Seiten

Donnerstag, 31. Oktober 2002

041 | Halloween und etwas behindert

Pünktlich zu Halloween und einen Monat nach dem Berlin-Marathon humple ich wie die Inkarnation Quasimodos durch die Straßen Berlins. Sogar ein wenig farblos im Gesicht. Würde Mutter sagen. Ich aber sage jedem, der danach fragt, mit dem stoischen Heldenmut eines Kriegsveteranen: „Meniskus“. Mehr Worte bedarf es nicht. Doch es ist Halloween! Also setze ich was von „Kernspin(n!)tomographen“ nach (Mich faszinieren diese Fachtermini!) und einer „möglichen Operation“. Was nichts Besonderes ist unter uns Kriegsveteranen, Profifußballern und Sonstwiehelden.
Fragt mich jedoch einer, wie es passiert sei, winde ich mich: „Es war ..., also ich ... wollte auf einen Tisch ... für ein Gruppenfoto ... --- Und kam nicht rauf.“
Aus die Maus. Nix mit Held. Ironisches Grinsen statt penetranten Mitleids. Schnell weiter. Gehumpelt. Zum Beispiel den laufstegartigen U-Bahngang „Stadtmitte“ entlang. Durch die immer präsente melancholische Schifferklaviermusik eines Russen wirkt der Weg zwischen der U6 und der U2 beinahe metaphorisch. Deshalb bewahre ich meinen aufrechten Gang und blicke stolz in neugierige Gesichter. Weil Stolz immer das Letzte sein sollte, was vor die Hunde geht. Aber ich habe gut reden, ich bin ja nur ein Behinderter auf Zeit, ein Kriegsveteran ohne Waffe, ein Fußballspieler ohne Ball ... Und dennoch ein Mensch.
Was nährt den Stolz, wenn man von der Selbstüberhebung absieht? Potentiale? Der bereits auf einzigartige Weise zurückgelegte Weg? Schmerz negiert das Sein zu Schein, den wir aufrecht(er)halten, solange es geht. Absehbare Schmerzen können einem sogar wie Orden gut zu Gesicht stehen, die man (er)trägt, die man im Griff hat, so Muskelkater & Meniskusrisse.
Warum aber die Schmerzen, die dich beherrschen können, dir das Mark, den Willen zum Leben aus den müden Knochen saugen? Warum die Schmerzen, die in ihrer Intensität und lebenslänglichen Unendlichkeit zynischerweise verlässlich sind?
(Vorhin telefonierte ich mit meiner Großmutter, die bereits den Tod anbetet, weil ihr Glaube an das Leben nachlässt wie die Wirkung ihrer Schmerzmittel.)
Was ist schlimmer: seelischer oder körperlicher Schmerz? Beides lässt sich wohl nicht wirklich vergleichen. Der Vergleich wird immer – wie ich gerade – hinken. Wer seelisch leidet, hat keine Ahnung mehr von stechenden, bohrenden, hämmernden körperlichen Qualen. Und umgekehrt genauso: Dem äußerlich Verstümmelten muss jede Art innerlicher Verluste wie ein bloßes Konversationsthema vorkommen. Nur der wahnsinnige Wunsch nach Erlösung ist allen Leidenden so gleich wie das Unvermögen, sich an vergangene Schmerzen genau zu erinnern.
Doch genug gelitten. Zurück ins Leben und zurück zu Halloween: Halloween regte mich im Grunde stets auf. Halloween in Deutschland, wo es sich über die letzten Jahre wie ein Kürbis auswuchs. Weil die verkleidete Bettelklingel-Tradition eine moderne Leihgabe amerikanischer Filmkultur ist. (Aber, aber, wer wird denn im toleranten Berlin so spießig denken? Lass doch die Kinder. Ihre Eltern verkleiden sich schließlich auch, wo sie können, und eifern sonst wem nach.) Ja, ich weiß, dieser infantile Firlefanz bringt auch noch etwas Schwung in die von allen Heiligen verlassene Wirtschaft. Und von daher ist es immer gut, wenn die kleinen Geister, die ihre Eltern schon mal „Mom“ und „Dad“ nennen, dafür sorgen, dass der Euro beim Einzelhandel rollt. Nur wer sind hier die Trendsetter? Sie oder clevere Wirtschaftsstrategen? Was war zuerst da: der Kürbis oder die Kerze? Vorhin rannten 7 Kinder an mir vorbei, von Tür zu Tür. Blass- und blutiggeschminkt, mit gruseligem Bonbonblick „Süßes oder Saures!“ rufend. Sie waren wie die grotesken Personifizierungen unserer Schicksale: „Süßes oder Saures! Süßes oder Saures!!“ Und wie meinte schon Forrest Gump: „Man weiß nie, was man kriegt.“ Das hätte aber auch Konfuzius sagen können.

