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Sonntag, 27. September 2009

103 | Crossover

Wahlsonntag. Morgens, halb sieben. Die U-Bahn schüttelt die letzten Säufer raus: Rotäugige Pubertierende, nicht älter als fünfzehn, mit MP3-Autismus oder Handydisco. Am Alexanderplatz stoben Krähen wie Aasgeier auf. Erbrochenes und Zerschlagenes bleibt vorerst liegen. „Schwarz zu blau“ singt Peter Fox. Klingt beinahe nach einem Koalitionsstatement.

Nach sieben Jahren, hörte ich einmal, sollen alle Atome unseres Körpers durch neue ersetzt worden sein. Keine Ahnung, ob es so eine Rundumerneuerung tatsächlich gibt. Wir altern ja trotzdem. Mit Berlin verhält es sich ähnlich. Nach sieben Jahren bleibt alles anders. Straßen werden aufgerissen und vernarben, Häuser verschwinden und entstehen. Berlins Aasgeier fressen von der Prometheus-Fettleber des Wappentanzbären als wäre es Kavier.

Mittags. Im „Monsieur Vuong“, dem vietnamesischen Restaurant in der Alten Schönhauser, brennt eine der Kellnerinnen für ihre Hausgötter drei Räucherstäbchen an. „Glaubst du ans Schicksal?“, fragt sie den Barkeeper. Der zuckt mit den Schultern.
Es ist nett hier, finde ich. Es ist leer. Aus den Lautsprechern schwoft Tango Argentino in die Kulisse, die wie eine sonnige Erinnerung mit Filmmusik sich selbst feiert.
Ist schon mal jemandem aufgefallen, dass der Tango aus „Schindlers Liste“ mit dem Tango aus „Der Duft der Frauen“ identisch ist? Ein Tango, den man vielleicht nur wahrhaftig fühlen oder tanzen kann, wenn man die entscheidenden Erfahrungen seines Lebens bereits gemacht hat. Es ist ein Tango Argentino von Carlos Gardel: „Por Una Cabeza“. 1935, als das Stück aufgenommen wurde und Gardel sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere befand, stürzte er mit einem Flugzeug ab. Bildhafter geht´s nicht.

Nachmittag. Im „Keyser Soze“ (Tucholskystr. 33) gibt es Frühstück bis 18.00 Uhr, wenn die Wahllokale zur Abendbrotzeit schließen. Alles geht und gilt eben wenig. Alles ist Stilmix, wie die Musik: Sade feat. Carlos Santana (zumindest klingt es so). Oder wie die Bestuhlung: Abgeranztes aus der Kaiserzeit vs. Panton Chairs. Wie wär´s, kommt es mir in den Unsinn, wenn jeder zu wählende Abgeordnete seinen zu ihm passenden Sitz aus dem Vitra-Designmuseum geliehen bekäme? Eben Kayser-Sozen-Stilmix kontra Einheitssoßen-Wahlversprechen.

Früher, als es noch einen Kaiser und einen Tucholsky gab, hieß die Straße Artilleriestraße. In der Nummer 31 befand sich eine Synagoge, in der Nummer 16 eine Kneipe. Die sich daran noch erinnern, werden wohl immer weniger.
Und der Rest? Berlin sieht nicht so aus, als würde die Stadt sich vom Sommer verabschieden wollen. Man nimmt die Nachmittagssonne so selbstverständlich hin wie die zahlreichen Touristen, die den Hackeschen Markt und die Oranienburger bevölkern.
Im Monbijou-Park, wo einmal ein Schloss stand, sonnen sich sogar noch einige. Andere fotografieren, Einheimische grillen.
Aber das Krähengekrächze wird immer aufdringlicher. Es klingt nach Blätterfall und nach November. Das Kommende ist bekannt. Nach der Wahl ist vor der Wahl.
Ich bin müde und gehe dennoch meine zwei Kreuze machen. Drei wären mir allerdings lieber.