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Sonntag, 1. November 2009

104 | 20 Jahre Mauerfall

Natürlich fiel sie nicht, die Mauer; genauso wenig wie es eine „Wende“ gab. Aber Wörter sind Gebrauchsgegenstände (um bei den unstimmigen Bezeichnungen zu bleiben) - je länger man etwas falsch wiedergibt, um so richtiger fühlt es sich an. Das gilt auch für Erinnerungen und für die eigenen Wahrheiten.

Ich will jetzt nicht schildern, wie ich am 9. November 1989 am Grenzübergang Bornholmer Straße erstmalig Westberlin betrat. Obwohl es nach all den bewegten Wochen zuvor mit der bedeutendste Moment war. Denn gleichzeitig begann etwas Neues und etwas Gegenwärtiges hörte auf. Etwas so Vertrautes wie die eigene Kindheit vielleicht. Aber ich war achtzehn und es war mir egal. Davon will ich etwas schreiben, vom Aufhören und vom Neuanfang.

Das meiste von dem, was aufhörte, werde ich nie vermissen: die linkisch zur Schau gestellte Macht provinzieller Kader, ihre vorgeschriebenen Denkmuster und genormten Wege, ihre Restriktionen. Die Uniformität und das lieblose Schulessen. Jeglicher Ostkult ist mir von daher suspekt.
Was ich aber vermisse, zumindest manchmal, wenn ich mir alte Briefe oder Tagebuchaufzeichnungen durchlese, ist die verschworene Gemeinschaft von einst, das Netzwerk Gleichgesinnter aus den Zeiten, als Politik nicht Wahlmüdigkeit, sondern Abenteuer bedeutete. Die Herbst-Demonstranten in Leipzig und Berlin bildeten eine Zweckgemeinschaft, und wir, meine Freunde und ich, waren ein Teil davon. Bilder dazu aus dem Fernsehen berühren mich noch immer.
Mit dem Fall des Systems, mit dem Fall der Mauer zerfiel auch diese Zweckgemeinschaft. Die Masse, die Menschenflut, verspritzte zu Tröpfchen, zu Individuen. Jeder begann nach dem 9. November persönliche Ziele zu verfolgen. Das ist auch gut so, bei Freunden nur eben schade.
Wir waren wie eine Schiffscrew, die gemeinsam Neuland betritt, sich aber schon am Strand aus den Augen verliert. Und traf man in den folgenden 20 Jahren einen von der alten Besatzung wieder, fragte man beim Bier nach diesem und jenem, dann begannen Sätze mit „Weißt du noch?“ oder „Damals“. Satzanfänge der Großeltern.
Selbst wenn sich die gesamte alte Crew heute wieder am Strand versammeln würde, wären doch alle durch ihre Nachwende-Erfahrungen isoliert, jeder von unterschiedlichen Erinnerungen und eigenen Wahrheiten gefangen. Von einem Leben, das sich mit seinen Gewichtungen natürlich nach vorn verschoben hat. Und dennoch: Es lässt einen nicht los, dieses „Damals“.
Das hat im Grunde genommen nichts mit dem Fall der Mauer zu tun. Retrospektive Wehmut gibt es zu fortgeschrittener Stunde bei jedem Klassentreffen. Aber bei uns endete die Schulzeit zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung. Darin liegt die Brisanz.
Die Crew an Bord, das waren meuternde DDR-Bürger. Will man sie jetzt wiedersehen, hat man keine Chance, weil es das Schiff mit den DDR-Bürgern nicht mehr gibt. Aus ihnen wurden Einzelkämpfer, private Conquestadoren. Manche blieben auch Strandläufer mit wehmütigem Blick zurück aufs Meer.

Damals. Damals waren wir Freunde auf dem abgetakelten „DDR“-Schiff. Mochten Independent-Musik und Punk. Dass wir auch zu Orgelkonzerten in die Kirche gingen, gehörte zu unserem Selbstverständnis dazu. Genauso wie das Schreiben von Gedichten, das Spielen von Schlagzeug oder Gitarre. Oder nichts dergleichen. Auch das. Aber wir waren Freunde, weil wir dieselben Konzerte besuchten und dieselben Kneipen, weil wir die gleichen Erlebnisse und Träume hatten. Weil wir uns hatten, weil wir ähnlich dachten, als wir träumten: Einmal Paris sehen, sich Kicks auf der Route 66 holen, The Cure live hören.
Wir meuterten, weil kein Wind wehte und kein Land in Sicht war, kein Paris und keine Kicks. Dann kam der stürmische Herbst. Wir fühlten uns wie Freibeuter, waren voller Aufbruch. Wir berauschten uns an nächtlichen Gesprächen und ernüchterten uns morgens mit Ironie und schlechten Witzen. Wir lauschten dem Meer in uns.
Als das Narrenschiff „DDR“ strandete, verlor sich die Crew aus den Augen. Nicht sofort und auch nicht alle. Und irgendwie doch.
Man machte sich auf, Neuland zu entdecken, die Liebe und sich selbst. Man wurde so oder so erwachsen. Heutige Spuren im Internet lassen einiges davon ahnen.