Sonntag, 27. Oktober 2002

040 | Noch 'ne Party

Gestern war ich zu einer Wohnungs-Einweihungsparty geladen. Mehr so ein ruhiges sit in. Die Schuhe konnten angelassen werden. Keine Selbstverständlichkeit bei Einweihungsfeiern. Obwohl es um 21.00 losgehen sollte, kam – wie immer - vor 23.00 kaum jemand. Verstehe ich nicht. Man hätte doch viel mehr von einer längeren Nacht. So macht mich das Warten müde und jeder Neuankömmling wird – statt mit Neugierde - mit dezentem Gähnen begrüßt. Was machen die Leute überhaupt so lange zu Hause? Wenn ich die Zeit vor dem Fernseher überbrücken will, komme ich von Stunde zu Stunde immer schwerer hoch.
Na immerhin hatte ich um 22.00 das Vergnügen, mit 8 Frauen in der Küche zu sitzen und sie zu belauschen:
Eine interessierte sich für die erleuchteten Hof-Fenster des Nachbarhauses. Mit einem Fernglas, sagte sie, könne man da abends wunderbar reinschauen. Aha. Sehr aufschlussreich. Es wurde sich über Jobs & Wirtschaftskrise unterhalten, aber auch über Netzstrumpfhosen, Frisuren, Klatsch & Tratsch. Natürlich lassen sich Frauen nicht auf diese Klischee-Themen reduzieren, aber diese Themen haben für Frauen offenbar den großen Unterhaltungswert, den man ihnen nachsagt. Auch wenn es nicht für alle Frauen zutrifft. Gespräche über Fußball und Autos interessieren mich ja auch nicht, wohl aber die meisten Männer.
Eine der Frauen trug ein schwarzes Motörhead-T-Shirt, sah sonst aber nicht nach Schwermetall aus. Auf meine Frage, ob sie Motörhead höre, sah sie mich verständnislos an. Motörhead hören? Sowas gehe doch gar nicht. Nein, aber das Logoprint gefalle ihr. Ich verstand. Sie war Designerin. Die Gastgeberin – aus dem westlichsten Westen des Landes – erklärte nicht ohne Stolz, wo sie ihre 70er-Jahre-Ostalgie-Möbel herhabe. So so. Eine Lampe erkannte ich von früher wieder. Wie ein vertanes Foto aus Kindertagen. Eine werdende Mutter naschte sich durch Pizza, Couscous und Nachos, zwei Freundinnen sabberten bei jedem Klingeln nach potentiellen Männern. (Kein neidischer Machospruch von mir, sondern das Zitat einer Frau.) Und der Mann, der nach mir kam, führte sich wie ein Hybride aus Hahn und Hirsch auf, bis er als uninteressant geschnitten wurde. Bessere Männer zogen später nach und einige Frauen wie Magnete aus der Küche ins Wohnzimmer ab. Oder sie blockierten gemeinsam den engen Korridor dazwischen. Wer sich zum Bad durcharbeiten musste, sah aus wie ein praktizierender Tai Chi-Anhänger. Wenn er oder sie nicht gerade über ein Glas zuviel stolperte. Und der Sitzplatz war dann weg. Ich auch gegen 2.00. Wie bei der „Reise nach Jerusalem“. Warum eigentlich nach „Jerusalem“?

