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Montag, 22. September 2003

061 | Innehalten

Dieses Licht! Wie es am Spätnachmittag hinter den Bäumen steht und den Blättern zuflüstert: „Noch ist alles im grünen Bereich.“ Wie es sich mühelos von geöffneten Fenstern auf gegenüberliegende Hausfassaden spiegeln lässt. Wie einzelne Bienen und Schmetterlinge davon an- und ausgeleuchtet werden, wenn sie wie beim Casting über die Bühne wehen. Wie sie auf die alten, klebrigen Maschen der Kreuzspinnen hereinfallen ...
Der Ahorn hat sich zwar schon eine rotbraune Tönung verpassen lassen, aber irgendwie steht ihm das auch besser. Und wie übermütig bei ihm oder der Linde die Samenblätter heruntertrudeln – dass einem schwindlig werden kann. Dass man sich mitdrehen möchte.
Hier und da springen mahagoniebraune Kastanien als Überraschungen aus den Stachelkugeln, als triumphierendes Leben über den Miniermottenfraß. Und man selber isst wieder auf dem Balkon, trinkt Federweißer und greift, vom Altweibersommer berauscht, nach Gedichten ... Und setzt drei Punkte hinter schweifende Sätze ... Wegen des Innehaltens.
„Ab in den Süden“ singt es im Radio. Dabei ist es gerade so schön hier, dass selbst die Zugvögel nicht an Aufbruch denken.
Trotz Wirtschaftsflaute und Politik, trotz Wochenanfang und dreckiger Fensterscheiben: so schön hier! Darauf stieß ich am Wochenende mit Freunden und Prosecco an. Ein letzter Grund zum Feiern findet sich immer. Erntezeit eben.
War mein Glas leer, erhob ich es, um mir nachschenken zu lassen und weil ich auf das trank, was mir da schmeckte.
Wie von Opferfeuern für das Hoch unter dem blauen Himmel stieg überall Rauch von Grills auf. Das Lachen der Nachbarn krönte die Stille.
Den Anträgen auf Verlängerung wurde also stattgegeben. Und am Sonntag wurde flaniert, zum Beispiel durch das Holländerviertel in Potsdam. Hausbesetzer sollen dort in der Nachwendezeit gewohnt haben. Jetzt ist davon nichts mehr zu sehen. Nach der Sanierung wurde mit Kunsthandwerk und nordischer Gastronomie der Kiez wieder touristisch erschlossen: Rote Backsteinfassaden, grün-weiße Fensterläden und große Dachbodenspeicher. Dazwischen gehobener Mittelstand mit Sonnenbrillen. Dass die Häuser so preußisch uniform in Reih und Glied stehen, passt zur Garnisonsstadt und gefällt den Besuchern.
Nebenan, am Nauener Tor, sitzt man wunderbar vor einem Edel-Italiener „Barokoko“. Über dieses Wortspiel lässt sich streiten, nicht aber über die Küche. Schon das Weißbrot zu den Oliven hatte mich überzeugt. (Außerdem war ich hungrig.) Aber dann erst die Spaghetti, mit Rucola und getrockneten Tomaten! Auf der Karte stand zwar „Linguine“, doch dem Geschmack tat es keinen Abbruch.
Hier galt es Kraft zu tanken für das Kommende, für das, was so sicher vor dem Nauener Tor steht wie „Isolde“, der Atlantik-Tornado, unlängst vor Amerikas Ostküste. Kraft, für die Zeit nach dem Indian-Summer, für die Novemberdepressionen, wenn „Denn alle Lust will Ewigkeit“ vor einem Heine-Vers kapituliert, der sich nicht nur auf die Vergänglichkeit der Liebe, sondern auch auf die des Sommers beziehen lässt:
„Es ist eine alte Geschichte,/ doch bleibt sie ewig neu,/ und wem sie just passieret,/ dem bricht das Herz entzwei.“

