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Donnerstag, 21. Februar 2002

011 | Jüdisches Museum

Im "Tagesspiegel" hieß es gestern oder vorgestern in einer Randnotiz, dass irgendwer moniere, dass irgendwie zu viele Ausstellungsgegenstände im neuen Jüdischen Museum zu sehen seien. Direkt erschlagen würden sie einen, hieß es. So viel museale Brutalität wollte ich mir gerne antun, und das nicht erst seit gestern oder vorgestern. Also fuhr ich heute hin.
Mein erster Eindruck: gut, wichtig, längst überfällig! Und übersichtlicher als die Zeitungsnotiz vermuten ließ. Zugegeben, einige der kostbaren Wände wirkten schon ein wenig exhibitionistisch. Zum Ausgleich gab es von Herrn Liebeskind jedoch gewollte architektonische Leerräume. Um die Fülle an Informationen zu verarbeiten und sich gern verdrängte Fernsehbilder des Schreckens in Erinnerung zu rufen. Doch mir ist ein ausgefülltes Bücherregal allemal lieber als eines, das sparsam und vordergründig nach ästhetischen Kriterien eingerichtet wurde.
Dieses besondere "Regal" deutscher Geschichte ist beides und enthält sogar eine 3D-Animation über Wormser Juden vor 1000 Jahren. Das Highlight eines zeitgemäßen Multimedia-Aufgebotes der unaufdringlichen Form.
Damit müsste man so sicher wie beim Einmaleins in der Lage sein, vor allem bei Schülern das zu erreichen, was Geschichtslehrern nur unzureichend gelingen kann. Dachte ich anfangs. Bis mich kichernde Teenager auf der Suche nach dem ultimativen nächsten Spaßfaktor eines Besseren belehrten.
Mag sein, dass ich gerade so altväterlich wie die Aufklärer um Mendelsohn und Co. Klinge. Aber es ärgerte mich tatsächlich, weil von den unwissenden Vertretern der TV-Talk-Generation wieder bloß Bilder konsumiert wurden, statt vor Ort Hausaufgaben zu machen. So wünschte ich mir auf dem Weg zum Holocaust-Bereich tatsächlich die schockierendsten Fotos, um die Nachgeborenen wenigstens einmal betroffen zu sehen. Wenigstens das! So wie nach "Schindlers Liste" oder dem 11. September, bevor aus der Teenager-Betroffenheit Koketterie oder Ironie und daraus dann Ignoranz wurde.
Aber was ich am Ende vorfand, ist ein sorgsam konzipierter Raum, an dem es nichts auszusetzen gibt. Gestaltet nach der Binsendevise: "Weniger ist mehr!" Was den im "Tagesspiegel" zitierten Herrn beruhigen muss, wenn er diese Weisheit nicht gerade aufs Schülerwissen bezieht.

Dienstag, 5. Februar 2002

010 | Hagen/Rügen

Zum Strandjogging bin ich hier nicht gekommen, dafür zum Wandern, was mehr als Spazierengehen bedeutet. Heute, an meinem letzten Tag, fuhr ich zum Kreidefelsen, genauer: zum Königsstuhl. Kreidefelsen gibt es nämlich einige. Und die sind grauer und bröseliger, als ich dachte. Hatte wohl immer Schultafelkreide im Hinterkopf.
Das Wetter war stürmisch und sah ständig nach Regen aus. Aber das machte nichts, denn von den beiden letzten Tagen lässt sich noch lange zehren. Außerdem passte die nordische Witterung zur schroffen Küste. Das Auto musste ich gut 3 km vor der Aussicht stehen lassen, wobei der Fußmarsch die Parkgebühr ordentlich erhöhte. Überhaupt wird hier für alles Mögliche Geld genommen, selbst für den Blick vom Königsstuhl. Aber was haben die Küstenbewohner sonst schon? Nur ihren Fisch und ihre Touristen. Aber davon lässt sich mitlerweile ganz gut leben.
Für mich war interessant festzustellen, wie sich mein Blick für Fotomotive verschiebt: Suchte ich anfangs witzige Bildgegenstände mit Schnappschussformat und ging dem Postkartenkitsch aus dem Weg, fühle ich mich nun vielmehr wie ein Caspar David Friedrich mit Digi-Cam. Hier eine Krüppelkiefer vor dem Abgrund, da eine vom Sturm entwurzelte Buche. Sehr schön. Und immer etwas von den Felsen im Hintergrund. Romantisch schwer und altväterlich pathetisch. Dabei ist mein Herz trotz des Aufstiegs vom Strand leicht wie eine Möwenfeder. Mein Magen allerdings auch.

