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Montag, 17. Dezember 2001

004 | Sonntag, 3.Advent

Längst vorgenommen, heute angestrebt: den Besuch der wiedereröffneten Alten Nationalgalerie. Ein naives Unterfangen! Denn bei Sonnenschein und vorerst freiem Eintritt stehen die Leute an wie seinerzeit nur im Osten bei Mangelware. Da laufe ich lieber, und die Kultur kann warten. Weil so ein Bummel über den Flohmarkt an der Museumsinsel zur Oranienburger hin nicht zu verachten ist. Werden sich auch andere gedacht haben: In der Sophienstraße wird es eng; Weihnachtsmarktbuden und geisterfahrer-ähnliche Passanten! Deren Tempo allerdings den Vergleich stark ausbremst. Also Flucht über die Sophie-Gips-Höfe in meinen Geheimtipp: "Barcomi´s Deli". Dort gibt es zum Latte Macchiato immer auch ein Glas Wasser. Aber Geheimtipp? Denkste! Der einzig freie Platz befindet sich unmittelbar neben dem Eingang, und mit jedem weiteren Flüchtling haucht mich arktische Festlandluft an. Dafür ist die Bedienung ansehnlich und freundlich. Wenn auch heillos überfordert. Am Nachbartisch errät man anhand der Reste, um welche Kuchen es sich noch vor kurzem handelte, da keine Karte in Sicht ist. Und entscheidet sich für den mit Schokolade. Doch wer ins "Barcomi´s" geht, möchte - trotz der Kuchentheke im höher gelegenen Verkaufsraum - in der Regel neben New-York-Flair einen ofenfrischen Bagel. Mit Konfitüre oder Lachs, auf jeden Fall aber mit verschieden angemachtem Frischkäse. Welch Genuss! Obwohl das Kringelbrötchen auch nur nach Schrippe schmeckt. Aber wenn aus den Lautsprechern Musik von Yann Tiersen ("Die fabelhafte Welt der Amélie") erklingt, wird mir so warm ums Herz, dass mich die hereingelassene Kälte nicht weiter anrührt. Das verliert sich erst, als ich – alle Jahre wieder - in der Vorweihnachtsrealität der Sophienstraße stehe. "Und ewig grüßt das Murmeltier ..." Also schnell nach Hause!

Samstag, 15. Dezember 2001

003 | Freitagabend

Endlich schaffe ich es mal, über einen Weihnachtsmarkt zu schlendern. Einen von 50 in Berlin, wenn ich das noch richtig erinnere. Meine Wahl ist gut: der kleine, aber feine Budenzauber auf dem Hof der "Kulturbrauerei". Kein Karussell- und Kinderstress, dafür einsetzender Schneefall und Glühwein bei Minusgraden. Klar, sonst ja kein Schnee. Es gibt finnische Spezialitäten, Thai-Fingerfood und die unvermeidliche "Original Thüringer Rostbratwurst".
Bei dem Glühwein weiß ich schon, dass mir anderntags die Augenlider anschwellen werden und es in meinem Kopf klopft, als stünde Knecht Ruprecht vor der Tür. Aber jetzt ist mir das egal. Ich unterhalte mich mit Freunden über geplante Filmprojekte und sehe den Schlittschuhläufern im großen Zelt zu, bis mir davon schwindlig wird. Das Gute ist, dass wir jederzeit in die "Alte Kantine" einrücken können, um unsere Hintern zu wärmen. Im Gegensatz zu den Leuten, die für irgend ein Konzert in einer langen Schlange stehen und sich von einem Bein aufs andere stellen, als würden sie bereits verhalten tanzen.
Später geht’s heimwärts. Noch kurz eine verrauchte Kellerausstellung in der Kastanienallee inspizieren, angestrengten Jazzern hinter einem Kneipenfenster zuhören und eine Flasche bulgarischen Merlot kaufen. Dann mit den Freunden Fischsoljanka, aufgebackenes Fladenbrot und aufgetaute Dipps verspeisen. Genau das Richtige bei dem Wetter.
Bevor ich auf dem Fußboden einschlafe, stelle ich mir Dostojewski in New York vor.