Und wenn man sich jetzt trifft, sich beim Bier in den Gesichtern der anderen spiegelt, sieht man vergangene 20 Jahre. Man sieht sie, aber man fühlt sie nicht. Man fühlt noch das Meutern. Und ist erstaunt, wie lange das her sein soll. „20 Jahre“, sagt man sich, „wow“. Es ist ein erstauntes „Wow“. Und eines, das ironisch wirkt. Wie ein plötzlich an Land gespülter Rettungsring mit der Aufschrift: „DDR“.

Gedichte schreibt schon lang keiner mehr. Die meisten kommen auch kaum noch zum Lesen. Nur einer hat im Selbstverlag Geschichten von damals veröffentlicht. Wow.
Aus dem Gitarristen ist ein Physiotherapeut und Vater geworden, aus dem langmähnigen Schlagzeuger ein Regisseur mit kurzen Haaren. Er inszeniert gerade „Als wir träumten“ von Clemens Meyer. Vor- und Nachwende-Erfahrungen ostdeutscher Jugendlicher. Es lässt einen eben nicht los. Und das ist, was uns noch immer verbindet, 20 Jahre nach dem Fall der Mauer.

Sonntag, 27. September 2009

103 | Crossover

Wahlsonntag. Morgens, halb sieben. Die U-Bahn schüttelt die letzten Säufer raus: Rotäugige Pubertierende, nicht älter als fünfzehn, mit MP3-Autismus oder Handydisco. Am Alexanderplatz stoben Krähen wie Aasgeier auf. Erbrochenes und Zerschlagenes bleibt vorerst liegen. „Schwarz zu blau“ singt Peter Fox. Klingt beinahe nach einem Koalitionsstatement.

Nach sieben Jahren, hörte ich einmal, sollen alle Atome unseres Körpers durch neue ersetzt worden sein. Keine Ahnung, ob es so eine Rundumerneuerung tatsächlich gibt. Wir altern ja trotzdem. Mit Berlin verhält es sich ähnlich. Nach sieben Jahren bleibt alles anders. Straßen werden aufgerissen und vernarben, Häuser verschwinden und entstehen. Berlins Aasgeier fressen von der Prometheus-Fettleber des Wappentanzbären als wäre es Kavier.

Mittags. Im „Monsieur Vuong“, dem vietnamesischen Restaurant in der Alten Schönhauser, brennt eine der Kellnerinnen für ihre Hausgötter drei Räucherstäbchen an. „Glaubst du ans Schicksal?“, fragt sie den Barkeeper. Der zuckt mit den Schultern.
Es ist nett hier, finde ich. Es ist leer. Aus den Lautsprechern schwoft Tango Argentino in die Kulisse, die wie eine sonnige Erinnerung mit Filmmusik sich selbst feiert.
Ist schon mal jemandem aufgefallen, dass der Tango aus „Schindlers Liste“ mit dem Tango aus „Der Duft der Frauen“ identisch ist? Ein Tango, den man vielleicht nur wahrhaftig fühlen oder tanzen kann, wenn man die entscheidenden Erfahrungen seines Lebens bereits gemacht hat. Es ist ein Tango Argentino von Carlos Gardel: „Por Una Cabeza“. 1935, als das Stück aufgenommen wurde und Gardel sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere befand, stürzte er mit einem Flugzeug ab. Bildhafter geht´s nicht.

Nachmittag. Im „Keyser Soze“ (Tucholskystr. 33) gibt es Frühstück bis 18.00 Uhr, wenn die Wahllokale zur Abendbrotzeit schließen. Alles geht und gilt eben wenig. Alles ist Stilmix, wie die Musik: Sade feat. Carlos Santana (zumindest klingt es so). Oder wie die Bestuhlung: Abgeranztes aus der Kaiserzeit vs. Panton Chairs. Wie wär´s, kommt es mir in den Unsinn, wenn jeder zu wählende Abgeordnete seinen zu ihm passenden Sitz aus dem Vitra-Designmuseum geliehen bekäme? Eben Kayser-Sozen-Stilmix kontra Einheitssoßen-Wahlversprechen.

