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Samstag, 29. Januar 2005

075 | Frau Adriana und Monsieur Vuong

Vorgestern war ich mit meinem Freund Peter zum Billard verabredet. Und zum Bier. Deshalb wollte ich mit der S-Bahn in die City fahren. Draußen lag Neuschnee und machte die Welt friedlich und den Blick milde: Kindheitserinnerungen. Weihnachtslichter. Und die Spuren vorsichtig Eilender.

An einem Haus klebten halbe Schneebälle. Das orange Rundumlicht eines Räumfahrzeuges leckte hecktisch wie der Putzteufel darüber. Aber alles blieb doch, wie es war: ein wenig Fassade und offene Stille. Nur die Gedanken vereinzelter Fußgänger schlossen manch Haustür und sahen durch Fenster, mal nach innen, mal nach außen. Meine Gedanken blickten zurück und ärgerten sich über Frau Adriani, während meine Füße wie gewöhnlich weitergingen.

Frau Adriani hatte eben noch in der Nähe des Schlosses Gripsholm die kleine Ada gequält. Sie war eine böse Frau, nicht nur zu Kindern. Dass sie es aber vor allem zu Kindern war, machte das Warum unerheblich. Dass andere Frau Adrianis Bosheit still duldeten, machte das Warum jedoch dringend erforderlich. --- Solche Gedanken machten sich meine Gedanken, statt sich schlicht auf einen schönen Abend zu freuen. Und sie lutschten wie an einem Eiszapfen an Tucholskys Satz, dass Gleichgültigkeit nur der Mangel an Phantasie sei. Ein bemerkenswerter Satz, fanden meine Gedanken und sahen aus dem Fenster: Die S-Bahn kam.
Vielleicht ist Gleichgültigkeit aber auch wie ein Erschöpfter im Schutz einer Mauer; dem die Augen ständig zufallen, obwohl oder weil er weiß, dass er wie meine Füße weiter muss. --- Nein, eigentlich nicht. Gleichgültigkeit bleibt Mangel an Mitgefühl; eine Mangelerscheinung auf jeden Fall. Man spart sich die Gefühle ("Geiz ist geil!") für sich selbst, statt sie gedankenlos woanders zu investieren. So dachten die Gedanken und wurden auch noch vom Gefühl angefeuert. Dabei gab es keinen Grund dafür außer Tucholskys Sommergeschichte, die ich mir im Übrigen ganz anders vorgestellt hatte. Besser gesagt, ich hatte sie mir gar nicht vorgestellt, wollte sie nur immer mal lesen, obwohl der Titel mir nicht gefiel.
Im S-Bahnabteil saßen Menschen, die nicht schnell genug nach Hause oder von dort wegkamen. Einige schienen die S-Bahn nie zu verlassen, dachte ich kurz von Gripsholm weg, während sich jemand erhob. Eine Frau, die vom Gesichtsausdruck her die Adriani zu parodieren schien. Da war sie wieder! Aber keine kleine Ada weit und breit, die es zu beschützen galt.

Im Billardsalon "Köh" (Sophienstraße 6), einer Art Separee der Hackeschen Höfe, ging es gemütlich zu, obwohl alle Tische besetzt waren. Peter stellte wie beim letzten Mal fest, dass er schon eine Ewigkeit nicht mehr gespielt hatte. Wie ich. Das letzte Mal war ja auch mit ihm und vor gut einem Jahr. Oder waren es schon zwei? Und wie beim letzten Mal vor ein oder zwei Jahren lag ich manchmal vorn, verlor aber schließlich fast alle Spiele. Als wir vor zehn Jahren wider besseres Wissen Geld in Spielautomaten gesteckt hatten, wenn wir auf Kneipentour waren, lief es genauso: Peter drückte mir die Daumen - und gewann. Die Münzen wurden natürlich sofort in Bier umgesetzt.

