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Donnerstag, 31. Oktober 2002

041 | Halloween und etwas behindert

Pünktlich zu Halloween und einen Monat nach dem Berlin-Marathon humple ich wie die Inkarnation Quasimodos durch die Straßen Berlins. Sogar ein wenig farblos im Gesicht. Würde Mutter sagen. Ich aber sage jedem, der danach fragt, mit dem stoischen Heldenmut eines Kriegsveteranen: „Meniskus“. Mehr Worte bedarf es nicht. Doch es ist Halloween! Also setze ich was von „Kernspin(n!)tomographen“ nach (Mich faszinieren diese Fachtermini!) und einer „möglichen Operation“. Was nichts Besonderes ist unter uns Kriegsveteranen, Profifußballern und Sonstwiehelden.
Fragt mich jedoch einer, wie es passiert sei, winde ich mich: „Es war ..., also ich ... wollte auf einen Tisch ... für ein Gruppenfoto ... --- Und kam nicht rauf.“
Aus die Maus. Nix mit Held. Ironisches Grinsen statt penetranten Mitleids. Schnell weiter. Gehumpelt. Zum Beispiel den laufstegartigen U-Bahngang „Stadtmitte“ entlang. Durch die immer präsente melancholische Schifferklaviermusik eines Russen wirkt der Weg zwischen der U6 und der U2 beinahe metaphorisch. Deshalb bewahre ich meinen aufrechten Gang und blicke stolz in neugierige Gesichter. Weil Stolz immer das Letzte sein sollte, was vor die Hunde geht. Aber ich habe gut reden, ich bin ja nur ein Behinderter auf Zeit, ein Kriegsveteran ohne Waffe, ein Fußballspieler ohne Ball ... Und dennoch ein Mensch.
Was nährt den Stolz, wenn man von der Selbstüberhebung absieht? Potentiale? Der bereits auf einzigartige Weise zurückgelegte Weg? Schmerz negiert das Sein zu Schein, den wir aufrecht(er)halten, solange es geht. Absehbare Schmerzen können einem sogar wie Orden gut zu Gesicht stehen, die man (er)trägt, die man im Griff hat, so Muskelkater & Meniskusrisse.
Warum aber die Schmerzen, die dich beherrschen können, dir das Mark, den Willen zum Leben aus den müden Knochen saugen? Warum die Schmerzen, die in ihrer Intensität und lebenslänglichen Unendlichkeit zynischerweise verlässlich sind?
(Vorhin telefonierte ich mit meiner Großmutter, die bereits den Tod anbetet, weil ihr Glaube an das Leben nachlässt wie die Wirkung ihrer Schmerzmittel.)
Was ist schlimmer: seelischer oder körperlicher Schmerz? Beides lässt sich wohl nicht wirklich vergleichen. Der Vergleich wird immer – wie ich gerade – hinken. Wer seelisch leidet, hat keine Ahnung mehr von stechenden, bohrenden, hämmernden körperlichen Qualen. Und umgekehrt genauso: Dem äußerlich Verstümmelten muss jede Art innerlicher Verluste wie ein bloßes Konversationsthema vorkommen. Nur der wahnsinnige Wunsch nach Erlösung ist allen Leidenden so gleich wie das Unvermögen, sich an vergangene Schmerzen genau zu erinnern.
Doch genug gelitten. Zurück ins Leben und zurück zu Halloween: Halloween regte mich im Grunde stets auf. Halloween in Deutschland, wo es sich über die letzten Jahre wie ein Kürbis auswuchs. Weil die verkleidete Bettelklingel-Tradition eine moderne Leihgabe amerikanischer Filmkultur ist. (Aber, aber, wer wird denn im toleranten Berlin so spießig denken? Lass doch die Kinder. Ihre Eltern verkleiden sich schließlich auch, wo sie können, und eifern sonst wem nach.) Ja, ich weiß, dieser infantile Firlefanz bringt auch noch etwas Schwung in die von allen Heiligen verlassene Wirtschaft. Und von daher ist es immer gut, wenn die kleinen Geister, die ihre Eltern schon mal „Mom“ und „Dad“ nennen, dafür sorgen, dass der Euro beim Einzelhandel rollt. Nur wer sind hier die Trendsetter? Sie oder clevere Wirtschaftsstrategen? Was war zuerst da: der Kürbis oder die Kerze? Vorhin rannten 7 Kinder an mir vorbei, von Tür zu Tür. Blass- und blutiggeschminkt, mit gruseligem Bonbonblick „Süßes oder Saures!“ rufend. Sie waren wie die grotesken Personifizierungen unserer Schicksale: „Süßes oder Saures! Süßes oder Saures!!“ Und wie meinte schon Forrest Gump: „Man weiß nie, was man kriegt.“ Das hätte aber auch Konfuzius sagen können.

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