Früher, als es noch einen Kaiser und einen Tucholsky gab, hieß die Straße Artilleriestraße. In der Nummer 31 befand sich eine Synagoge, in der Nummer 16 eine Kneipe. Die sich daran noch erinnern, werden wohl immer weniger.
Und der Rest? Berlin sieht nicht so aus, als würde die Stadt sich vom Sommer verabschieden wollen. Man nimmt die Nachmittagssonne so selbstverständlich hin wie die zahlreichen Touristen, die den Hackeschen Markt und die Oranienburger bevölkern.
Im Monbijou-Park, wo einmal ein Schloss stand, sonnen sich sogar noch einige. Andere fotografieren, Einheimische grillen.
Aber das Krähengekrächze wird immer aufdringlicher. Es klingt nach Blätterfall und nach November. Das Kommende ist bekannt. Nach der Wahl ist vor der Wahl.
Ich bin müde und gehe dennoch meine zwei Kreuze machen. Drei wären mir allerdings lieber.

Sonntag, 14. Juni 2009

102 | Was kochen

Sonntagmittag in Berlin. Durch das gardinenlose Küchenfenster räkelt sich ein sommerlicher Strandhimmel. Blasse Häuser sonnen sich unter Urlaubsfliegern, dazwischen verliebte Linden. Sie swingen zu Van Morrisons „Brown Eyed Girl“:
„Standing in the sunlight laughing, / Hiding behind a rainbow's wall, / Slipping and sliding / All along the water fall, with you / My brown eyed girl, / You my brown eyed girl.“
Der Abend gestern war gut und lang. Der Tag ist schön wie du, denke ich. Morgen ist bis morgen egal.
Ich setze den Pastatopf auf und schneide Fleischwurst in kleine Würfel. Es gibt heute keinen Sonntagsbraten, nichts Aufwändiges. Es gibt Spaghetti. Unser Studentenessen, bei dem jeder Handgriff sitzt und die Gedanken spielen gehen dürfen.
„Laughing and a running hey, hey / Skipping and a jumping ...“
Die Würfel in Olivenöl anbraten, eine gehackte Zwiebel hinterher. Frisch gemörserten schwarzen Pfeffer, eine zerdrückte Knobi-Zehe und getrocknetes Oregano. Und etwas Salz. Und etwas Zucker. Und überhaupt.
„Do you remember when we used to sing, / Sha la la la la la la la la la la te da ...“ Dosentomaten drüber, gefrorene italienische Kräuter rein. Es blubbert im Topf, als wäre da was einverstanden und wolle mitsingen.
„Making love in the green grass / Behind the stadium with you / My brown eyed girl /You my brown eyed girl/ Do you remember when we used to sing / Sha la la la la la la la la la la te da.“
Ordentlich Salz ins Nudelwasser, die Spaghetti aus der Packung hinterhergekloppt. Und die Blubbersoße umgerührt. My brown eyed girl. Du schläfst nebenan und träumst von sommerlichen Strandhimmeln, die uns gehören. Der Abend gestern war lang.
Ich öffne das Fenster, vermenge die Nudeln mit einer Gabel, damit sie nicht wie wir aneinander kleben. Habe ich dir je gesagt, dass ich dich liebe? Dieser Tag ist so wunderbar einfach wie ein guter Song zum Kochen. Die Soße noch etwas nachsalzen und Parmesan reiben. Ich werde dich jetzt wachküssen, my brown eyed girl.

Sonntag, 31. Mai 2009

101 | Mit Biermann am Alex

Heute sah ich mir zum zweiten Mal die Open-Air-Ausstellung „Friedliche Revolution von 1989/90“ auf dem Alexanderplatz an. Und traf dort Wolf Biermann.
„Schön, dass Sie da sind, Herr Biermann“, sagte ich im Vorübergehen. Aber ich war irritiert: Kein Kamera-Team, keine Kontroverse, kein Gefolge. Eine nette Frau war im Hintergrund an seiner Seite und machte am Ende ein Foto von ihm und mir, was ich peinlich berührt nett fand. Sie wolle es mir später zumailen.