Nach zwei Stunden Billard hatten wir genug und Hunger. Wir gingen ins "Monsieur Vuong", einem Indochina-Restaurant (Alte Schönhauser Straße 46). Auf der Homepage (www.monsieurvuong.de) ist das gleiche Foto zu sehen, welches in groß an einer der roten Wände hängt. Das sei der Besitzer, meinte Peter, ein Jugendbild des Herrn Vuong. Der war wohl mal asiatischer Meister in irgend einem Kampfsport gewesen. Unter den Gästen, die wie alle rund um den Hackeschen Markt nach Multimedia aussahen, entdeckte mir Peter den großen Asien-Kämpfer: ein freundlicher, älterer Herr, der genoss, was er so erreicht hatte im Leben. Er war sicher Ende sechzig. Das Wandbild kam mir jedoch so gegenwärtig vor, weil es einen selbstbewussten, zeitlos-modern gekleideten Mann mit ordentlichen Oberarmen zeigt. Aber das war wirklich einmal, bestätigte die Kellnerin, der Patron des Hauses, als ich ungläubiger Thomas sie danach fragte. Jedenfalls brachte sie uns zwei Flaschen vietnamesisches Bier. Das schmeckte nicht so gut wie das Fass-Beck´s aus dem "Köh", aber dafür war das Essen lecker. Wenn auch ... Ich hatte Nudeln mit Rinderfilet bestellt und die Kellnerin auf meine Koriander-Phobie aufmerksam gemacht. Aber als sollte ich dagegen geimpft werden, schmeckte ich doch drei Stückchen von dem Seifenkraut heraus. Eines versteckte sich sogar zwischen meinen Zähnen und ärgerte mich später noch einmal, als wir zu unserem Absacker ins "Strandbad Mitte" rutschten (Kleine Hamburger Straße 16). Und wir rutschten tatsächlich: Erst schlug ich bei der Glätte lang hin, später Peter. Dazwischen bewarfen wir zwei Mädchen mit Schneebällen, die damit schon ohne uns angefangen hatten. Welch ein Spaß!

Das "Strandbad Mitte" heißt einfach nur so, baden ist nicht, auch kein Strand. Aber an lauen Sommerabenden sitzt es sich nett davor. Und wer da nicht genauso gut verträumt auf Häuser wie aufs Wasser blicken kann, muss zwar nicht gleichgültig sein, bekommt in Sachen Phantasie aber trotzdem nur ein "Mangelhaft" von mir.

Im Winter sitzt man besser drinnen an der (Strand)Bar und trinkt einen Fingerbreit. Peter nahm Whisky, ich Wodka (im angeeisten Glas). Ich mag ja diese minimalistische Ästhetik des Hochprozentigen, dabei schmeckt mir das Zeug gar nicht. So ein Schnaps taugt mir höchstens einmal im Jahr zum Hinterkippen, nicht zum Genießen. Dafür lieber einen guten Wein. Was solls, ich plante wie jedes Jahr meine Angeltour(en) mit Peter und dachte, wie gut, dass wir noch nicht die alten Zeiten auswerten. Ich musste aber grinsen, als Peter nach ein paar Schlucken Whisky überzeugt behauptete, wir seien noch jung und die Welt stünde uns offen. Das klang nach spätpubertär oder frühreifer Midlifecrisis. Dabei geht´s uns beiden gut auf unserem beackerten Stück Land. Vielleicht sagte er deshalb das mit der offenen Welt, und vielleicht hatte er Recht damit. Wenn man sein "Land" nicht als Parzelle, sondern als Basiscamp betrachtet. Frau Adriani hatte ich jedenfalls vergessen. Ich war guter Dinge und bemühte mich gar nicht erst, zwischen all dem Zusammenhänge zu erkennen.

