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Sonntag, 31. Mai 2009

101 | Mit Biermann am Alex

Heute sah ich mir zum zweiten Mal die Open-Air-Ausstellung „Friedliche Revolution von 1989/90“ auf dem Alexanderplatz an. Und traf dort Wolf Biermann.
„Schön, dass Sie da sind, Herr Biermann“, sagte ich im Vorübergehen. Aber ich war irritiert: Kein Kamera-Team, keine Kontroverse, kein Gefolge. Eine nette Frau war im Hintergrund an seiner Seite und machte am Ende ein Foto von ihm und mir, was ich peinlich berührt nett fand. Sie wolle es mir später zumailen.

Eigentlich wollte ich es bei diesem Schön-dass-Sie-da-sind-Satz belassen. Weil ich zwar einiges über ihn weiß und sogar Biermann-Prosa in meinem Regal stehen habe, aber er mich nicht mal ansatzweise kennen kann. Ich hatte große Lust, mich mit ihm zu unterhalten, doch dränge ich mich nur ungern auf. Aufdränger wird es in Biermanns Leben schon genug gegeben haben, dachte ich. Und damit meine ich nicht unbedingt die Herren von der Stasi. Aber dann kamen wir doch ins Plaudern, sprachen über alte DDR-Geister, die weder ihn noch mich loslassen.
Alexanderplatz. Hier fand am 4. November 1989 die Großdemonstration statt, bei der meine Oktober-Demo-Ängste einer November-Euphorie wichen. Biermann durfte an diesem Sonnabend nicht auftreten. Er war zur Ruhe gezwungen. Dabei streitet er doch so leidenschaftlich gern. Überhaupt, sagte Biermann, fühlte er sich bei dem ganzen Wirbel nach seiner Ausbürgerung wie im Auge eines Hurricans, wo Windstille herrscht. Zumindest auf den Aktionsradius bezogen. In ihm wird es jedoch gewaltig gestürmt haben. So sehr, dass die Nachwehen nie ganz aufhören und eine politische Wetterfühligkeit zurückbleibt.
(Ich finde es übrigens sehr sympathisch, dass er auch noch eine Gänsehaut bekommt, wenn das 89er Wendevolk den „Wir-sind-das-Volk!“-Imperativ skandiert.)

Wir sprachen über Ursachen von Revolutionen und davon, dass Krenz ´89 nur deshalb kein Remake des Tian‘anmen-Massakers inszenierte, weil die militärischen Einsatzmittel für die Menschenmassen nicht ausreichten. „Die hätten den Fleischwolf verstopft!“, sagte Biermann. Er liebt drastische Bilder. Außerdem hatte die Parteiführung bekanntlich keine Rückendeckung von den Russen: Wenn auch nur ein NVA-Panzer auf Demonstranten geschossen hätte, hätten die Russen ihrerseits den Panzer unter Beschuss genommen. „Ohne die Russen“, so Biermann, „wäre alles noch mindestens 20 Jahre so weitergegangen“.
Wo stünde ich dann heute? Hätte ich mich wie so viele mit den Verhältnissen abgefunden? Hätte ich weiter aufbegehrt? Meinen Jahrgang erlöste die Wende genau im richtigen Augenblick. Rückblickend fiel bei uns politisches Erwachen und erfolgreiches Aufbegehren zusammen. Wobei die einen mehr und die anderen weniger aufbegehrten. Nachdem auch noch die Mauer dem Überdruck eines willensstarken Volkes nachgab, schien alles möglich. Zumindest in den Augen eines 18-Jährigen. Zeit des Aufbruchs. Erst später ging mir auf, dass Aufbruch immer auch Abschied bedeutet. Abschied von liebgewonnenen Gewohnheiten und Menschen.
„Kuck mal“, sagte Biermann ernst vor einem großen Foto, das ihn ernst zwischen Jürgen Fuchs, Gerulf Pannach und Christian Kunert im August ´77 auf einem West-Berliner Balkon zeigt. Die drei waren nach ihm abgeschoben worden. „Zwei von ihnen sind bereits tot.“
Aber nicht Biermann. Er kam mir wie ein sehr lebendiger Wiedergänger zwischen den als Mauerzitat errichteten Ausstellungswänden vor. Um alles zu sehen, musste er mehrfach die Seiten wechseln. Als lebendes Sinnbild.

Das Beste an dem Gespräch mit dem Dichter war, dass er mich ernst nahm. Dass er sich aus Interesse mit mir, einem unbedeutenden Ausstellungsbesucher, unterhielt. Er tat es nicht nur, weil er Volksnähe demonstrieren wollte oder Werbung machte für seinen späteren Konzert-Auftritt im Deutschen Historischen Museum. Denn Heuchelei liegt ihm nicht, dagegen singt er sein Leben lang an.
Ich wünschte ihm und seiner Begleiterin schließlich alles Gute und schlenderte Unter den Linden entlang, um meine Eindrücke zu sortieren.
Unter den Linden. Wie selbstverständlich großstädtisch alles wirkt nach 20 Jahren. Überall kann ich Dinge, die man früher nicht kaufen konnte, in Restaurants essen. Kann an den Bücherständen der Humboldt-Universität Gedanken erwerben, die früher verboten waren. Ich kann sogar die Szenerie wechseln und das Land westwärts verlassen. Ganz selbstverständlich.
Vor der Humboldt-Universität, wo auch Biermann in ganz und gar nicht selbstverständlichen Zeiten studiert hatte, entdeckte ich seinen aktuellen Lyrik-Band „Heimat. Neue Gedichte“. Inzwischen bei Hoffmann und Campe verlegt, nicht mehr bei Kiepenheuer. Bei Campe veröffentlichte auch Heine seine neuen Gedichte. Und seinen Heimkehr-Zyklus.
In „Heimkehr nach Berlin Mitte“ schreibt Biermann „Ich bin Legende ohne Totenschein“. In „Biermanns Bilanzballade im elften Jahr“ heißt es am Ende: „Ich lebe und stehe nun splitternackt / Mal wieder am Anfang und weine beim Lachen.“
Manchmal schreibt er mir aus dem Herzen, klingt ein Vers lange nach.
Ich zahlte 8,-€ dafür und ging mehr als reich beschenkt in den Tag.