Dienstag, 11. Dezember 2001

Marienkäfer zum 5. Advent

Ist einfach da, zweifach gepunktet
zwischen Adventskranz und Merlot.
Noch winterschlafdämlich vom Versteck
will er sein Glück machen. (Bei mir!)
Zu spät oder zu früh, wer weiß das schon.
Und nun? Glas leeren
für Tannengrün mit Käfer?
Dekoriere ich mir kindisch
die Langeweile, bis einer aufgibt,
den anderen zu beobachten?
(Hat sie dich geschickt?)
Ich könnte dich
in eine Ecke schnipsen, weißt du das,
und dann nervös suchen oder
zertreten (doch das gibt Flecke).
Vielleicht sollte ich dich
ins Tagebuch pressen
(wie für immer). Aber besser ich
tauche dich mit dem Zeigefinger
ins Flüssigwachs der Kerze
(den ersten Kuss gab sie mir unter Wasser).
Oder ich gebe dir noch genau eine Minute
in der Mikrowelle (ein Geschenk von ihr).
Aber was solls:
Trinke ich eben auf dein Wohl
und lasse dich frei! (Du wirst schon sehen!)
Es liegt Schnee auf dem Balkon,
doch am Himmel ist alles klar.
Komm, ich zeig dir den Weg -
Marienkäfer flieg! - (Nun mach schon!)
Warum sollst du es besser haben
als ich?!

Sonntag, 9. Dezember 2001

002 | Tilsiter Lichtspielhaus, Friedrichshain, sonnabends

Ein Glas Wein gegen kalte Füße. Rundumblick: Noch nichts los. Wohl erst nachher, wenn ein paar Leute aus dem kleinen Kinoraum nebenan kommen. Direkt vor mir: eine spinatgrüne Kreidetafel für Tagessuppen & Co. In der Mitte davon ein weißer Kreis, darin trägt rot und sicher der Berliner Bär 3 Biertulpen auf einem Tablett: Berliner Pilsener aus dem "VEB Getränkekombinat Berlin". Die Kaschemmenatmosphäre ist liebevoll spärlich ausgeleuchtet mit verglänzten Foyerlampen aus Messing. An den kalkigen Wänden hängt kaum ein Filmplakat, dafür DDR-lächer- und –liches, skurrile Werbung zumeist. Das "funktionale Geschirr" mit den grünen Streifen ist von Mitropa, und selbst die gerahmte Kinder- und Jugendordnung könnte von Anno dazumal sein. Genauso authentisch wie autistisch wirken die beiden Tresensitzer zu meiner Rechten. Nur die fehlenden Hosentaschenkämme unter hinten hochgerutschten T-Shirts lässt mich die Männer in dieser Ostberlin-Nische dem richtigen Jahrzehnt zuordnen. Aber das hier ist keine Ostalgie, da völlig unpolitisch. Das hier ist eine Montage aus Kindheitserinnerung und traditioneller Subkultur! Also durchaus auch etwas Westtypisches, und das verbindet! Damit wird ganz sicher die zu oft beschworene Wiedervereinigung unbemerkt und mit meiner Generation vollzogen: durch die anhaltende 70er-Jahre-Retrospektive im Herzen Berlins mit allem Ost-West-Talgischem, was dazu gehört(e). Man entsinnt sich ironisch kitschiger Äußerlichkeiten, die auf beiden Seiten der Mauer annähernd gleich waren - gelb-braun gemusterte Tapeten, Polsterstühle, Hängelampen usw. -, um sich in Clubs oder noch innerlicher anzunähren. Und mit diesen Erinnerungskrücken ahne auch ich wieder, was ich fühlte als Kind. Fühle ich wieder, was ich wollte danach. Gehe ich gleich raus in die Stadt und beginne, es dort zu suchen. --- Wenn meine noch tauben Beine warm genug sind, um wieder Fuß fassen zu können, versteht sich. Noch einen Merlot, bitte!

