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Donnerstag, 2. Februar 2006

079 | Immer wieder Rügen

Hätte ich diesen Eintrag noch eine Weile rausgezögert, wäre mein Online-Tagebuch zum Jahresbuch geworden, was nach Größe und Vollendung klingt, nicht aber nach "keine Zeit" oder "Ich wollte mich ja ständig melden ...".

Das kennt man von Freunden. Und von sich. Deshalb trägt man es den Freunden nicht nach. Die mir darum hoffentlich auch verzeihen.
Ein paar Worte aus dem Kurzurlaub; wenn man so will: ein Brief von Rügen. ("Mensch, erzähl doch mal! Wie geht´s dir, was machst du?")
Im Winter herzufahren wird allmählich zur festen Größe für mich. 3 Tage Auszeit, ausschlafen, ausgehen. Diesmal jedoch an Krücken: Sprunggelenk gebrochen. ("Sag bloß! Du machst Sachen ...!") Ist nicht so wild; aber dadurch nehme ich die Ostsee nur wie fernes Rauschen wahr. Der anhaltende Nebel ätzt ohnehin alles nach 100 Metern weg. Keine Chance, den Horizont zu beschwören, diese Sehnsuchtslinie, die von Jahr zu Jahr immer wichtiger wird. Yin und Yang für Fernsichtige. Himmel und Wasser wie Hoffnung und Erinnerung. Die Schnittstelle davon sehen zu können, beruhigt ungemein. Aber so ... ("Jaja, aber nu erzähl doch mal weiter ...")

Der möwenweiße Strand ist trügerisch. Alles Schnee von gestern. Die Binzer Landungsbrücke bringt mich keiner Erkenntnis näher. Ein paar Eisschollen im Wasser, ein paar Enten, die abtauchen. Kannst du alles auch von einer Wetter-Webcam im Internet sehen.
Der Stadthafen von Sassnitz wirkt noch trostloser: vereiste Boote, die nicht auslaufen, ein Museums-U-Boot, ein Museum für Unterwasserarchäologie, ein italienisches Restaurant, eine Töpferei usw. ("Klingt doch gut!") Ja, was ist daran trostlos? Eigentlich gar nichts. Aber ich bin wie ein Kranker, der essen möchte, doch unter Appetitlosigkeit leidet. Mag an meiner Beingeschichte liegen, deretwegen mir die Sinne verschnupfen.
Interessant wird anderes: Sehen mich die Urlauber auf der Strandpromenade mitleidig an, wenn ich mich mit einem Rollstuhl durch den festgelaufenen Schnee quäle? Sehen sie mich neugierig an, kucken sie überhaupt? Sind die Hotellobbys, Cafès und Restaurants behindertengerecht? --- Ich komme mir dann wie ein Undercover-Agent der gedachten Stiftung "Behindertentest" vor. Wobei die mich da sicher rauswerfen (abschieben!) würden, wenn ich "behindert" sagte. Dabei könnte ich mit dem Blickwinkel eines halb außen Stehenden davon berichten, wie cool man sich auch im Rolli fortbewegt. Wie man rückwärts und vor allem gekonnt schnell in Fahrstühlen einparkt, wie gefährlich Krücken mit Gumminoppen auf Fliesen sind und wie "die Leute" reagieren, wenn man mit dem Rollstuhl allein in einer Fußgängerzone steht, den Kopf schräg legt und langsam Speichel aus einem Mundwinkel tropfen lässt.
Das habe ich natürlich nicht gemacht. Aber der Gedanke, es zu tun, hat durchaus etwas Reizvolles. ("Alter Spinner!")
Auf dem Weg nach Lietzow am Jasmunder Bodden sah ich viele Straßenkreuze vor den verhängnisvollen Alleebäumen. An manche Baumstämme waren weiße Kreuze gemalt. Unheimlich. In einer Kurve hingen über einem frischen Holzreuz viele rote Luftballonherzen an einer waagerecht gespannten Schnur. Wer hatte hier wen verloren? Waren an der Stelle die vier oder fünf Jugendlichen verunglückt, über die ich vor Wochen las, weil ihnen ein Betrunkener entgegenkam? Mein Fuß wird heilen.
Rügen. Im wahrsten Wortsinn steil abfallende Kreidefelsen – oder einsame Seelen. Hier und da eine Caspar-David-Friedrich-Eiche, Hügel - die im Norden nicht zu vermuten sind - unter Waldstückchen, von fernen Städtern sanierte Reethäuser, jede Menge Blitzkästen, im Winter geschlossene Fischräuchereien und überwiegend Hochdeutsch sprechende Dienstleister.
Wie gerne würde ich in einer Hafenkneipe einige „Swatter Haase“ gegen den grundlosen Ostseeblues kippen und sehnsüchtigen Shantys hinterherhören. („Nun ist aber gut! Gibt´s keinen besseren Ausgehtipp?“)
Wer heiter, gemütlich und stilvoll auf Rügen essen gehen möchte, der sollte nach Binz fahren. Entweder ins „Poseidon“ einkehren oder in die „Villa Salve“. In der Villa machen sich die weißen Tischtücher gut vor dem dunklen Holz und Messing der Lampen, die schlicht jugendstilig und maritim daherkommen. Durch den liebevoll entstaubten hundert Jahre alten Plunder, mit dem alles drapiert wurde, bekommt die vornehm-mondäne Ausstrahlung der Villa jene intime Note im Inneren, die den Gast gerne wiederkehren lässt. Das liegt natürlich auch an der perfekten Bedienung und den erstklassigen Gerichten: Ostseedorsch auf Kartoffelpüree, Steinbutt auf Spinat ... Dazu ein südafrikanischer Chardonnay. So kommt erst gar kein Blues auf. Der „Swatter Haase“ hinterher für die Verdauung ist eigentlich überflüssig. („Schon besser. Und sonst?“)
Sonst bleibt alles beim alten. Die See frischt auf, Sonne kommt raus und zieht die Horizontlinie neu, mit Kuttern und Fähren. Dann wird es Zeit für mich heimzufahren. Die Kamera kommt als letztes in die Tasche. Nicht ein Foto habe ich gemacht.