Eigentlich wollte ich es bei diesem Schön-dass-Sie-da-sind-Satz belassen. Weil ich zwar einiges über ihn weiß und sogar Biermann-Prosa in meinem Regal stehen habe, aber er mich nicht mal ansatzweise kennen kann. Ich hatte große Lust, mich mit ihm zu unterhalten, doch dränge ich mich nur ungern auf. Aufdränger wird es in Biermanns Leben schon genug gegeben haben, dachte ich. Und damit meine ich nicht unbedingt die Herren von der Stasi. Aber dann kamen wir doch ins Plaudern, sprachen über alte DDR-Geister, die weder ihn noch mich loslassen.
Alexanderplatz. Hier fand am 4. November 1989 die Großdemonstration statt, bei der meine Oktober-Demo-Ängste einer November-Euphorie wichen. Biermann durfte an diesem Sonnabend nicht auftreten. Er war zur Ruhe gezwungen. Dabei streitet er doch so leidenschaftlich gern. Überhaupt, sagte Biermann, fühlte er sich bei dem ganzen Wirbel nach seiner Ausbürgerung wie im Auge eines Hurricans, wo Windstille herrscht. Zumindest auf den Aktionsradius bezogen. In ihm wird es jedoch gewaltig gestürmt haben. So sehr, dass die Nachwehen nie ganz aufhören und eine politische Wetterfühligkeit zurückbleibt.
(Ich finde es übrigens sehr sympathisch, dass er auch noch eine Gänsehaut bekommt, wenn das 89er Wendevolk den „Wir-sind-das-Volk!“-Imperativ skandiert.)

Wir sprachen über Ursachen von Revolutionen und davon, dass Krenz ´89 nur deshalb kein Remake des Tian‘anmen-Massakers inszenierte, weil die militärischen Einsatzmittel für die Menschenmassen nicht ausreichten. „Die hätten den Fleischwolf verstopft!“, sagte Biermann. Er liebt drastische Bilder. Außerdem hatte die Parteiführung bekanntlich keine Rückendeckung von den Russen: Wenn auch nur ein NVA-Panzer auf Demonstranten geschossen hätte, hätten die Russen ihrerseits den Panzer unter Beschuss genommen. „Ohne die Russen“, so Biermann, „wäre alles noch mindestens 20 Jahre so weitergegangen“.
Wo stünde ich dann heute? Hätte ich mich wie so viele mit den Verhältnissen abgefunden? Hätte ich weiter aufbegehrt? Meinen Jahrgang erlöste die Wende genau im richtigen Augenblick. Rückblickend fiel bei uns politisches Erwachen und erfolgreiches Aufbegehren zusammen. Wobei die einen mehr und die anderen weniger aufbegehrten. Nachdem auch noch die Mauer dem Überdruck eines willensstarken Volkes nachgab, schien alles möglich. Zumindest in den Augen eines 18-Jährigen. Zeit des Aufbruchs. Erst später ging mir auf, dass Aufbruch immer auch Abschied bedeutet. Abschied von liebgewonnenen Gewohnheiten und Menschen.
„Kuck mal“, sagte Biermann ernst vor einem großen Foto, das ihn ernst zwischen Jürgen Fuchs, Gerulf Pannach und Christian Kunert im August ´77 auf einem West-Berliner Balkon zeigt. Die drei waren nach ihm abgeschoben worden. „Zwei von ihnen sind bereits tot.“
Aber nicht Biermann. Er kam mir wie ein sehr lebendiger Wiedergänger zwischen den als Mauerzitat errichteten Ausstellungswänden vor. Um alles zu sehen, musste er mehrfach die Seiten wechseln. Als lebendes Sinnbild.

Das Beste an dem Gespräch mit dem Dichter war, dass er mich ernst nahm. Dass er sich aus Interesse mit mir, einem unbedeutenden Ausstellungsbesucher, unterhielt. Er tat es nicht nur, weil er Volksnähe demonstrieren wollte oder Werbung machte für seinen späteren Konzert-Auftritt im Deutschen Historischen Museum. Denn Heuchelei liegt ihm nicht, dagegen singt er sein Leben lang an.
Ich wünschte ihm und seiner Begleiterin schließlich alles Gute und schlenderte Unter den Linden entlang, um meine Eindrücke zu sortieren.
Unter den Linden. Wie selbstverständlich großstädtisch alles wirkt nach 20 Jahren. Überall kann ich Dinge, die man früher nicht kaufen konnte, in Restaurants essen. Kann an den Bücherständen der Humboldt-Universität Gedanken erwerben, die früher verboten waren. Ich kann sogar die Szenerie wechseln und das Land westwärts verlassen. Ganz selbstverständlich.
Vor der Humboldt-Universität, wo auch Biermann in ganz und gar nicht selbstverständlichen Zeiten studiert hatte, entdeckte ich seinen aktuellen Lyrik-Band „Heimat. Neue Gedichte“. Inzwischen bei Hoffmann und Campe verlegt, nicht mehr bei Kiepenheuer. Bei Campe veröffentlichte auch Heine seine neuen Gedichte. Und seinen Heimkehr-Zyklus.
In „Heimkehr nach Berlin Mitte“ schreibt Biermann „Ich bin Legende ohne Totenschein“. In „Biermanns Bilanzballade im elften Jahr“ heißt es am Ende: „Ich lebe und stehe nun splitternackt / Mal wieder am Anfang und weine beim Lachen.“
Manchmal schreibt er mir aus dem Herzen, klingt ein Vers lange nach.
Ich zahlte 8,-€ dafür und ging mehr als reich beschenkt in den Tag.

