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Mittwoch, 22. Januar 2003

048 | Dresdener Bilderflut

Vor kurzem war ich im Alten Museum zur Gemäldeschau. Dort ist nämlich und noch bis zum 28. Februar das, was an bildhaftem und standfestem Kulturgut vor der Sommerflut gerettet wurde, zu sehen: Bilder und Skulpturen alter europäischer Meister, wie Caneletto mit seinen berühmten Stadtansichten – von Dresden in dem Fall. Daneben einige klassische Ideallandschaften mit Schäferidylle, viele Porträts á la Rembrandt mit Lichteffekten vor dunklem Grund oder welchen wie mit dem Weichzeichner bearbeitet – von Tintoretto, Tizian und Pesne.
Interessant fand ich die Jagdmotiv-Stilleben. Was im 17. Jahrhundert so alles gefangen (und gegessen) wurde! Beispielsweise Singvögel: Finken, Stieglitze und Amseln, aber auch Sperlinge und Eisvögel. Der Rest blieb für Kinderlieder, Vogelhochzeiten und die Katz.
Rund 140 Gemälde und doppelt so viele Besucher sah ich mir an. Mindestens. Vornehmlich Antiquitäten aus Reisebussen, die man ausgekippt zu haben schien. Entweder waren die Rentner zu langsam, zu orientierungslos oder mit ihren Köpfen viel zu dicht vor den Dresdener Spezialitäten.
Wenn dadurch der erhabene Eindruck nach dem dreißigsten Bild nachzulassen droht, macht es mir oft Spaß, die Bilder mit ganz anderen Auge zu betrachten. So auch im Alten Museum (im Alten-Museum!). Die Ölgemälde der schönen polnischen Damen zum Beispiel. Hat der Maler mit der Gräfin von Orginska geflirtet? Oder mit der Fürstin Lubomirska? Haben die Perückenträgerinnen bei den Sitzungen rumgezickt? Gab es damals schon Windmaschinen im Atelier oder warum flattern die Gewänder so luftig? (Natürlich weiß ich, dass das mit den Windmaschinen Blödsinn ist.)
Oder ich achte auf Unstimmigkeiten (wie beim Film – ob das Mikro ins Bild hängt). Rubens pralle Meeresnymphen bleiben beispielsweise im tosenden Sturm so trocken auf ihren Wellen sitzen wie die Modelle auf dem Kanapee des Künstlers. Kein Tropfen Salzwasser - kein Special-Effect. Nun könnte jemand sagen, das sei gewollt, aber da bin ich auch schon weiter, stehe vor dem „Großen Stilleben mit Hund und Katze“ (Utrecht 1647) und stelle mir eine richtig barocke Party vor. Ist ja alles da: Ein üppig gedeckter Tisch in leuchtenden Farben, kostbares Silbergeschirr, Obst und Schalentiere, Musikinstrumente, ein großer Käse, ein Braten, ein Korb mit Weinflaschen. Und die fehlenden Menschen amüsieren sich bereits in Nebenräumen miteinander.
Oder ich stelle mir den Maler als Pedanten vor, der alles autistisch arrangiert, was seine Frau frisch auf dem Markt kaufen musste. --- Weil er ihren Shoppingstress nicht zu würdigen versteht, macht sie ihm eine Szene, während ihr Jüngster sich heimlich was vom Braten stibitzt ...
Manche Bilder bekommen ihren wahren Wert auch erst mit der hinter- oder vordergründigen Symbolik. Vanitas als Stichwort: Vergänglichkeit in Form angeknabberter Äpfel, Tod und Wahnsinn als Fliegen, irdisches und überirdisches Leben als Raupe und Schmetterling. Aber auch das kann mit der Zeit zu ernst und langweilig werden. Dann kommen Bilder wie das des „Vogelverkäufers“ gerade recht. Da bietet ein alter Sack einem zarten Mauerblümchen einen Hahn zum Verkauf an. Ja und? Man deutete (und deutet) Derartiges immer als eindeutiges Angebot, als unanständigen Antrag. Weil der Hahn Potenz verkörpert. Sieh an!
Überhaupt die eindeutig doppeldeutigen Bildaussagen! Lauter Lust in antiken Götterszenen. Und von der Zensur abgesegnet. Von der Zensur! Dabei sollte so viel Sinnlichkeit ausgereicht haben, nicht nur die Renaissance hervorzubringen, sondern auch das keusche Christentum abzuschaffen. Jawoll! --- Ich muss nur an das Bild denken, wo drei spitz- und schlitzohrige Satyrn beim Anblick der Jagdgöttin vor Geilheit beinahe vergehen. Und wie hat wohl die Fürstin von sowieso auf ein solches Bild, mit dem ihr Hausherr eines Tages ankam, reagiert? Sagte sie:
a) Ich verstehe eh nichts von Kunst.
b) Typisch Mann!
c) Ja, ja, die Griechen ...
Oder wurde ihr heiß unter dem Korsett - oder war sie es gar, die das Gemälde in Auftrag gegeben hatte?! Wahrscheinlich ist, sie kaufte eines der kleineren Bilder, in denen Liebespaare in Parklandschaften sitzen. Und wo die Männer immer eher pausbäckigen Knaben als feurigen Lovern ähneln. Dann saß die Fürstin bei einer Tasse Tee davor, blätterte in einem Buch mit anakreontischer Lyrik und seufzte, weil sie an ihren Vernunftsehegatten dachte, der gerade bei der Vogeljagd war. - Um die Beute später der Köchin zum dünsten und deuten zu geben. Naja, man weiß es nicht.
Wenn übrigens mal eine Ausstellung nichts hermacht, lohnt es immer noch, sich der(un)artige Gedanken über die Besucher zu machen oder das Aufsichtspersonal herauszufordern. - Man muss ihnen bloß sein „Lieblingsbild“ zeigen, indem man begeistert mit dem Finger drauftippt.