Montag, 17. Januar 2005

074 | Kreativpause

Über sieben Monate, die ich mich hier nicht mehr blicken ließ. Ich könnte sagen, ich hatte keine Zeit. Aber das wäre eine enttäuschende Rechtfertigung für die, die tatsächlich auf neue Tagebucheinträge gewartet haben. Deswegen möchte ich ein paar abenteuerliche Ausreden als Entschuldigung anbieten:

a) Ich befand mich in Indien, um die letzten Sinnsucher aufzufordern heimzukommen
b) Ich verdingte mich bei Harald Schmidt (Kreativpause!) als eine Art Eckermann mit Diktiergerät
c) Ich wartete nach "The Day after tomorrow" voller Depressionen im Bett auf das nahe Ende
d) Ich entwarf Pläne für einen Neuanfang
e) Ich versuchte einen Rekord im Riesenstein-den-Berg-Hochrollen (Abbruch nach 3 Monaten)
f) Ich lag 4 Monate wegen komplizierter Quetschungen und Zehenbrüche im Krankenhaus

Auf jeden Fall bin ich wieder im Spiel und füttere meine Flausen gerade mit Sonnenlicht und Meisengetschilpe.
Silvester war ich übrigens an der Ostsee: Lübecker Bucht. Ich hatte meine Habseligkeiten mit Seemannsgarn umwickelt und wartete in Grömitz an der Landungsbrücke auf ein Schiff, das kommen würde. Aber da waren nur Möwen, Schwäne fütternde Spaziergänger und Quallen im Flachwasser, die toter Mann spielten. Und es nieselte. Schließlich machte mich der Glühweingeruch aus einer Promenadenbude wieder zur Landratte. Eine Tüte Mutzen und drei Tassen mit Schuss, um den Jahreswechsel zu versüßen. Aber auf dem Schiff hätte es Rum gegeben, dachte ich mit glasigem Blick zum Horizont, Rum und Salzheringe mit Schiffszwieback. Wenigstens spürte ich allmählich das Mereswogen unter mir. Doch als ich an das Seebeben vor Sumatra dachte, war es aus mit der Seemannsromantik. Ich gab die letzte Glühweintasse ab und fuhr nach Berlin zurück.
Das inszenierte Leben aus Anspruch und Langerweile hatte mich wieder.
In der U6 gab es eine Schlägerei von Jugendlichen. Wie routiniert doch die übrigen Fahrgäste das Abteil wechselten. Zwei Stationen später standen vier weitere Idioten auf dem Bahnsteig (Alter und IQ lagen zusammen bei etwa 75). Sie schabten sich mit aufklappbaren Rasiermessern Muster in die ohnehin kurzen Haare und sahen aus, als hätte man Araber und Skinheads in einen Topf geworfen und einmal zu kräftig umgerührt.
Ungerührt fuhr ich weiter, zum "Sushi Circle" in der Französischen Straße. Immer wieder gut dort, wenn sie bei "All you can eat" auch die Preise angezogen haben (15,99 statt 13,99). Freunde, die mich begleiteten, meinten, das könne durchaus an meiner Gefräßigkeit liegen. Ich wollte widersprechen, hatte jedoch den Mund voll.
Hinterher kullerten wir alle wie gut gefüllte Maki-Röllchen ins Kino, um uns ironischerweise "Die fetten Jahre sind vorbei" anzusehen, mit Daniel Brühl aus "Goodbye Lenin". Nach anfänglicher Skepsis (Propagandagefahr und Wackelkamera) gefiel mir der Film immer mehr. Wegen der Mischung aus Ernsthaftigkeit und Humor. Es ging nicht vordergründig um Terrorismus (gegen Globalisierung und die "Diktatur des Kapitals"), sondern um Aufrichtigkeit und die Aufrechterhaltung von Idealen. Der Film war nicht nur spannend und machte Spaß (auch wegen der Unvorhersehbarkeit), er war auch Anstoß, den eigenen Lebensplan wieder zu hinterfragen ("Bin ich spießig geworden? Wie wollte ich leben? Wie lebe ich jetzt?"). Und sein Leben hinterfragen sollte man so regelmäßig wie prophylaktisch zum Zahnarzt gehen.