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Dienstag, 31. März 2009

099 | „Waiting for the sun“

„At first flash of Eden we raced down to the sea / Standing there on freedom´s shore“
(Jim Morrison)

Berlin, Alexanderplatz. Die Sonne blendet. Erster Lichtblick des Jahres.
Ein Trommler mit Bob-Marley-Mütze sitzt schattenlos unter dem Fernsehturm wie unter dem Baum der Erkenntnis. Er gibt den Rhythmus des Frühlings vor. Die Klarinettistin neben ihm seine Fernweh-Melodie. Das eine fährt in die müden Knochen, das andere ins Herz der Erinnerung.
Aber der größte Zauber geht von der Sonne aus. Die Wartenden an der Straßenbahnhaltestelle wirken überrascht, selbst wenn sie ihre Augen geschlossen halten: Noch trägt keiner seine Sonnenbrille. Sinne sind offen; Masken bekommen menschliche Züge.
Eine Bacchantin in engen Bluejeans lächelt vorüber. Sie weiß die Blicke vieler Wartender auf ihrem Hintern. Blicke von Männern und Blicke von Frauen. Blicke von Genießern.
Niemand sieht die vier Fassadenkletterer am Fernsehturm, die 70 m über der Bacchantin wie Raupen des Eichenprozessionsspinners hängen. Vielleicht sind es auch Satyrn. Vielleicht ein Reinigungskommando. Oder Greenpeace-Aktivisten, die ein Transparent entrollen wollen. Doch niemanden würde es interessieren. Nicht heute. Denn nach all dem Medienwinter ist heute die Sonne aufgegangen. Und alles drängt raus.
(„Sieh nur, sieh! wie behend sich die Menge / Durch die Gärten und Felder zerschlägt“ echot es durch zu schließende Schulen.)
Tram und Schritte werden magnetisch von Parks und Straßencafés angezogen. Alles lächelt und bestaunt das Sonnenwunder, als wäre Bacchus persönlich in der Stadt, um sein Evangelium der Lebenslust zu verkünden.
Bloß auf dem Wochenmarkt welken rote holländische Tulpen in der Blüte ihrer Tage. („Die heiß´n ´Pretty Woman`. Brauch´n nua etwas Wassa, dann werd´n se wieda.“) Weißer Spargel liegt aus. Und Erdbeeren gibt es noch vor der Zeit zum Schleuderpreis.
Im Park jagen losgelassene Hunde vom Winterbrot fett gewordene Enten. Aus krustiger Wurzelrinde quellen lava-artig Feuerkäfer hervor und erstarren im Licht. Weiter oben durchbrechen Kastanienblätter klebrigbraune Knospen.
Darunter sitzen die Mädchen auf Bänken. Sie lesen oder schreiben Gedichte. Auf der Wiese zu ihren Füßen liegen die Männer im T-Shirt, gehen die Kroküsschen auf.
Als hätte Amor mit tausendfachem Beschuss Land & Leute befruchten wollen, ragen zig Frühblüher wie die Befiederung der Liebespfeile aus dem Boden. So keimen auch die Gefühle, so blühen die Blicke.

Berlin ist berauscht. Und du? Wie war dein Tag?

„Can´t you feel it, now that spring has come / That it´s time to live in the scattered sun“
(Jim Morrison)

Sonntag, 15. März 2009

098 | Kaminer im KNOTONI

„Mit ironischem Augenzwinkern“, heißt es auf der Homepage des Kinos Toni, „liest und erzählt Wladimir Kaminer Geschichten aus dem Leben.“ Sonnabend, 20.00 Uhr. Ich stellte mir Kaminer mit so einem nervösen Augenzucken wie bei Harald Schmidt vor und wollte vor allem sehen, wie er damit lesen kann. Also fuhr ich gestern zum Weißenseer Antonplatz.
Die neonroten Leuchtbuchstaben des Kinos waren schon von der Straßenbahn aus zu sehen. Aber nicht alle. Das „I“ von KINO hatte sich verabschiedet und das „O“ sah angebissen aus. KNO TONI stand über dem Eingang. Knotoni, klingt wie ein Pastagericht.
Darunter hatte sich eine Schlange gebildet, für vorbestellte, aber nicht abgeholte Karten. Ich hatte meine bereits ein paar Tage zuvor gekauft und ging entspannt an den Wartenden vorbei.
Weil im Saal bereits um 19.30 Uhr alle Plätze besetzt waren, musste ich auf die Galerie ausweichen. Von dort oben konnte ich nur mit gerecktem Kopf in weiter Ferne ein Caféhaus-Tischchen mit Stuhl und grüner Nachttischlampe vor rotem Samtvorhang ausmachen. Die Leute hinter mir sahen bloß den Kinovorhang. Dann kam der Schriftsteller. Auf seinem T-Shirt stand programmatisch „Russendisco“. Darüber glitzerte ein roter Stern. Russendisco und Kaminer gehören zusammen wie früher der Kreml mit seinem roten Stern. Aber das war einmal.
Der seit 19 Jahren in Berlin („am Mauerpark“) lebende Schriftsteller hatte ein Herz für uns Zwangsgaleristen und setzte sich nicht. Er stand die ganze Stunde lang vor einem Mikrofonständer und sorgte durch seine vorgelesenen Geschichten und Stegreif-Anekdoten genauso für gute Unterhaltung wie durch seine bodenständige, humorvolle Art („Möchten Sie mich etwas fragen?“). Das ironische Augenzucken konnte ich trotzdem nicht erkennen. Den Tisch nutzte er nur zum Abstellen seines Sekt- und Wasserglases.
Aus seinem neuen Buch „Es gab keinen Sex im Sozialismus“ las er kaum was („Das können sie schließlich selbst tun.“), dafür dieses und jenes von Computerausdrucken. „Möchten Sie jetzt etwas Altes oder Neues hören?“ - „Beides!“ kam die einhellige Antwort aus dem Publikum. Das war übrigens gemischt. Von Studentinnen über ältere Biedermänner war alles vertreten. Darunter auch eine Nervensäge, die genau hinter mir saß. Sie erklärte ihrer Freundin Pointen und schien mich mit ihrem lauten Lachen genickschussartig exekutieren zu wollen. Kaminer verriet in der Ferne, wie er auf den Titel seines neuen Buches kam. Anschließend las er einen aktuellen Text, der sich wie andere auch mittelbar auf die weltweite Finanzkrise bezog. Darin ging es um einen Alten, der sich regelmäßig zur Sparkasse schleppte, um sich von einem Filialmitarbeiter sein Schließfach öffnen zu lassen. Einmal bat er den auch, die enthaltene Kiste herauszuheben; ihm sei sie inzwischen zu schwer. Der nette Banker durfte sogar einen Blick in die Kiste werfen. Sie war randvoll mit Goldmünzen gefüllt.
„Nehmen Sie eine!“, forderte der Alte den Angestellten auf. Als der zögerlich zugriff, hielt er einen ALDI-Schokoladentaler in der Hand und der Alte freute sich. In der ganzen Kiste war nur Schokolade. Und eine Metallplatte darunter, wegen des Gewichts.
„Ich habe zwei Kinder“, sagte der Alte, „die sich nicht um mich kümmern. Deren Gesichter werden sicherlich wie Ihres aussehen, wenn sie einmal das hier erben werden ...“
Das Lachen der Nervensäge schreckte mich auf. Dann wurde geklatscht. Dann eilte alles zum Buchsignieren.
Ich ging entspannt an den Wartenden vorbei nach draußen, während das angebissene „O“ von KNOTONI ironisch in den verregneten Frühlingsabend zuckte.