Samstag, 8. Dezember 2001

001 | Freitag, 19.30

Eigentlich wollte ich über den Weihnachtsmarkt am Alex schlendern, aber es nieselt. So kehre ich ins "Entwederoder", in der Oderberger Straße, ein, wo es noch freie Plätze gibt.
Im hinteren Raum wird an einer langen Tafel Geburtstag gefeiert. Am Nachbartisch hat jemand seine 2 Hausratten im Käfig mitgebracht. Besser als ein bei Regen stinkender Hund. Der Herr der Ratten ist wie alle anderen Gäste Individualist, aber kein Punk. Schlicht grau-schwarz gekleidet, charismatisch jedoch bunt gefärbt wie der Rest. Ich sehe mich um, begegne Blicken ... Doch geschieht das nicht mit penetranter Neugier, weil am eigenen Tisch außer einer Inszenierung nichts laufen könnte, sondern mit Gelassenheit. Jeder Tisch ist ein vollkommener Mikrokosmos, nie gleicht einer dem anderen. Und das ist es, was ich so an Berlin liebe: die Normalität des Ungenormten! Vor ein paar Wochen brauchte ich bloß an einer Leipziger Tankstelle stehen, schon wurde ich von abklatschgestylten Twens argwöhnisch gemustert. Dabei bin ich absolut unscheinbar! Vielleicht lags ja am "B" auf meinem Nummernschild (der weltstädtischen Chiffre), wer weiß ... Ja, lasst mich ruhig eine Hymne auf die Hauptstadt anstimme, denn ich habe sie lange genug entbehren müssen und weiß, wovon ich singe! Klar, von dem Metropolengeist findet man hier und da auch was in Leipzig, im Café "Spizz" zum Beispiel, in Erfurt oder sonst wo wieder, jedoch nur als exotische Enklave der Provinz. Denn Berlin ist zwar kulturelles Zentrum, doch der Hauptstadtgeist ist nicht ortsgebunden, er fluktuiert: zieht mit, wenn es zu einer Party nach Dessau geht und kehrt gehaltvoller zurück. Berlin an sich gibt es jedoch nicht, so vielschichtig und ständig in Veränderung begriffen ist die Stadt. Sie verfügt allerdings über den geheimen Magneten, der die Kreativen aus mindestens dem ganzen Land anzieht und mich jedenfalls nicht mehr loslässt.

22.00:
Feststellung: Wo außer in Friedrichshain, Kreuz- oder Prenzlauer Berg habe ich so leckeren Latte Machiato getrunken? Dafür sind die Oliven bloß grün und salzig. Vermisstes Aroma kommt dafür rauchig-harzig aus dem Nachbarraum gewabert, wo gesund und laut an der Geburtstagstafel gelacht wird. Ansonsten herrschen Chillout-Musik und Kerzenschein vor. Neue Gäste bringen Farbe in die gute Stube: erstaunlich viele rote Kapuzen und Pullover. Mir wird auf einmal so weihnachtlich. Die Gespräche bleiben jedoch und gottseidank alles andere als besinnlich.

Samstag, 17. November 2001

mein glück stinkt wie ein hund bei regen

mein glück stinkt wie ein hund bei regen,
wie felle, die in gräben schwimmen.
lass mich noch einmal zu dir legen,
versuchen wir uns umzustimmen.

du zupfst die saiten meiner seele
fast lustlos, doch du spielst mit mir.
der mollton, den ich nicht verhehle,
streckt sich gequält nach dur und dir.

und nach verflossnem leckt mein mund,
nach dem nun aufgeweichten platz,
der heimat war. Gräbt dort dein hund
nach unserem geheimen schatz?

anstatt zu zählen, was uns bliebe,
zerstreust du gläserne brillanten
ins opfermoor vergangner liebe,
worüber wir einst lachend rannten.

bei uns verschied der tod vor neid,
der alltag lag des nachts im sterben,
ich schwängerte die ewigkeit,
du wolltest ihr vermögen erben.

wir liebten uns zum standesamt,
doch planten nichts als jeden tag,
sechs jahre wohl so insgesamt,
die ich in deinem herzen lag.

nun liege ich dir vor dem magen,
verdauen wird mich bald das moor.
dann muss ich nicht mehr davon klagen,
als käm´s nicht auch bei andern vor.