Sonntag, 20. Oktober 2002

039 | Shoppen

Gestern war ich wegen einer neuen Hose, Schuhen und Büchern unterwegs. Und weil ich herausfinden wollte, was der Unterschied zwischen "Shoppen" und "Einkaufen" ist.
Wenn es für die ideale Zielgruppe zwanzig- bis dreißigjähriger unverheirateter Großstädter einen Shoppingtag gibt, heißt er Samstag. "Samstag" klingt frischer als "Sonnabend", "Samstag" ist Tagesmagie pur, "Samstag" ist die Zeit bis zur sonnabendlichen Mitternachtsparty, die sich beim Shoppen besser als mit Hausarbeit überbrücken lässt, zumal die Geschäfte oft bis 16.00 Uhr aufhaben. Vorheriges langes Ausschlafen und ein kurzes, aber entspanntes Frühstück vor dem Fernseher verstehen sich von selbst. Brunchen gehen ist schlecht, weil durch die vorzeitig einsetzende Selbstzufriedenheit der Tag dann schon irgendwie gelaufen ist.
Nach dem Frühstück beginnt der entscheidende Teil in der Vorbereitung: Paare müssen trotz Morgenmuffligkeit rücksichtsvoll sein und dürfen sich nicht in die Haare kriegen. Sonst hat es sich schon am Anfang ausvergnügt. Und weil Männer erfahrungsgemäß eher Zweck- als Lustkäufer sind, bemühen sich in erster Linie deren Frauen um gute Stimmung. Einige wissen, dass sich der Einsatz am Ende bezahlt macht. Nicht weil der Mann am Ende bezahlt (Wo leben wir denn!), sondern weil er schlichtweg mal wieder dabei ist. Andere verzichten eben deshalb auf die Begleitung ihres schnell überfordert und zerstreut wirkenden Schattens, der von ihrer Typberatung so viel versteht wie von ihrem Innenleben. Also ziehen diese Frauen lieber alleine oder mit der Freundin los, nachdem sie sich bei Musik ausgiebig geduscht, vielleicht ihre Intimrasur erneuert, sich vor dem Spiegel geschminkt, gestylt, gedreht haben. Denn Frauen müssen sich vor der großen Shopping-Tour schön finden, sonst wird das nix. Sie müssen sich schließlich bei den unzähligen Spiegeln der Klamottenläden gern begegnen. Und wer sich gerade selbst nicht mag, verwöhnt sich lieber gar nicht und bleibt auf jeden Fall zu Hause.
Shopping ist eine Art Vorspiel für die Seele, der Kauf als Höhepunkt wünschenswert, muss aber - anders als bei den meisten Männern - nicht sein. Kommt sie anschließend wieder nach Hause und er fragt, was sie "eingekauft" habe, schüttelt er nur den Kopf, wenn sie "nichts" sagt, und dabei ergänzt: "Es war trotzdem schön ..." Das ist der Unterschied. Zwischen "Shopping" und "Einkaufen", zwischen Männern und Frauen. Ausnahmen bestätigen das. Doch welche Frau kommt schon ohne Plastiktütchen heim.
Die nettesten mir bekannten Läden Berlins gibt es am Hackischen Markt. Bei "Jimmy´s" (Oranienburger Str. 8) bekommt man nicht nur eine kompetente Beratung wie im "Hotel" nebenan, sondern auch schon mal ein Glas Prosecco vom Chef. Und das nicht bloß nach dem Kauf. Überhaupt ist von Kaufzwang nichts zu spüren. Man nimmt sich Zeit für die Kundschaft, ist entspannt und versteht sich nicht bloß als Verkäufer. Dagegen muss man in Konsumtempeln wie H&M, dem IKEA der Bekleidungsindustrie, häufig lange anstehen, will man in eine Umkleidekabine, oder findet in selbiger einen ganzen Fundus nicht weggehängter Klamotten vor. So erlebt in der Friedrichstraße. Das Personal war offenbar überfordert und machte den Laden bereits um 15.45 Uhr dicht. Dafür stand DUSSMANN bis 22.00 Uhr offen. Wer wie ich noch nicht genug hatte, fand sich vor den CD- und Bücherregalen ein. Nur ein kleines Mädchen war übermüdet und weinte auf dem Arm des Vaters, während sich eine lächelnde ältere Dame nach dem "Glücklichen Massenmord" oder so erkundigte.
Als auch bei DUSSMANN die Pforten schlossen und ich mich zu Hause längst bei Tagliatelle und Prosecco erholt hatte, raffte ich mich noch einmal fürs Kino auf. "Halbe Treppe" kam, einer der Low-Budget-Gewinner auf der letzten Berlinale. Gedreht im Stile von Doku-Soaps und Dogma-Filmen (wackelnde Handkamera!).
Es ging um die eingeschlafenen Beziehungen zweier Ehepaare aus Frankfurt an der Oder. Die Schauspieler waren brillant, die Dialoge teilweise improvisiert. Am Ende des Films gab es Applause und stille, glückliche Gesichter im Publikum. Weil es nichts auszusetzen hatte. Da war echte Tragik, komische Tragik und tragische Komik. Hier und da ein wenig Hoffnung und Erfüllung. So wie das Leben eben oft zwischen zwei Shopping-Touren.

