", sagte mein richtiger Besuch.
Ich weiß, das klingt hier nicht nach DER Pointe. Aber gestern fetzte mich die Geschichte schon nach 2 Gläsern Prosecco vor Lachen von der Couch. Und ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so viele alberne Tränen rausgekichert habe. Ist das unter (leicht alkoholisierten) Umständen nicht ein ganz patentes Rezept gegen chronische Wintergebrechen, wenn TV & Co als Antibiotikum immer öfter versagt? Nämlich: richtiger Besuch als Prophylaxe und Knoblauchdackel bei akuten Beschwerden. Nur vor Überdosierung sei gewarnt.

Samstag, 29. Januar 2005

075 | Frau Adriana und Monsieur Vuong

Vorgestern war ich mit meinem Freund Peter zum Billard verabredet. Und zum Bier. Deshalb wollte ich mit der S-Bahn in die City fahren. Draußen lag Neuschnee und machte die Welt friedlich und den Blick milde: Kindheitserinnerungen. Weihnachtslichter. Und die Spuren vorsichtig Eilender.

An einem Haus klebten halbe Schneebälle. Das orange Rundumlicht eines Räumfahrzeuges leckte hecktisch wie der Putzteufel darüber. Aber alles blieb doch, wie es war: ein wenig Fassade und offene Stille. Nur die Gedanken vereinzelter Fußgänger schlossen manch Haustür und sahen durch Fenster, mal nach innen, mal nach außen. Meine Gedanken blickten zurück und ärgerten sich über Frau Adriani, während meine Füße wie gewöhnlich weitergingen.

Frau Adriani hatte eben noch in der Nähe des Schlosses Gripsholm die kleine Ada gequält. Sie war eine böse Frau, nicht nur zu Kindern. Dass sie es aber vor allem zu Kindern war, machte das Warum unerheblich. Dass andere Frau Adrianis Bosheit still duldeten, machte das Warum jedoch dringend erforderlich. --- Solche Gedanken machten sich meine Gedanken, statt sich schlicht auf einen schönen Abend zu freuen. Und sie lutschten wie an einem Eiszapfen an Tucholskys Satz, dass Gleichgültigkeit nur der Mangel an Phantasie sei. Ein bemerkenswerter Satz, fanden meine Gedanken und sahen aus dem Fenster: Die S-Bahn kam.
Vielleicht ist Gleichgültigkeit aber auch wie ein Erschöpfter im Schutz einer Mauer; dem die Augen ständig zufallen, obwohl oder weil er weiß, dass er wie meine Füße weiter muss. --- Nein, eigentlich nicht. Gleichgültigkeit bleibt Mangel an Mitgefühl; eine Mangelerscheinung auf jeden Fall. Man spart sich die Gefühle ("Geiz ist geil!") für sich selbst, statt sie gedankenlos woanders zu investieren. So dachten die Gedanken und wurden auch noch vom Gefühl angefeuert. Dabei gab es keinen Grund dafür außer Tucholskys Sommergeschichte, die ich mir im Übrigen ganz anders vorgestellt hatte. Besser gesagt, ich hatte sie mir gar nicht vorgestellt, wollte sie nur immer mal lesen, obwohl der Titel mir nicht gefiel.
Im S-Bahnabteil saßen Menschen, die nicht schnell genug nach Hause oder von dort wegkamen. Einige schienen die S-Bahn nie zu verlassen, dachte ich kurz von Gripsholm weg, während sich jemand erhob. Eine Frau, die vom Gesichtsausdruck her die Adriani zu parodieren schien. Da war sie wieder! Aber keine kleine Ada weit und breit, die es zu beschützen galt.

Im Billardsalon "Köh" (Sophienstraße 6), einer Art Separee der Hackeschen Höfe, ging es gemütlich zu, obwohl alle Tische besetzt waren. Peter stellte wie beim letzten Mal fest, dass er schon eine Ewigkeit nicht mehr gespielt hatte. Wie ich. Das letzte Mal war ja auch mit ihm und vor gut einem Jahr. Oder waren es schon zwei? Und wie beim letzten Mal vor ein oder zwei Jahren lag ich manchmal vorn, verlor aber schließlich fast alle Spiele. Als wir vor zehn Jahren wider besseres Wissen Geld in Spielautomaten gesteckt hatten, wenn wir auf Kneipentour waren, lief es genauso: Peter drückte mir die Daumen - und gewann. Die Münzen wurden natürlich sofort in Bier umgesetzt.