Samstag, 4. Januar 2003

047 | De la Guarda

Nachdem ich an genügend „De-la-Guarda“-Plakaten (mit dem fliegenden gelben Männchen) vorübergegangen war und einiges in Zeitschriften über die Luftakrobaten aus Buenos Aires gelesen hatte, sah ich sie mir gestern Abend im PankowPark an.
Atemberaubend schon der Eintrittspreis - zwischen 39,- und 49,- €. Vom selben Kaliber die Restaurant- und Barpreise. Das Fläschchen „Heinecken“ zu 3,50 € . Eigentlich 5 Chips, denn – warum auch immer – eingetauschte Chips waren in der ehemaligen Bergmann-Borsig-Generatorenhalle das einzig akzeptierte Zahlungsmittel (der Chip zu 70 Cent).
Unabhängig vom Preis (oder gerade nicht) hatte alles Stil. Das asiatisch inspirierte Essen im umgebauten Schaltstand der Industriehalle, daneben die Lounge, wo sich auf einer Art Autorücksitzen entspannt Cocktails schlürfen ließen. Vor oder nach der Show.
Das Publikum war gemischt, ein paar Ältere, ein paar Teenager, vor allem jedoch Mittdreißiger.
Nach einem Fotoapparat- und Handyverbot wurde noch vor künstlichem Nebel und Regen gewarnt, dann ging es in den mit rotem Samt verhangenen Showraum. Die Zwischendecke war aus Papier und das Licht plötzlich aus. Ein Gefühl wie im Planetarium. Waberndes Wummern und sphärische Klänge. Geheimnisvolle Schattenspiele. Und jede Menge ausgeworfene Assoziationsköder: Balinesische Schattenspiele – nein, doch ganz anders. Bunt phosphorisierte Tropfen da oben, wie ein nächtlicher Sternenhimmel, ja, aber - doch ganz anders.
Spontaner Beifall, immer als Standing Ovation, der fehlenden Stühle wegen. Luftballons, erst bunt, dann knallig, prasselnde Murmeln, später Konfetti. Kinderparty mit Animateuren im Darkroom für alle.
Schon bekam die magische Butterbrotpapierdecke Löcher und Risse, allerdings ohne die graue Wirklichkeit hindurchzulassen. Im Gegenteil! Die ersten vier verrückten Freeclimber ließen sich zu den eingepferchten Zuschauern herab, entführten auch mal eine junge Frau nach oben. So stand es bereits in der Zeitung. Und immer Lärm. Halbgötter auf Extacy, mit Trillerpfeifen und Trommeln, mit Headset und vom Wasser nassen Klamotten. Sexuelle Energie und drogenfreier Farbrausch, professionell verwirrend. Die Halbgötter drehten sich in der Luft an Seilen, schwangen wie Tarzan von hüben nach drüben und rannten wie Pipi Langstrumpf die Wände lang, trampelten aggressiv und aufreizend, rissen aus der Luft nass, aber feurig die geerdeten Zuschauer mit, die es nach Ablenkung, Spaß oder Erlösung verlangte. Von den beiden, die sich gegen Wasserspritzer einen mitgebrachten Müllsack über die Köpfe hielten, einmal abgesehen. Jeder schnappte nach den Assoziationsködern, danach, was sich letztlich nicht zum Ganzen fügte. Kein Konzept, so stand es im „Spiegel“, glaube ich. Aber das machte nichts. Einerseits. Wozu aber die inszenierten Bilderrätsel, die nicht nur nach Spaß, sondern auch nach Interpretation aussahen? Wie ein Zirkus-Gemälde von Hieronymus Bosch.
Vor vielen Jahren war ich mit einer guten Bekannten im Theater, hatte das Stück aber nicht verstanden. Meine gute Bekannte dagegen schon. Auf die Frage, ob sie mir das Ganze erklären könne, lächelte sie und meinte, das könne man nicht. --- Daran musste ich gestern denken. Ich glaube, man kann das, was man verstanden hat, immer erklären. Nur macht es nicht immer Sinn, das auch zu tun. Nicht sofort. Für sofort reicht im besten Fall ein beseeltes Lächeln. Im Nachhinein war die Show für mich eine Patchwork-Parabel auf das Leben. Die Konzeptlosigkeit als Konzept. Weil – im doppelten Sinne und im sinnlosen Chaos – alles geht. Chaos, in das jeder für sich Ordnung reinbringen kann – oder es sein lässt. De la Guarda – Anarchie, um mit dem Verstand zu fühlen und mit dem Herzen zu denken. De la Guarda - Faszinationen & Urängste, Stille in Momenten, die sich nur ansatzweise fassen lassen & viel Lärm um alles oder nichts. Jeder sah, was Erfahrung und Bildung hergaben: ein Verlassener im Regen, geknechtete Seelen im Fegefeuer, ein Läuferpaar im Geiste Sissyphos’, die Wiederholung als Fluch und Segen, der Lauf, die Bewegung überhaupt, als Selbstzweck. Formelhaft: Leben ist Energie ist Bewegung ist Tanz ist Extase.
Der Zuschauer gespalten: der eine steht und deutet, der andere deutet bewegt an:
„Halt die Klappe, Klugscheißer!“
Und zwischen den gespaltenen Zuschauern konfrontierten die Akteure ihre betrachtenden Statisten mit sich als Projektionsflächen, forderten zum Tanz auf, machten glauben, dass jeder fliegen könne, wenn er es nur wolle.
Ihre aufwendig inszenierte, wenn auch simple Philosophie: Leben ist, was du daraus machst.
Und nach 70 Minuten war der Spaß zu Ende. Applaus und Hochachtung für die magischen Motivationstrainer aus Argentinien. Dann zurück nach Deutschland.