Samstag, 12. Oktober 2002

038 | Letzter Tag

Gestern bin ich noch einmal durch den Kaiserstuhl gedüst. Alle Örtchen mehr oder weniger lauschig, herausragend keiner. Bemerkenswert vielleicht nur der jüdische Friedhof außerhalb Ihringens. Eine weiße Mauer um ein kleines Areal inmitten der Weinberge. Der Eingang verschlossen, die Grabsteine mit dem Rücken zum betrachtenden Auge. Abgewandt. Über eine jüdische Gemeinde stand nichts in meinen Reiseführern. Ganz klar. Mir fiel das alte Familienfoto meiner Wirte ein: darauf ein Mann mit Hitlerbärtchen.
Vor dem "Kräuterladen" von Burgheim zwei Reisebusse, innen ein unerträgliches Duftgemisch: Duftkerzen, Duftöle, duftende Trockenkräuter für die ausschwärmende Zielgruppe unzähliger Senioren. Zwischen Büchern, Kirschkernkissen und Zimmersprudlern wurde nach dem volkstümlichen Wissen der Großmütter genauso gesucht wie nach neueren Esoterikversprechen. Hauptsache es hilft, die jahrelang vernachlässigte Gesundheit zu sanieren. Das fette Essen, die Zigaretten, die Bewegungslosigkeit. Bloß drei Männer saßen stoisch draußen und sahen ihrem Schicksal illusionslos entgegen.
Um den Kopf wieder frei zu kriegen, machte ich in der Dämmerung einen Spaziergang zum Rhein. Vorbei an Gartenastern, Apfelbäumen, überreifen Maisfeldern und einer von Wildschweinen zerwühlten Auenlandschaft. Ein Herbstgedicht Georg Trakls kam mir in den Sinn. Im vergehenden Licht noch ein letzter Blick nach Frankreich, dann kehrte ich um. Es war Zeit, wieder nach Berlin zu fahren.
Letztendlich bleibt für mich das Ländliche Provinz, wo die Zeit für den Städter kurzzeitig inne hält, aber langfristig verrinnt, nur anders als in der Stadt, in der noch mehr wächst außer Flora und Fauna. Wo man besser lebt, ist nicht pauschal zu sagen. Das wechselt von Person zu Person und von Zeit zu Zeit.
Nach wenigen Stopps kam ich heute Abend wieder in Berlin an. Die Stadt war nur äußerlich kalt. Und der Schnee, der für morgen angesagt ist, wird mich nicht davon abhalten, schon Sonntagmittag um die Häuser zu ziehen. Vielleicht gehe ich wieder mal irgendwo brunchen, wo ich noch nicht war und wo ich in Ruhe die Tage bis zum nächsten Frühling nachzählen kann.

Donnerstag, 10. Oktober 2002

037 | Weil und Basel

Weil am Rhein ist eine Stadt und keine Konjunktion. Sie hat aber durch ihre Grenzlage zur Schweiz eine ähnlich verbindende Bedeutung. Wer wie ich nicht direkt bis Basel durchfährt, kommt mit Sicherheit wegen des Vitra-Design-Museums. Ich hatte Glück und konnte an einer anderthalbstündigen Führung teilnehmen. Hauptschwerpunkt: die Architektur der Gebäude auf dem Gelände der Büroausstattungsfirma. Das eine verspielt wie das Guggenheimmuseum in Bilbao, das andere streng-sachlich, errichtet nach japanischen Zen-Prinzipien. Viel Beton und Glas, und bis zur Ungemütlichkeit auf das Wesentliche beschränkt. Das Wesentlichste aber befand sich hinter eben diesen Mauern: Stühle. Industriell gefertigte Designerstühle des 20. Jahrhunderts. Für jedes Jahr gab es einen Stuhl. Numeriert und wie in einem riesigen Setzkasten-Regal ausgestellt. Bequemlichkeit neben revolutionärer Innovation, Kurioses neben Zeittypischem. Zeitloser, aber nicht weniger kurios waren die Besucher. Viele verklärte Blicke, die eine gewisse Lebensfremdheit verraten, darunter das eingefrorene Dauerlächeln pensionierter Gymnasiallehrer. Alles sehr nett, alles sehr schön. Nur eine ältere Dame musste kundtun, dass ihr von den schrägen Wänden "ganz schwindlig" wurde.Eine andere fand die Architektin des Ganzen sogar "erschreckend konsequent". Gott sei Dank verlor sich irgendwann alles in einer Ausstellung von Ingo Maurer. Lichtobjekte mit dunklem Sinn für Ironie, auf zwei Etagen verteilt. Nicht alles mein Fall, aber eine Wohltat nach den unzähligen Fachwerkhäusern und Münstern der letzten Tage. Hätte ich geahnt, wie anstrengend der Baseler Straßenverkehr ist, ich wäre noch ein wenig länger geblieben ...
Basel, die geschäftstüchtige Stadt, scheint ordentlich zu sparen. An Ampeln und Vorfahrtszeichen. Dafür gibt es jede Menge Zebrastreifen und Straßenbahnen. Auf der Suche nach einem freien Parkhaus rollte ich auf eine Kreuzung, sah nach rechts und überlegte, wer zuerst dürfe, als von links - wie hinterhältig - die Straßenbahn kam. Der Stress! Berlin ist Erholung dagegen. Das Parkhaus erschien als rettende Insel. Dachte ich. Falsch abgebogen, nur für Kurzparker. Macht schon mal einen Schweizer Franken, den ich noch nicht hatte (wie einfach ging das da in Frankreich). Also den Franken besorgt, bezahlt, wieder raus und wieder rein. - Mir kam das eingefrorene Besucherlächeln in den Sinn - Dann öffnete sich eine Art Tresortür. Aber ich wollte doch nur ... Geschafft. Irgendwie war ich irgendwo in der Tiefgarage eines Hotels gelandet. Egal. Bis zum Nachspiel 3 Stunden und 8,- Schweizer Franken später: Statt mich rauszugeleiten führte der einzige Weg in die nächste Tiefgarage. Ich konnte aber die Visa-Card einschieben und - die Schranke öffnete sich, die nächste auch. Das war die Hauptsache. Keine Ahnung, ob und wieviel Geld abgebucht wurde.
Und sonst? Ein weiteres Münster, ganz klar, doch mit erwähnenswertem romanischem Grundbau. Der Blick auf den erstaunlich breiten Rhein, viele Brunnen, Banken, Geschäfte. Und Maroni-Röster, wie andernorts Wurstverkäufer. Viele Mädchen, die (wie überall) im Viererpack zu McDonald´s oder H&M pilgern, wenn sie keine Maronen mehr sehen können. Und eben die Straßenbahnen, die offenbar so zahlreich eingesetzt werden, um die Schweizer von ihrem Phlegma zu befreien. Ich hingegen darf mich diesem nach ein paar Stunden in Basel getrost hingeben.