Montag, 8. September 2003

060 | Jugendstil

In den letzten zwei Wochen passierte nichts Besonderes. Kino- und Restaurantbesuche, Brunchen, ein wenig Sport dazwischen und wieder Essen bei Freunden (natürlich ist das Essen bei Freunden immer etwas Besonderes). Aber es gab nichts derart, wie ich es bei Fernsehreportagen mag. Und ich sah in den letzten zwei Wochen einiges im Fernsehen. Oder ich ließ die Kiste aus und las ein wenig auf der Couch. Bernhard Schlink: „Der Vorleser“ beispielsweise. Las sich schnell und gut weg, vor allem nach Arno-Schmidt-Erzählungen. Dass „Der Vorleser“ nicht auch eine Erzählung ist (unter dem Titel steht „Roman“), will ich immer noch nicht glauben. Genauso wenig wie ich nicht glaube, dass es schlechte Literatur ist, nur weil ich hin und wieder darüber eingeschlafen bin. Vor allem, wenn es draußen dunkel wölkte und die Couchdecke wieder eine Rolle spielte.
Aber jetzt hat sich der Sommer zurückgemeldet! Als hätte irgendwer aus Furcht vor den fallenden Blättern „Zugabe!“ gerufen oder einen Antrag auf Verlängerung gestellt. 25 °C waren heute in Berlin, und statt der Blätter fielen nur reife Eicheln auf das Hauptstadtpflaster. Wie das Klackte! Damit stahlen die Eichen den mondänen Platanen (im hippen Camouflage-Outfit) die Show.
Gestern war es ähnlich warm. Sonntagswetter! Mir war so bürgerlich zumute, dass ich mir irgendeine zeitlose Dauerausstellung ansehen wollte. Also fuhr ich nach einer kleinen Internet-Recherche zum Bröhan-Museum. Das befindet sich gegenüber des Schlosses Charlottenburg (Schloss-Str. 1a), und ich habe keine Ahnung, warum es so seltsam heißt. Bestimmt wurde es nach seinem Stifter benannt. Jedenfalls: Wer Jugendstil und Art Deco mag, kann in den drei zugänglichen Etagen Kunsthandwerk und Bildende Kunst aus Frankreich, Belgien, Deutschland und Skandinavien unter die innere Lupe nehmen. Einige Schränke und Ess-Services hatten es mir schon angetan, aber wenn ich ehrlich bin, würde ich mir so etwas nicht in die Wohnung stellen wollen, sondern bei Ebay versteigern: Zinn- und Silberkännchen, einige mit Griffen aus Edelholz oder Elfenbein. Höchstens die eine Uhr mit dem Falken-Motiv hätte ich behalten. Die kannte ich noch aus einer „Kunst & Krempel“-Sendung. Vielleicht haben die Bröhan-Leute sie dort entdeckt und aufgekauft.
Eine Augenweide ist der alte Hausrat ja allemal ( - anfassen verbietet sich bei den Werten). Schon wenn ich die typischen „Peitschenhieblinien“ des Jugendstil sehe, werde ich ähnlich begeistert wie von den Formen einer schönen Frau (wie meiner Freundin). Nur eben hier ästhetischer, versteht sich.
Das „Seerosenbild“ von Karl Hagemeister mag im Vergleich zu Monets berühmtem Werk weniger Tiefe besitzen. Gewollt, denn es ist so leicht und zart, dass ich mir entsprechende klassische Musik dazu einbilden konnte. Und die anderen Naturmalereien von Hagemeister strahlen eine sentimentale Ruhe aus, wie sie mir nach der vergangenen Sommerhitze gut tat. Da war der Wunsch nach einem Spaziergang durch Märkischen Forst bei tiefstehender Sonne und der nach einem Orgelkonzert in einer Brandenburger Dorfkirche. --- Die Musik ganz deutlich und ganz von ferne --- Nostalgie einer Ära, die ich nur mittelbar kenne, und einer Kindheit, die so nie stattgefunden hat.
Jugendstil ... Ungefähr zur gleichen Zeit entstand der Expressionismus mit seinen hässlich-schönen Bildern. Auch die gefallen mir. Expressionismus ist für mich trotz seiner Landschaftsbilder städtisch. Und Jugendstil das Extrakt der Natur, wenn oft auch ein wenig zu pathetisch. Beides verinnerliche ich gern, als Gegensatz, so wie ich Stadt und Land gern verinnerliche. Da wo der Jugendstil das Natürliche ein wenig schöner schminkt, stellt der Expressionismus bloß. Und die Wahrheit liegt wie so oft irgendwo dazwischen.
Solche Gedanken kommen mir erst jetzt; im Bröhan-Museum genoss ich nur, ungestört. Die meisten Besucher tummelten sich in einer „Heute freier Eintritt!“-Ausstellung im Nebengebäude, wo Picassos grafische Arbeiten gezeigt wurden. Dafür war ich nach einem Café-Besuch zu müde, und die Zeit, bis geschlossen wurde, war zu knapp.
Von der Café-Terrasse aus hatte ich ein wenig Blick auf das Schloss Charlottenburg, wo ich noch nie war. Selbst in dem Ägyptischen Museum dort war ich noch nicht. Den einäugigen Nofretete-Kopf kenne ich nur aus den Medien, wie aus einer der letzten STERN-Ausgaben. Eine Archäologin will die Nofretete-Mumie entdeckt haben. Den Fotos nach würde ich Laienkriminologe sagen: Sie ist es! (Oder war es.) Und als Ästhet hätte ich meinen Milchkaffee gerne einmal mit ihr in einem Jugendstil-Salon getrunken und ihre vollständigen Augen wie einen Pharaonenschatz betrachtet. Streng wissenschaftlich, versteht sich. (Denn ich halte mich besser an die Lebenden und kneife meiner Liebsten ein Auge.)