Nach zwei Stunden Billard hatten wir genug und Hunger. Wir gingen ins "Monsieur Vuong", einem Indochina-Restaurant (Alte Schönhauser Straße 46). Auf der Homepage (www.monsieurvuong.de) ist das gleiche Foto zu sehen, welches in groß an einer der roten Wände hängt. Das sei der Besitzer, meinte Peter, ein Jugendbild des Herrn Vuong. Der war wohl mal asiatischer Meister in irgend einem Kampfsport gewesen. Unter den Gästen, die wie alle rund um den Hackeschen Markt nach Multimedia aussahen, entdeckte mir Peter den großen Asien-Kämpfer: ein freundlicher, älterer Herr, der genoss, was er so erreicht hatte im Leben. Er war sicher Ende sechzig. Das Wandbild kam mir jedoch so gegenwärtig vor, weil es einen selbstbewussten, zeitlos-modern gekleideten Mann mit ordentlichen Oberarmen zeigt. Aber das war wirklich einmal, bestätigte die Kellnerin, der Patron des Hauses, als ich ungläubiger Thomas sie danach fragte. Jedenfalls brachte sie uns zwei Flaschen vietnamesisches Bier. Das schmeckte nicht so gut wie das Fass-Beck´s aus dem "Köh", aber dafür war das Essen lecker. Wenn auch ... Ich hatte Nudeln mit Rinderfilet bestellt und die Kellnerin auf meine Koriander-Phobie aufmerksam gemacht. Aber als sollte ich dagegen geimpft werden, schmeckte ich doch drei Stückchen von dem Seifenkraut heraus. Eines versteckte sich sogar zwischen meinen Zähnen und ärgerte mich später noch einmal, als wir zu unserem Absacker ins "Strandbad Mitte" rutschten (Kleine Hamburger Straße 16). Und wir rutschten tatsächlich: Erst schlug ich bei der Glätte lang hin, später Peter. Dazwischen bewarfen wir zwei Mädchen mit Schneebällen, die damit schon ohne uns angefangen hatten. Welch ein Spaß!

Das "Strandbad Mitte" heißt einfach nur so, baden ist nicht, auch kein Strand. Aber an lauen Sommerabenden sitzt es sich nett davor. Und wer da nicht genauso gut verträumt auf Häuser wie aufs Wasser blicken kann, muss zwar nicht gleichgültig sein, bekommt in Sachen Phantasie aber trotzdem nur ein "Mangelhaft" von mir.

Im Winter sitzt man besser drinnen an der (Strand)Bar und trinkt einen Fingerbreit. Peter nahm Whisky, ich Wodka (im angeeisten Glas). Ich mag ja diese minimalistische Ästhetik des Hochprozentigen, dabei schmeckt mir das Zeug gar nicht. So ein Schnaps taugt mir höchstens einmal im Jahr zum Hinterkippen, nicht zum Genießen. Dafür lieber einen guten Wein. Was solls, ich plante wie jedes Jahr meine Angeltour(en) mit Peter und dachte, wie gut, dass wir noch nicht die alten Zeiten auswerten. Ich musste aber grinsen, als Peter nach ein paar Schlucken Whisky überzeugt behauptete, wir seien noch jung und die Welt stünde uns offen. Das klang nach spätpubertär oder frühreifer Midlifecrisis. Dabei geht´s uns beiden gut auf unserem beackerten Stück Land. Vielleicht sagte er deshalb das mit der offenen Welt, und vielleicht hatte er Recht damit. Wenn man sein "Land" nicht als Parzelle, sondern als Basiscamp betrachtet. Frau Adriani hatte ich jedenfalls vergessen. Ich war guter Dinge und bemühte mich gar nicht erst, zwischen all dem Zusammenhänge zu erkennen.