Donnerstag, 2. Januar 2003

046 | Silvester in Hamburg

Innerhalb der letzten 3 Tage mit dem Auto 1300 km zurückgelegt. Bei Sonnenschein, Regen, Schnee und – gestern – Blitzeis. Reicht erst mal. Das neue Jahr will ich nun etwas ruhiger angehen. Das alte ließ ich in Hamburg ausklingen, in einem großen Atelierraum eines ehemaligen E-Werks.
Wenn man bei 10 Leuten von einer Party sprechen kann, dann war es eine. Sehr entspannt und irgendwie das Beste, was ich von Silvesterpartys kenne. In den Fenstern standen unzählige brennende Kerzen. Es muss von den vorbeifahrenden S-Bahnen da draußen wunderschön ausgesehen haben; und ich war froh, auf dieser Seite der Fenster zu sein, an einer langen Tafel zu sitzen, umgeben von netten, jungen Menschen. Malern, Architekturstudenten, Designern, Fotografen ...
Es gab eine Minestrone, ein Fischcurry, eine Frucht-Mousse zum Dessert und natürlich jeder Menge Prosecco („Frivolino“!). Die Gastgeber hatten alles bis ins kleinste Detail liebevoll vorbereitet, von blühenden Deko-Zweigen bis hin zum Zigarrentischchen. Übrigens kommt es mir gar nicht mehr so befremdlich vor, wenn Frauen Zigarren rauchen. Nur küssen möchte ich sie nicht.
Dass Mitternacht immer näher rückte, war mir im Grunde egal; so wie mir irgendwann das Feuerwerk oder „Dinner for one“ egal wurde. Hauptsache Silvester eine Party und ab Weihnachten nicht allein. Der Rest findet sich. Bloß keine geklonten Rituale!
Zwischen den Menü-Gängen und verdaulichem Smalltalk bei Morcheeba-Musik hörte ich, wie eine spröde Blondine, die seit ein paar Jahren in Barcelona wohnt, über spanisches Essen sprach. Es ging gerade um eine helle Soße:
„Die sieht aus wie Sperma“, sagte sie. „Aber schmeckt eigentlich ganz gut.“
Dabei ihr etwas nüchternes Gesicht.
„Ach so“, entfuhr es ihrem irritiert schluckenden Tischnachbarn.
Dann fuhr die nächste S-Bahn vorüber.
In einer Atelierecke stand ein gelb-grünes Bild auf einer Staffelei. Es zeigte vier Knaben im Schlüpfer mit Sonnenbrille, die eine Höhlensonne umstanden, also den Prototypen einer Sonnenbank. Das Bild wurde wiederum von einem 50er-Jahre-Strahler angeleuchtet. Merkwürdig worauf Maler so kommen.
Später, bereits im neuen Jahr, durfte sich jeder aus der Schatzkiste des Künstlers ein „Bild“ aussuchen. Abstrakte Abfallprodukte, die jeden, der nicht genügend „Frivolino“ getrunken hatte, ein wenig verschämt dabei wirken ließ. Als wüsste niemand so recht, ob er sich für einen Gewinn oder eine Niete entschieden habe.
Um zwölf stießen wir mit Champagner an. Und ich kann sagen: Der frivole Prosecco hat mir besser geschmeckt.
Zu meinem Glück musste ich diesmal nicht die anderen Gäste umarmen oder vor das Haus, um frierend in den Himmel zu starren. Und als ich auf meinem Platz eingeschlafen war, weckte mich vorerst auch keiner, um mich zu fragen, was ich mir so vorgenommen habe für 2003. Man ließ mich einfach weiterträumen.