Samstag, 11. April 2009

100 | Usedom vor Ostern

Karwoche. Endlich Urlaub. Nach öfter Rügen einmal Usedom. Und das bei bestem Aprilwetter.

Wenn die Schwäne mit dem Sonnenaufgang ihre Nachtquartiere verlassen und rauschend auf der Ostsee landen, jogge ich zwischen den Seebrücken der drei Kaiserbäder, zwischen hochfahrenden Möwen, vertäuten Kuttern und stöckelnden Nordic-Walkern. An manchem Morgen kreuzt auch ein Nacktbader meinen Weg, wird ein toter Fisch oder Kormoran von prustenden Wellen angespült.

Nachmittags fotografiere ich im flaumgrünen, naturgeschützten Hinterland Tagpfauenaugen, Spechte, Falken und Hasen. Und uralte, gebrochene Bäume. Trügerische Oasen der Stille. Denn Touristen sind ganzjährig vor Ort, wenn auch noch erträglich. Und Verkäuferinnen, Restaurant- und Gutshofladenbetreiber, die von ihnen leben. So gut, dass sie es nicht nötig haben, freundlich zu sein oder ihr Preis-Leistungsverhältnis zu überdenken. Natürlich gilt das nicht für alle. Leckeren fangfrischen Fisch zum fairen Preis kann man beispielsweise im Restaurant „Fischstübchen“ in Neeberg lächelnd serviert bekommen. Obwohl gerade Usedomer Heringswoche ist, bestelle ich dort einen Ostseeschnäpel, den Steinlachs, der nur vor der Insel gefangen wird. Er schmeckt wie eine Kreuzung aus Zander und Lachs. Dazu ein Lübzer vom Fass.

In den Koserower Salzhütten, wo früher die Heringe am Strand in Fässern konserviert wurden, kann man wohl den besten Räucheraal der Insel kaufen. Mir schmeckt er zumindest besser als der aus Rankwitz, dem „Geheimtipp“ für Busladungen voller Pauschalurlauber. Dazu ein böhmisches Schwarzbier und ofenfrisches Schwarzbrot, mehr braucht es nicht. Allerdings steigt der Genuss mit einem Gang auf den benachbarten Streckelsberg noch einmal ordentlich an. Von der Steilküste aus versuche ich kauend Vineta zu entdecken, die vor Koserow versunkene Sagenstadt. Fischern von hier ging einmal ein Kruzifix aus dem 15. Jahrhundert ins Netz, das „Vineta-Kreuz“. Heute befindet es sich in der Koserower Dorfkirche.
Alle hundert Jahre, heißt es, soll Vineta am Ostermorgen auftauchen, um von einem Sonntagskind erlöst zu werden. Jetzt ist zwar Karwoche; doch wurde ich an einem Montag geboren. Also kein Vineta. Nicht mal seine silbernen Glocken läuten herauf.
Da sich die Bernsteinhexe ebenfalls nicht zeigt und der Aal verzehrt ist, wandere ich durch den Buchenwald in Richtung Kölpinsee.
Aber bald schon zieht es mich zur Südspitze des Gnitz, wo es am Rande eines weiteren Naturschutzgebietes einen weiteren Berg gibt - den weißen. Die 32 Meter hohe Kliffwand soll vom Achterwasser aus gut zu sehen sein, wie ein Rügener Kreidefelsen, nur kleiner. Unten die schweren Findlinge, oben leichtes Vogelgezwitscher. Die Leichtigkeit setzt sich mit dem Abstieg nach dem Wald fort: Über hügelige Magerrasenflächen geht es an Salzwiesen und Moorlandschaften vorbei. Das Auge blickt weit. Das Ohr lauscht den Hummeln in vereinzelten Bäumen.