Mittwoch, 9. Oktober 2002

036 | Schwarzwaldtour

Heute Mittag, als sich der Nebel verzog, ging es richtig rein ins Postkartenidyll. Durchs Glottertal Richtung Furtwangen. Bewaldete Berge hüben und drüben, dann Serpentinen ohne Ende. Wer hier wohnt, dem scheint es gut zu gehen, nicht nur der Landschaft wegen. Die Sonne strahlte auf Herbstlaub und grüne Matten. Einmal drei Ziegen auf der Straße, verließen sie aber ohne zu meckern. Und vor einer der Kurven ein Schild: "Halt wegen Räumung nach Steinschlag bis zu einer halben Stunde". Unwillkürlich sah ich nach oben. Nichts. Geradeaus eine rote Ampel, davor ein Straßenarbeiter: orange Jacke mit Reflektorenstreifen und linkisch debilem Gesichtsausdruck. Er deutete mir an, den Motor auszumachen. Ich machte. Und genoss kurzzeitig die Stille. Zwei Minuten später eine Anweisung über sein Funkgerät. Der Mann begann ferngesteuert und doch manuell die Ampel auf gelb zu schalten. Eben per Knopfdruck. Dann suchte er offenbar den für grün. Fand ihn nicht. Ich grinste. Er, noch mit dem Rücken zu mir, schien das zu spüren und begann, mich unwirsch durchzuwinken.
Später im sogenannten "Hexenloch". Eine wasserbetriebene Sägemühle in einer touristisch erschlossenen Schlucht. Wer seinen Kaffee getrunken hat, kann sich an einem kleinen Fleischstand im Inneren Schwarzwälder Schinken, Blutwurst oder "Landjäger", kleine Dauerwürste, kaufen. Oder es sein lassen. Wer für Kitsch zu haben ist, sieht sich im Kellerraum zwischen jeder Menge Kuckucksuhren um. Handarbeit versteht sich. Na da. Ein Blick auf die Preise und ich wanderte mit Müllers Lust den Wildbach entlang. Dazu war ich hergekommen. Die Landschaft erblühte beinahe frühlingshaft unter dem schönen Wetter. Hier ein paar Blüten, da noch ein später Schmetterling. Weitere lustige Wanderer sah ich die nächsten 10 km kaum. Zum Glück. Dafür fand ich ein paar prächtige Birkenpilze.
Bevor ich mich am Spätnachmittag wieder auf den Heimweg machte, fuhr ich einen kleinen Umweg nach Triberg, wo Deutschlands größter Wasserfall (162 m) tost. Superlative sind eben wie Magnete. Im Sommer fällt das Wasser allerdings nur gegen Entgelt für Besucher. Den Tribergern selbst bescherte das Ganze aber bereits vor 120 Jahren die erste elektrische Straßenbeleuchtung Deutschlands. Wieder ein Superlativ? Na so ähnlich. Das Naturschauspiel an sich beeindruckt jedenfalls. Und ich honorierte es mit zwei Fotos, bevor ich zurückfuhr, um mir die Pilze zu braten.