Freitag, 16. November 2001

berlin, oranienburger

noch einmal zwischen wiedergängern
lauf ich geklontem großstadtflair
um die erinn´rung zu verlängern
als falscher freier hinterher.

der wahre freier kommt im wagen
zum kunstobjekt vom straßenrand.
nach potentiellen käuferfragen
floriert es unter kalter hand.

für restaurants und cocktailbars
wird von den kellnern angeschafft.
sie sind hier als lokale stars
mal rüde und mal divenhaft.

die auswahl der cafés ist groß.
hier findet selbst ein zionist
zwei israelische bistros,
wo nur der preis nicht koscher ist.
einst fand ich hier statt bunter kost
die graue nivellierungsdroge
und hielt im tran die alte post
doch für die neue synagoge.

dass das nicht mehr passieren kann
verhindert vor dem gotteshaus
mpi-bewehrt ein grüner mann.
(er nimmt sich ziemlich seltsam aus.)

den polizisten ohne meinung
belächelt fußvolk ohne ziel
als zeitgemäße randerscheinung
von kiez und kult im alten stil.

man sucht hier authentizität
und man erobert sich die Stadt,
die jedem ansturm widersteht
weil sie sich längst ergeben hat.

was ist der preis für das, was fehlt?
ein leeres haus schweigt ohne sinn.
wer hat die fenster schwarzgequält?
wo sind die alten mieter hin?

wer trieb von hier mit welcher lüge
soldatisch sie aus mietskasernen
in straßen- und in reichsbahnzüge
und in die ferngelenkten fernen?

wer hat mich hierher eingeladen?
was wirft mich hin von zeit zu zeit?
vor einschusslöchrigen fassaden
durchblättre ich den city-guide.

auf fragen folgen bunte bilder
der in-szenierten neuen mitte.
statt seelenlandschaften und -schilder
für herz und auge: schnelle schnitte.

und lauter fernsehlust und -laster -
(ich nehm´ das dé-jàvu in kauf) -
betreten; unterm kopfsteinpflaster
platzt nur manch alte wunde auf.

noch einmal zwischen wiedergängern
lauf ich geklontem großstadtflair
um die erinn´rung zu verlängern
als falscher freier hinterher.

Sonntag, 14. Oktober 2001

Mitte Oktober

Es riecht nach Pappellaub und Teer.
Die Rasseln der Grillen liegen im Graben,
Vom Blattgold schwer
Bedeckt. Hält sich der Herbst
Die ersten Raben, treibt Glücksklee
auf falschgeldgrünen Wiesen
noch letzte Blüten.
In Waben des Nachmittags
Verträumt neue Einsamkeit
Entschlafene Sommermythen.

Die Landschaft: lässt sich seltsam lesen
Wie ein Gedicht, das sacht zerfällt.
Die Zeit: schlägt taktlos ihre Hiebe
An Lattenzäune. Gegen das Verwesen
bellt von winterfesten Höfen der Kettenhund.
Und: Im Haus der Liebe, hinter traurig warmen Öfen,
Hecken Ratten die alten Ängste aus
Wenn - Scheit um Scheit - verbrennt,
Was langsam wuchs, das, was wir hatten,
Und keiner mehr beim Namen nennt.

Kennt uns die müde Alte dort,
Die barfuß und mit schwarzem Blick der Sonne folgt
Wie einem Ort, an dem es keine Schatten gibt?
Fand sie kein Auge, um darin zu überwintern,
Bis eine Träne taut? Sie geht mit dem Jahr,
Mit den Jahren. Die Landschaft kippt ihr hinterher.
Und wir: Wir scharen uns um das, was bleibt,
erwarten, dass der Frühling graut, der Winter siecht.
Wir sehn uns spiegelbildlich schweigend an
und atmen tief: Es riecht nach Pappellaub und Teer.

Sonntag, 2. September 2001

Mon Bijou im August

Für Karen

Ein Stadtparkkaninchen des Nachts in Berlin
Umschlich dich im Grasland als hungernde Ratte,
Bevor es von deinen noch zitternden Knien
Das erdfrische Grün lautlos weggeleckt hatte.

Der Duft warmen Schweißes schien es nicht zu stören,
Denn Teil seines fruchtbaren Traums waren wir.
Nur als ich dir sagte, man könnte uns hören,
Verjagte ein fallender Apfel das Tier.

Im Busch hinter uns hat ein Kind leis gelacht.
Du wolltest es kriegen und dachtest befangen
An etwas Erwecktes, das nicht mehr erwacht.

Und in deinem Bauch, plötzlich schwärzer umfangen,
Trat neuer Phantomschmerz hell gegen die Nacht.
Dann sind wir zurück, in den Morgen gegangen.