Dann fahre ich auf eine Stippvisite nach Wolgast, der kleinen und vielleicht beschaulichen Stadt an der Peene; mit gemütlichen Anglern am Hafen, die vorleben, dass man Zeit verschwenden muss, um viel von ihr zu bewahren.
Den besten Kuchen soll es in der „Conditorei“ und dem „Café Arthur Biedenweg“ geben. Conditorei mit „C“ und Arthur mit „h“. Das deutet auf das fast 100-jährige Bestehen hin. Darauf ruht sich die Bedienung offenbar aus, als ich modernen Service einfordere: Sie kommt einfach nicht, obwohl ich längst zahlen will. Vielleicht ist sie auch zum Angeln am Hafen, denke ich. Aber immerhin stimmt das mit dem Kuchen, der ist hier sehr gut.
Dass niemand kommt, genieße ich wenig später allerdings im Heimatmuseum. Ungestört schlendere ich durch die drei Etagen des ehemaligen Lagerhauses aus dem 17. Jahrhundert, das vor 200 Jahren auch als Wirtschaft genutzt wurde. Ich lese von Stadtbränden und Zerstörungen im dreißigjährigen Krieg. Hier und da liegen neuzeitliche Grabungsfundstücke oder Hausrat von diversen Dachböden aus. Am meisten interessieren mich die Bilder des 1777 in Wolgast geborenen romantischen Malers Philipp Otto Runge, der wie ich gern Usedom und Rügen durchstreift hatte. Für die Brüder Grimm schrieb er das Märchen „Vom Fischer und syner Fru“ auf, bevor er mit Anfang dreißig an einer Lungentuberkulose starb. Im nächsten Jahr wiederholt sich sein Todestag zum zweihundertsten Mal.

Nicht weit vom Museum entfernt steht die Petri-Kirche, auf dessen 40 Meter hohen Turm ich steige, um mir Wolgast und seine Werft einmal von oben zu besehen. Da dort aber ein ordentlicher Wind weht, halte ich es nicht lange aus und steige über die enge Wendeltreppe wieder zum Kirchenschiff hinab. Erstaunlich, dass man dort von den letzten großen Stadtbränden, bei denen auch die Kirche brannte, keine Spuren mehr findet: Wandmalereien an Decken und Wänden, ein zweitklassig gemalter Totentanz-Zyklus und eine eingemauerte heidnische Steinplatte, der man als Gegenzauber ein Kreuz eingeritzt hatte.
Unter dem Altar befindet sich die Herzogengruft, wo der letzte Pommernherzog aus der Wolgaster Linie 1625 mit edelsteinbesetztem Goldschmuck beigesetzt worden war. Den großen Brand drei Jahre später hat er dort unbeschadet überstanden. Bis zum Ende des dreißigjährigen Krieges wurden in der Gruft sogar noch weitere Familienangehörige bestattet. Aber gut vierzig Jahre darauf kamen 1688 die Grabräuber und brachen Zugang und Särge auf. Sie durchwühlten sie derart, dass die sterblichen Überreste ordentlich durcheinander gerieten und der Schmuck schnell vergriffen war. Weil anderntags der Küster und der Totengräber von Wolgast nicht auffindbar waren, kam man ihnen und ihren Greifswalder Hehlern schnell auf die Schliche. Man setzte sie bald in Hamburg oder Danzig fest. Nur die kostbaren Grabbeigaben waren auf immer verschollen.
Die sanierten Särge aber kann man in der Gruft hinter einer Glastür besichtigen, was - wenn man sich allein in der Gruft befindet - fast ein wenig gruselig ist. Als ich mich zum Gehen abwende, entdecke ich an der linken Wand hinter den Särgen eine wie mit Ruß angebrachte Nachricht: „CE 1587“ steht zuoberst. Darunter:
„ICH CHRISTOFFEL EIRICH
HA TAS FIRSCHLICH
BEKREWIS GEMIE“
Demnach hat ein Christoffel Eirich die fürstliche Gruft erbaut, also das „Begräbnis gemacht“. Aber dass er es so an die Wand schreiben durfte ... Was sollte er auch machen? Anders als bei guten Malern, Musikern und Schriftstellern nimmt die Nachwelt von Maurern mit Architektur-Ambitionen nur dann Notiz, wenn man ihr selbige derart hinterlässt. Vielleicht hatte man Herrn Eirichs Versuch, nicht vergessen zu werden, zuerst überpinselt, bis es jetzt als historisches Kuriosum wieder lesbar gemacht wurde; selbst wenn es die Totenwürde fürstlicher Särge mit dem Wunsch nach Unsterblichkeit zu überschreien droht.