Dienstag, 8. Oktober 2002

035 | Über Sessenheim nach Straßburg

Bevor ich mich in die Stadt begab, die mit dem Etikett "Sturm und Drang" behaftet ist und wo sich Goethe, Herder und Lenz kennen lernten, fuhr ich 40 km an ihr vorbei, nach Sessenheim. Aus romantischen Gründen. Hierhin wurde nämlich 1770 der junge Frankfurter Schnösel Goethe von einem Freund mitgenommen, hier lernte er die Pfarrerfamilie Brion kennen und die Tochter Friederike lieben. Goethe galt 1 Jahr als ihr Verlobter, war mit seinen 21 Jahren deutschlandweit ein Niemand und wurde von den Sessenheimern doch in guter Erinnerung behalten, als er sich irgendwann wieder nach Frankfurt fortstahl. Friederike, ein schönes Kind mit dicken blonden Zöpfen, inspirierte ihn zum "Mailied", zum "Heidenröslein" und zu "Willkommen und Abschied", meinem Lieblingsgedicht aus dieser Zeit.
Als der heute kaum noch bekannte Lenz Friederike über Goethes Weggang trösten wollte, hatte auch er nur das Nachsehen. Denn wo ein Goethe war, konnte kein anderer landen. Friederike blieb, bis sie mit 61 Jahren starb, ledig.
Von dem Pfarrhof, den Goethe wie in Eile zeichnete (da das Wetter und Friederike zum Spaziergang lockten), gibt es noch die alte Scheune. Weil der Poet sich einmal bei der Maisernte nützlich machte. "Goethescheune" heißt sie demnach heute. Ein deutsch sprechender Mann, welcher das dazugehörige Haus verließ (vielleicht der heutige Pfarrer), sah mich schulterzuckend an, als ich mich nach der Scheune erkundigte. Es sei nur eine Scheune, sagte er, da gäbe es nichts weiter zu sehen. Ich wusste, dass er Recht hat. Und dennoch.
In dem verträumten Ort, wo Haus und Hof märchenhaft lieblich anmuten und die Einwohner selbst Fremde mit "Bonjour" begrüßen (es könnte ja wieder ein Dichter unter ihnen sein), gibt es auch eine Goethestraße und eine Friederikestraße, ein Goethemuseum (das leider zu hatte) und ein "Goethe-Memorial". Das ist ein zweiräumiges Fachwerkhäuschen vis-à-vis der Goethescheune. Der eine Raum belehrt über die frühe Goethe-Zeit mit gerahmten Texten und Bildern, der andere dient zur Andacht. Die riesige Büste des pensionierten Geheimrats hinter einer Absperrung befremdet. Steif und unnahbar blickt er an einem vorbei, wirkt so, wie man ihn seit der Schulzeit zu kennen glaubt.
Einige Jahre nach seinem Sessenheimer Abschied kam Goethe übrigens noch einmal vorbei. Wohl des schlechten Gewissens wegen. Aber niemand, selbst Friederike nicht, war ihm böse oder fühlte sich hintergangen. So war das in Sessenheim.
Dann nach Straßburg. Zum Münster. Der erste Eindruck: überwältigend! Ich ging einmal herum, dann hinein. Die Illumination durch die Rose, der etwas byzantinisch anmutende Chorraum, die Silbermann-Orgel, welche wie ein Präludium zu schweben scheint, die riesige astronomische Uhr ... Der erste Eindruck bleibt.
Als ich ich die 330 Stufen zur Aussichtsplattform besteigen wollte, kam ich allerdings 15 Minuten zu spät. Schade. Goethe ging bei seiner Straßburger Ankunft sofort hoch. Wollte nach einer Krankheit Höhenangst und Lärmempfindlichkeit überwinden, setzte sich fast unter die Glocke und war - für den Augenblick sicher taub - von der Übersensibilität am Ende jedoch geheilt. Vielleicht auch deshalb der unsensible Abschied von Friederike, man weiß es nicht.
Straßburg selbst wirkt im Vergleich zu Colmar weltstädtischer, jünger, betriebsamer. Die Fachwerkhäuser rund um das Münster sind zwar bezaubernd altehrwürdig wie das Maison Kammerzell, bezaubernder aber sind die jungen Verkäuferinnen, die in ihnen arbeiten. In Bezug auf Charme und Lebensart ist die Stadt reinweg französisch. Zumindest wirkte sie auf mich flüchtigen Besucher so.