Montag, 4. Februar 2002

009 | Hiddensee

Vor mindestens 10 Jahren wollte ich hier her. Keine Ahnung, warum es damals nicht klappte. Ich weiß auch nicht mehr, wer mitkommen wollte. Wir waren jedenfall eine kleine Gruppe, deren Leidenschaft für romantische Spontanvorhaben ausgereicht hätte, um bis nach Sizilien und zurück zu marschieren. Wir wollten uns abends am Strand Storm-Novellen vorlesen, weil der uns näher stand als Hauptmann, und aus einer geleerten Flasche Wein eine gelehrte Flaschenpost machen. Aber irgendwer konnte dann doch nicht. Vielleicht sogar ich. Das zum Thema Spontanität. Heute ist das anders, obwohl ... Hätte ich meinen Hintern heute Vormittag noch etwas schwerer aus dem Bett gekriegt und mich dann nach den Fährzeiten erkundigt, wäre es sicher wieder nichts geworden. Dadurch hatte ich bis zur letzten Fähre von Neuendorf nach Schaprode gerade mal dreieinhalb Stunden Zeit für die Insel. Von den Pferdekutschen, der neben Rädern einzigen Fortbewegungsmöglichkeit, sah ich derweil nicht eine einzige. Aber ich bewegte mich auch erst am Weststrand und dann durch die Heide vorwärts. Nur hier und da eine reedgedeckte Fischerkate und dahinter der Leuchtturm von Dornbusch. Steht auf einem Schild vor den Häusern: "Frischer Sanddornlikör", dachte ich, werden dort Einheimische wohnen. Steht davor: "Privatbesitz. Betreten strengstens verboten!" werden es gestresste Künstler aus Berlin sein, die hier ihren Fluchtpunkt haben. Zäune sah ich indes kaum. Nur fleißig aufgehängte Wäsche versperrte den Blick ein wenig, machte das Gesamtbild jedoch stimmiger. Neben den Haustüren sind runenartige Zeichen befestigt, als wohnten dort nur Steinmetze oder Wikinger.
Der Wirt aus dem "Godewind" in Vitte erinnert allerdings eher an einen gemäßigten Altachtundsechziger. Sein Lokal ist urgemütlich. Etwas Pub-Atmosphäre mit regionalem Einschlag. Viel dunkles Holz, Kupfer, helle Fenster und: Ledersessel! Besseren Luxus konnte ich mir nach meinem zügigen Marsch von Neuendorf nicht denken. Und der zum Wernesgrüner servierte saftige Dorsch hätte mich beinahe verleitet, die Tickets für die letzte Fähre unter den Tisch fallen zu lassen.

Sonntag, 3. Februar 2002

008 | Binz/Rügen

Während heute Nacht in Britanien ein Sturm tobte, schlief ich wie von sanften Wellen gewiegt. Ganz nach der Binsenweisheit, dass Seeluft müde macht. Der Morgen erschien strahlend. Es wurde einer der seit 100 Jahren wärmsten Februartage. Am Strand und auf der Promenade flanierte behagliche Bürgerlichkeit. Nur die stimmbrüchig frotzelnden Teenies vor dem Kurhotel erinnerten wieder an das Leben außerhalb der Idylle. Ich wanderte gut 4 km nach Prora, einer unvollendeten "Kraft-durch-Freude"-Geisterstadt mit späterer NVA-Okkupation, was den Komplex also auch nicht gerade mit Leben erfüllte. Jetzt ist allerdings der Hochgeist in einige Räume gezogen, in Gestalt von Ausstellern oder Künstlern wie dem Maler Klaus Böllhoff. Den Bohemian erkennt man sofort am orangen Filzhut und den braunen Zähnen. Das Gespräch mit ihm ist angenehm entspannt. Irgendwie erinnert er mich an Beuys. Seine und die Bilder unterschiedlichster Herkunft lassen sich im menschenleeren Erdgeschoss gut betrachten. Ich stelle immer wieder fest, dass sich diese Reise gelohnt hat. Nach dem Kunstgenuss Fotoshooting am lieblichen Strand. Dann handschmeichelnde Steine übers in sich ruhende Wasser werfen und vor Freude hüpfen lassen, auf Mauerruinen klettern, in die Seebrücke eingeritzte Verewigungen lesen und – wie immer vergebens – in Bernstein eingeschlossene vergangene Träume suchen ... Wenn die Seele baumelt, feiert das Kind Auferstehung. War es Ringelnatz, der meinte, die Möwen müssten alle Emma heißen? Sie kreischen noch vor Glück, selbst wenn der Tag geht. Und sie begeistern sich wie ich nach langem wieder für einen pinkfarbenen Sonnenuntergang.

Samstag, 2. Februar 2002

007 | Binz/Rügen

Wenn man sich meine Online-Tagebucheinträge durchliest, könnte man meinen, ich wäre einer jener Daily-Soap-Typen, die für ihren steten Spaß nie arbeiten müssten. Das ist selbstredend nicht so. Leider. Aber deshalb musste ich mal raus aus der Stadt, Ostseeluft schnuppern. Egal wohin. Also Rügen. Die B96 hoch und aufs Geratewohl nach Binz. Das Ostseebad hatte mit Kindheitserinnerungen als Resonanzkörper den besten Klang. Alles weiß, schick und sauber. Mit dem erstbesten Haus gleich Glück gehabt: Pension "Binzer Fischerstübchen" mit angebundener Fischgaststätte. Strandpromenade 64. Für 30 Euro die Nacht absolute Gemütlichkeit und vom Balkon aus etwas Meeresblick.
Kleinen Einkauf fürs Wochenende und – da die hauseigene Gastwirtschaft heute zu hat – ins nächstbeste Restaurant: "Poseidon", in der vertraut klingenden Lottumstraße. Nur der Griechengott passt irgendwie nicht. Genauso wie meine pralle NEUKAUF-Tüte, was aber dann doch egal ist. Hier hat schon Politprominenz von v. Weizsäcker bis Merkel geschmaust, steht in der Karte. Trotzdem ganz anheimelnd, und nur das beeindruckt wirklich: Auarien zwischen lindgrün lasiertem Holz und sparsam arrangiertem Ostseemythos. Der Kellner ist allerdings ein etwas zu lauter Lafer des Nordens. (Der Mann am Nachbartisch ordert ihn unsicher antiquiert mit: "Herr Ober!") Wenn seine schablonenhafte Hofierung der Gäste persönlicher und dennoch distanzierter wäre, wäre es perfekt. Das kleine Glück vor mir ist es zumindest: gebratene frische Flundern mit Bratkartoffeln. Dazu ein Jever vom Fass. Herz, was willst du mehr!