Karwoche. Bei dem Anblick der Särge wird mir immer mehr nach innerlicher Auferstehung zu Mute. Also fahre ich zum Ausgangspunkt meiner Wochenreise auf die Insel zurück, miete mir in Heringsdorf einen Strandkorb und staune, wie viele Urlauber dort vor dem Wasser inzwischen unterwegs sind. Sie scheinen aus dem Nichts zu kommen und selbst am Ziel ihrer Reise noch immer voller Unrast zu stecken. Der Anblick, über den die Möwen dümmlich lachen, gleicht mehr einer Völkerwanderung als einem Osterspaziergang. Es wogt vor den Wellen. Jeder scheint auf dem Weg zur nächsten Mahlzeit zu sein und verdeckt mir den Blick auf die See, auf die Ruhe, auf das Wesentliche. Da wird es auch für mich Zeit, äußerlich aufzuerstehen und wieder heimwärts aufzubrechen. Mit Staus in Richtung Berlin ist nicht zu rechnen.

Dienstag, 31. März 2009

099 | „Waiting for the sun“

„At first flash of Eden we raced down to the sea / Standing there on freedom´s shore“
(Jim Morrison)

Berlin, Alexanderplatz. Die Sonne blendet. Erster Lichtblick des Jahres.
Ein Trommler mit Bob-Marley-Mütze sitzt schattenlos unter dem Fernsehturm wie unter dem Baum der Erkenntnis. Er gibt den Rhythmus des Frühlings vor. Die Klarinettistin neben ihm seine Fernweh-Melodie. Das eine fährt in die müden Knochen, das andere ins Herz der Erinnerung.
Aber der größte Zauber geht von der Sonne aus. Die Wartenden an der Straßenbahnhaltestelle wirken überrascht, selbst wenn sie ihre Augen geschlossen halten: Noch trägt keiner seine Sonnenbrille. Sinne sind offen; Masken bekommen menschliche Züge.
Eine Bacchantin in engen Bluejeans lächelt vorüber. Sie weiß die Blicke vieler Wartender auf ihrem Hintern. Blicke von Männern und Blicke von Frauen. Blicke von Genießern.
Niemand sieht die vier Fassadenkletterer am Fernsehturm, die 70 m über der Bacchantin wie Raupen des Eichenprozessionsspinners hängen. Vielleicht sind es auch Satyrn. Vielleicht ein Reinigungskommando. Oder Greenpeace-Aktivisten, die ein Transparent entrollen wollen. Doch niemanden würde es interessieren. Nicht heute. Denn nach all dem Medienwinter ist heute die Sonne aufgegangen. Und alles drängt raus.
(„Sieh nur, sieh! wie behend sich die Menge / Durch die Gärten und Felder zerschlägt“ echot es durch zu schließende Schulen.)
Tram und Schritte werden magnetisch von Parks und Straßencafés angezogen. Alles lächelt und bestaunt das Sonnenwunder, als wäre Bacchus persönlich in der Stadt, um sein Evangelium der Lebenslust zu verkünden.
Bloß auf dem Wochenmarkt welken rote holländische Tulpen in der Blüte ihrer Tage. („Die heiß´n ´Pretty Woman`. Brauch´n nua etwas Wassa, dann werd´n se wieda.“) Weißer Spargel liegt aus. Und Erdbeeren gibt es noch vor der Zeit zum Schleuderpreis.
Im Park jagen losgelassene Hunde vom Winterbrot fett gewordene Enten. Aus krustiger Wurzelrinde quellen lava-artig Feuerkäfer hervor und erstarren im Licht. Weiter oben durchbrechen Kastanienblätter klebrigbraune Knospen.
Darunter sitzen die Mädchen auf Bänken. Sie lesen oder schreiben Gedichte. Auf der Wiese zu ihren Füßen liegen die Männer im T-Shirt, gehen die Kroküsschen auf.
Als hätte Amor mit tausendfachem Beschuss Land & Leute befruchten wollen, ragen zig Frühblüher wie die Befiederung der Liebespfeile aus dem Boden. So keimen auch die Gefühle, so blühen die Blicke.

Berlin ist berauscht. Und du? Wie war dein Tag?