Montag, 7. Oktober 2002

034 | Weingut Weber und die Elsass-Tour

Gestern nur Regen. Das heißt lange schlafen und dann schön heizen. Natürlich gibt es hier in der Ferienwohnung Heizungen, aber eben auch den Ofen. Der Romantik und besseren Wärme wegen.
Am Nachmittag reichte das aber nicht mehr, ich musste raus. Von meinen Wirtsleuten ließ ich mich in Sachen Weingüter beraten. Sie beziehen ihren Weißen immer beim Winzer Werner Weber (sic!) aus Ettenheim. Zwar kein Kaiserstuhl-Wein mehr, sondern - als "Randerscheinung" - vom Kaiserberg, aber dafür nicht schlechter. Rotwein wird in Baden übrigens kaum angebaut.
Die Webersche Straußenwirtschaft hatte den letzten Tag im Jahr auf. In einer ausgebauten Scheune mit allerhand Weinbauernstaffage war es gästemäßig voller, als ich dachte. Der Hausherr, eine imposante Erscheinung, bediente persönlich. Souverän und freundlich. Sah aus wie Iwan Rebrow mit blauem Kittelhemd und Lederhut.
Für 7,50 € schlürfte ich mich durch 6 Weinproben: Müller-Thurgau, Riesling Kabinett, Grauburgunder, Weißburgunder, Spätburgunder, Rosé. Oje! Dazu Brot zum Neutralisieren und: Zwiebelküchle für den Geschmack. Der Zwiebelkuchen unterscheidet sich eigentlich in nichts vom Flammkuchen. Das ist bei der elsässischen Nachbarschaft aber auch - wortwörtlich - naheliegend.
Mein Wein-Favorit war der Webersche Riesling. Schön süffig, frisch und mit Restsäure. Passt gut zu Meeresfrüchten, und die mag ich sehr gern. Also gleich einen Karton mit 6 Flaschen für den grauen Berliner Winter ins Auto.
Heute war besseres Wetter. Scheint sich hier immer im Zweitages-Rhythmus abzuwechseln. Es ging ins Elsässische. Mit der Fähre bei Rhinau übergesetzt und die Landstraße südwestwärts weiter. Eigentlich hatte ich mit Kohlfeldern gerechnet, weil doch das Elsass für sein Sauerkraut mindestens genauso bekannt ist wie für seine wechselvolle Geschichte. Aber statt dessen sah es wie im Badischen aus: Neben Wein wurde fast nur Mais angebaut.
Bei Séléstat sah ich mir die Haut Koenigsbourg an, die Kaiser Wilhelm nach der Jahrhundertwende mit neoromantischen Intentionen wieder aufbauen ließ. Auf Kosten der noch erhaltenen Teile und des damaligen Reichslandes Elsass-Lothringen. Und so wirkt alles etwas seelenlos-kulissenhaft. Deutsche Wertarbeit am Fuße der Vogesen eben. Wenigstens der Ausblick von den 720 Höhenmetern beeindruckte mich. Und wäre da nicht dieser Dunst gewesen, ich hätte bis in den fernen Schwarzwald blicken können.
Weiter ging es nach Ribeauvillé. Ein lieblicher kleiner Weinort, mit lieblichen kleinen Fachwerkhäusern. Die Touristen sind noch zu verschmerzen wie die Preise. Für 11,- € bestellte ich mir zu einem Regionalbier "La Choucroute", einen mit Würstchen, Kasseler und Speck garnierten Sauerkrautberg, unter dem sich zwei Kartoffeln versteckten. Klingt nach unzeitgemäßer deutscher Küche, und eigentlich ist mir alles Mediterrane lieber. Aber ich muss gestehen: diese landestypische Spezialität war schlichtweg köstlich. Das Kraut ohne Kümmel und Süße, die Würstchen schmeckten nach Rauch, und das Fett konnte ich ja vom Fleisch abschneiden.
Ich saß vor dem Restaurant in der letzten Sonne des Jahres und überblickte den ruhigen Besucherstrom, der entspannt wie der Rhein durch die Grand'Rue floss.
Ein Nachbarort - Riquewihr - war das ganze Gegenteil: deutsches Disneyland für Rentner. Weihnachtsmarktartige Buden, Patisserien, Musik, Gedränge, zwei Museumsbesuche zum Preis von einem ... Fast glaubte ich, vor den offenen Weinkellern "Happy Hour"- Tafeln zu entdecken. Aber nein, selbst fürs Parken und Pinkeln wird man in dem 1000-Seelen-Ort zur Kasse genötigt. Also nichts wie weiter.
In Colmar, wo ich abends anlangte, muss man zwar auch Parktickets ziehen, aber nicht zu überteuerten Preisen. Selbstverständlich hat Colmar auch ein Münster, aber da ich davon erst einmal genug habe und mich auf das Straßburger freue, ersparte ich mir den Besuch. Außerhalb des historisch-lauschigen Zentrums wirkt die Hauptstadt des Oberelsass gewöhnlich. Im Champ de Mars, dem Stadtpark, lungerten zwielichtige Gestalten rum, dahinter das Allerweltsbahnhofsviertel.
Für den Isenheimer Altar von Grünewald, den ich mir unbedingt ansehen wollte, war es zu spät. Den gibt es tagsüber im Musée d'Unterlinden als Glanzlicht deutscher Frührenaissance zu sehen. Für mich blieben nur diverse Außenaufnahmen von gleichaltrigen Gebäuden. Einige noch mit den typischen glasierten Dachziegeln im grün-gelben Rautenmuster.
Bevor es völlig dunkel wurde, fuhr ich über die Rheinbrücke von Breisach zurück ins unbequeme Vaterland und staunte einmal mehr, wie leicht das geht, so ganz ohne Zollkontrollen.