Montag, 17. Januar 2005

074 | Kreativpause

Über sieben Monate, die ich mich hier nicht mehr blicken ließ. Ich könnte sagen, ich hatte keine Zeit. Aber das wäre eine enttäuschende Rechtfertigung für die, die tatsächlich auf neue Tagebucheinträge gewartet haben. Deswegen möchte ich ein paar abenteuerliche Ausreden als Entschuldigung anbieten:

a) Ich befand mich in Indien, um die letzten Sinnsucher aufzufordern heimzukommen
b) Ich verdingte mich bei Harald Schmidt (Kreativpause!) als eine Art Eckermann mit Diktiergerät
c) Ich wartete nach "The Day after tomorrow" voller Depressionen im Bett auf das nahe Ende
d) Ich entwarf Pläne für einen Neuanfang
e) Ich versuchte einen Rekord im Riesenstein-den-Berg-Hochrollen (Abbruch nach 3 Monaten)
f) Ich lag 4 Monate wegen komplizierter Quetschungen und Zehenbrüche im Krankenhaus

Auf jeden Fall bin ich wieder im Spiel und füttere meine Flausen gerade mit Sonnenlicht und Meisengetschilpe.
Silvester war ich übrigens an der Ostsee: Lübecker Bucht. Ich hatte meine Habseligkeiten mit Seemannsgarn umwickelt und wartete in Grömitz an der Landungsbrücke auf ein Schiff, das kommen würde. Aber da waren nur Möwen, Schwäne fütternde Spaziergänger und Quallen im Flachwasser, die toter Mann spielten. Und es nieselte. Schließlich machte mich der Glühweingeruch aus einer Promenadenbude wieder zur Landratte. Eine Tüte Mutzen und drei Tassen mit Schuss, um den Jahreswechsel zu versüßen. Aber auf dem Schiff hätte es Rum gegeben, dachte ich mit glasigem Blick zum Horizont, Rum und Salzheringe mit Schiffszwieback. Wenigstens spürte ich allmählich das Mereswogen unter mir. Doch als ich an das Seebeben vor Sumatra dachte, war es aus mit der Seemannsromantik. Ich gab die letzte Glühweintasse ab und fuhr nach Berlin zurück.
Das inszenierte Leben aus Anspruch und Langerweile hatte mich wieder.
In der U6 gab es eine Schlägerei von Jugendlichen. Wie routiniert doch die übrigen Fahrgäste das Abteil wechselten. Zwei Stationen später standen vier weitere Idioten auf dem Bahnsteig (Alter und IQ lagen zusammen bei etwa 75). Sie schabten sich mit aufklappbaren Rasiermessern Muster in die ohnehin kurzen Haare und sahen aus, als hätte man Araber und Skinheads in einen Topf geworfen und einmal zu kräftig umgerührt.
Ungerührt fuhr ich weiter, zum "Sushi Circle" in der Französischen Straße. Immer wieder gut dort, wenn sie bei "All you can eat" auch die Preise angezogen haben (15,99 statt 13,99). Freunde, die mich begleiteten, meinten, das könne durchaus an meiner Gefräßigkeit liegen. Ich wollte widersprechen, hatte jedoch den Mund voll.
Hinterher kullerten wir alle wie gut gefüllte Maki-Röllchen ins Kino, um uns ironischerweise "Die fetten Jahre sind vorbei" anzusehen, mit Daniel Brühl aus "Goodbye Lenin". Nach anfänglicher Skepsis (Propagandagefahr und Wackelkamera) gefiel mir der Film immer mehr. Wegen der Mischung aus Ernsthaftigkeit und Humor. Es ging nicht vordergründig um Terrorismus (gegen Globalisierung und die "Diktatur des Kapitals"), sondern um Aufrichtigkeit und die Aufrechterhaltung von Idealen. Der Film war nicht nur spannend und machte Spaß (auch wegen der Unvorhersehbarkeit), er war auch Anstoß, den eigenen Lebensplan wieder zu hinterfragen ("Bin ich spießig geworden? Wie wollte ich leben? Wie lebe ich jetzt?"). Und sein Leben hinterfragen sollte man so regelmäßig wie prophylaktisch zum Zahnarzt gehen.