„Can´t you feel it, now that spring has come / That it´s time to live in the scattered sun“
(Jim Morrison)

Sonntag, 15. März 2009

098 | Kaminer im KNOTONI

„Mit ironischem Augenzwinkern“, heißt es auf der Homepage des Kinos Toni, „liest und erzählt Wladimir Kaminer Geschichten aus dem Leben.“ Sonnabend, 20.00 Uhr. Ich stellte mir Kaminer mit so einem nervösen Augenzucken wie bei Harald Schmidt vor und wollte vor allem sehen, wie er damit lesen kann. Also fuhr ich gestern zum Weißenseer Antonplatz.
Die neonroten Leuchtbuchstaben des Kinos waren schon von der Straßenbahn aus zu sehen. Aber nicht alle. Das „I“ von KINO hatte sich verabschiedet und das „O“ sah angebissen aus. KNO TONI stand über dem Eingang. Knotoni, klingt wie ein Pastagericht.
Darunter hatte sich eine Schlange gebildet, für vorbestellte, aber nicht abgeholte Karten. Ich hatte meine bereits ein paar Tage zuvor gekauft und ging entspannt an den Wartenden vorbei.
Weil im Saal bereits um 19.30 Uhr alle Plätze besetzt waren, musste ich auf die Galerie ausweichen. Von dort oben konnte ich nur mit gerecktem Kopf in weiter Ferne ein Caféhaus-Tischchen mit Stuhl und grüner Nachttischlampe vor rotem Samtvorhang ausmachen. Die Leute hinter mir sahen bloß den Kinovorhang. Dann kam der Schriftsteller. Auf seinem T-Shirt stand programmatisch „Russendisco“. Darüber glitzerte ein roter Stern. Russendisco und Kaminer gehören zusammen wie früher der Kreml mit seinem roten Stern. Aber das war einmal.
Der seit 19 Jahren in Berlin („am Mauerpark“) lebende Schriftsteller hatte ein Herz für uns Zwangsgaleristen und setzte sich nicht. Er stand die ganze Stunde lang vor einem Mikrofonständer und sorgte durch seine vorgelesenen Geschichten und Stegreif-Anekdoten genauso für gute Unterhaltung wie durch seine bodenständige, humorvolle Art („Möchten Sie mich etwas fragen?“). Das ironische Augenzucken konnte ich trotzdem nicht erkennen. Den Tisch nutzte er nur zum Abstellen seines Sekt- und Wasserglases.
Aus seinem neuen Buch „Es gab keinen Sex im Sozialismus“ las er kaum was („Das können sie schließlich selbst tun.“), dafür dieses und jenes von Computerausdrucken. „Möchten Sie jetzt etwas Altes oder Neues hören?“ - „Beides!“ kam die einhellige Antwort aus dem Publikum. Das war übrigens gemischt. Von Studentinnen über ältere Biedermänner war alles vertreten. Darunter auch eine Nervensäge, die genau hinter mir saß. Sie erklärte ihrer Freundin Pointen und schien mich mit ihrem lauten Lachen genickschussartig exekutieren zu wollen. Kaminer verriet in der Ferne, wie er auf den Titel seines neuen Buches kam. Anschließend las er einen aktuellen Text, der sich wie andere auch mittelbar auf die weltweite Finanzkrise bezog. Darin ging es um einen Alten, der sich regelmäßig zur Sparkasse schleppte, um sich von einem Filialmitarbeiter sein Schließfach öffnen zu lassen. Einmal bat er den auch, die enthaltene Kiste herauszuheben; ihm sei sie inzwischen zu schwer. Der nette Banker durfte sogar einen Blick in die Kiste werfen. Sie war randvoll mit Goldmünzen gefüllt.
„Nehmen Sie eine!“, forderte der Alte den Angestellten auf. Als der zögerlich zugriff, hielt er einen ALDI-Schokoladentaler in der Hand und der Alte freute sich. In der ganzen Kiste war nur Schokolade. Und eine Metallplatte darunter, wegen des Gewichts.
„Ich habe zwei Kinder“, sagte der Alte, „die sich nicht um mich kümmern. Deren Gesichter werden sicherlich wie Ihres aussehen, wenn sie einmal das hier erben werden ...“
Das Lachen der Nervensäge schreckte mich auf. Dann wurde geklatscht. Dann eilte alles zum Buchsignieren.
Ich ging entspannt an den Wartenden vorbei nach draußen, während das angebissene „O“ von KNOTONI ironisch in den verregneten Frühlingsabend zuckte.