Samstag, 5. Oktober 2002

033 | Kurzer Urlaub in Baden // Freiburg und Breisach

Nicht einmal 10 Stunden mit dem Auto und ich befand mich am Tag der deutschen Einheit im Dreiländereck. Wenn schon, denn schon. Im Breisgau bezog ich Quartier. Warum? Weil ich den Schwarzwald genauso einmal erkunden wollte wie das Elsass. Weil ich nach Straßburg wollte und nach Basel. Weil der deutsche Indian Summer im Breisgau am schönsten sein soll, zumal in der Weinlesezeit.
Mein erster Tag gehörte Freiburg. Irgendwo stand was von "Vorhof zum Paradies" und wer dort nicht alles wohnen möchte. Das hätte mich warnen sollen: Menschen über Menschen, selbst für hartgesottene Berliner ein Kulturschock. Von wegen "österreichische Kaffeehauskultur" (Freiburg war Habsburger Exklave), keinen freien Platz gab es. Und in den Puppenstubengässle nur Regen und Bächle. Da konnte mich auch der Hochaltar von Hans Baldung Grien im Münster nicht gerade erbauen. Das gelang vorübergehend nur einer Bauernbratwurst und der "Striebele", einer hiesigen Backspezialität aus Omelettteig. Das Historische Kaufhaus aus dem frühen 16. Jahrhundert war bei dem Wetter keine Sehenswürdigkeit, sondern allenfalls ein Unterstand für mich und meine Bratwurst. Schwerer Dunst hüllte den Turm des Münsters und die Berge dahinter ein. Das also zu Freiburg.
Erst als ich abends in den knackenden Kaminofen starrte und mich einer halben Flasche Spätburgunder aus dem Kaiserstuhl widmete, hatte ich so was wie einen Lichtblick ...
Und der heutige Tag entschädigte vollends: Ich fuhr dahin, wo der Spätburgunder herkam, in den Kaiserstuhl, einem kleinen Gebirge. Vom Umfang mit dem Harz vergleichbar, nur weniger schroff. Statt dessen Weinberge und Straußenwirtschaften, wohin das Auge schweift. Man kann Äpfel, Walnüsse, Elsässer Sauerkraut und in Milchflaschen gefüllten Pflaumensaft bei Kleinerzeugern kaufen. Überall zieren dort Kürbisse die Zufahrten. Und überall bremsten mich Erntefahrzeuge aus. Beladen mit kleinen blauen Trauben in großen Metallbottichen. Da ich kein Ziel hatte, schlich ich ihnen nach.
In einem Dorf war Weinfest. Ich machte mir die Freude und setzte mich in den Saal einer Winzergenossenschaft. Der Ruländer vom "Fass Nr. 7" war vorzüglich. Dazu ein Stück Zwiebelkuchen und Freiburg war vergessen. Selbstverständlich saßen fast ausschließlich Senioren um mich rum, aber das machte nichts. Auf der Bühne spielten 3 Musiker ein gemütliches Feiertagspotpourri, zu dem wie auf Kommando ansatzweise mitgesungen und -geschunkelt wurde: "Trink, trink, Brüderlein trink ..." Na ja, ich musste noch fahren.
In Breisach stieg ich zum Münster hoch, genoss den sonnigen Panoramablick über den Rhein nach Frankreich und fragte mich darauf im Inneren der Kirche, warum die Wandmalereien nicht endlich restauriert werden, schließlich blätterten sie nur noch sandsteinbraun herbstlich vor sich hin. Der Reiseführer aber belehrte mich eines Besseren: sie stammen von einem Herrn Schongauer, sind über 400 Jahre alt, von unschätzbarem kunsthistorischen Wert und natürlich bereits restauriert. Oh, so kann man sich irren. Der Stolz dieses Münsters ist aber ein aus Lindenholz geschnitzter Hochaltar, gerade mal 40 Jahre jünger als die Wandbilder und bei all dem gotischen Zierrat wohltuend ohne Farbanstrich.
Nach diesen neuen Erkenntnissen für das Kurzzeitgedächtnis stieg ich von der überdauernden Gottesburg wieder hinab in die weltlichen Niederungen. In einem Café hinter der großen Rhein-Wehranlage saß ich sonnenbebrillt auf der Terrasse und sah noch einmal nach Frankreich rüber. Wie Goethe einst vom Gotthard nach Italien. Nur ohne Feierlichkeit im Herzen. Woher auch, wenn das Baby der hinter mir sitzenden Sachsen unaufhörlich auf den Tisch klopfte, wie mittlerweile die Leute im Festsaal der Winzergenossenschaft. Und wie sollten sich erhabene Gefühle einstellen, wenn neben der Terrasse jemand begann, den doch noch kurzen Rasen zu mähen? Aber egal. Es war letztlich ein schöner Tag. Wirklich.