Natürlich fiel sie nicht, die Mauer; genauso wenig wie es eine „Wende“ gab. Aber Wörter sind Gebrauchsgegenstände (um bei den unstimmigen Bezeichnungen zu bleiben) - je länger man etwas falsch wiedergibt, um so richtiger fühlt es sich an. Das gilt auch für Erinnerungen und für die eigenen Wahrheiten.
Ich will jetzt nicht schildern, wie ich am 9. November 1989 am Grenzübergang Bornholmer Straße erstmalig Westberlin betrat. Obwohl es nach all den bewegten Wochen zuvor mit der bedeutendste Moment war. Denn gleichzeitig begann etwas Neues und etwas Gegenwärtiges hörte auf. Etwas so Vertrautes wie die eigene Kindheit vielleicht. Aber ich war achtzehn und es war mir egal. Davon will ich etwas schreiben, vom Aufhören und vom Neuanfang.
Das meiste von dem, was aufhörte, werde ich nie vermissen: die linkisch zur Schau gestellte Macht provinzieller Kader, ihre vorgeschriebenen Denkmuster und genormten Wege, ihre Restriktionen. Die Uniformität und das lieblose Schulessen. Jeglicher Ostkult ist mir von daher suspekt.
Was ich aber vermisse, zumindest manchmal, wenn ich mir alte Briefe oder Tagebuchaufzeichnungen durchlese, ist die verschworene Gemeinschaft von einst, das Netzwerk Gleichgesinnter aus den Zeiten, als Politik nicht Wahlmüdigkeit, sondern Abenteuer bedeutete. Die Herbst-Demonstranten in Leipzig und Berlin bildeten eine Zweckgemeinschaft, und wir, meine Freunde und ich, waren ein Teil davon. Bilder dazu aus dem Fernsehen berühren mich noch immer.
Mit dem Fall des Systems, mit dem Fall der Mauer zerfiel auch diese Zweckgemeinschaft. Die Masse, die Menschenflut, verspritzte zu Tröpfchen, zu Individuen. Jeder begann nach dem 9. November persönliche Ziele zu verfolgen. Das ist auch gut so, bei Freunden nur eben schade.
Wir waren wie eine Schiffscrew, die gemeinsam Neuland betritt, sich aber schon am Strand aus den Augen verliert. Und traf man in den folgenden 20 Jahren einen von der alten Besatzung wieder, fragte man beim Bier nach diesem und jenem, dann begannen Sätze mit „Weißt du noch?“ oder „Damals“. Satzanfänge der Großeltern.
Selbst wenn sich die gesamte alte Crew heute wieder am Strand versammeln würde, wären doch alle durch ihre Nachwende-Erfahrungen isoliert, jeder von unterschiedlichen Erinnerungen und eigenen Wahrheiten gefangen. Von einem Leben, das sich mit seinen Gewichtungen natürlich nach vorn verschoben hat. Und dennoch: Es lässt einen nicht los, dieses „Damals“.
Das hat im Grunde genommen nichts mit dem Fall der Mauer zu tun. Retrospektive Wehmut gibt es zu fortgeschrittener Stunde bei jedem Klassentreffen. Aber bei uns endete die Schulzeit zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung. Darin liegt die Brisanz.
Die Crew an Bord, das waren meuternde DDR-Bürger. Will man sie jetzt wiedersehen, hat man keine Chance, weil es das Schiff mit den DDR-Bürgern nicht mehr gibt. Aus ihnen wurden Einzelkämpfer, private Conquestadoren. Manche blieben auch Strandläufer mit wehmütigem Blick zurück aufs Meer.
Damals. Damals waren wir Freunde auf dem abgetakelten „DDR“-Schiff. Mochten Independent-Musik und Punk. Dass wir auch zu Orgelkonzerten in die Kirche gingen, gehörte zu unserem Selbstverständnis dazu. Genauso wie das Schreiben von Gedichten, das Spielen von Schlagzeug oder Gitarre. Oder nichts dergleichen. Auch das. Aber wir waren Freunde, weil wir dieselben Konzerte besuchten und dieselben Kneipen, weil wir die gleichen Erlebnisse und Träume hatten. Weil wir uns hatten, weil wir ähnlich dachten, als wir träumten: Einmal Paris sehen, sich Kicks auf der Route 66 holen, The Cure live hören.
Wir meuterten, weil kein Wind wehte und kein Land in Sicht war, kein Paris und keine Kicks. Dann kam der stürmische Herbst. Wir fühlten uns wie Freibeuter, waren voller Aufbruch. Wir berauschten uns an nächtlichen Gesprächen und ernüchterten uns morgens mit Ironie und schlechten Witzen. Wir lauschten dem Meer in uns.
Als das Narrenschiff „DDR“ strandete, verlor sich die Crew aus den Augen. Nicht sofort und auch nicht alle. Und irgendwie doch.
Man machte sich auf, Neuland zu entdecken, die Liebe und sich selbst. Man wurde so oder so erwachsen. Heutige Spuren im Internet lassen einiges davon ahnen.
Und wenn man sich jetzt trifft, sich beim Bier in den Gesichtern der anderen spiegelt, sieht man vergangene 20 Jahre. Man sieht sie, aber man fühlt sie nicht. Man fühlt noch das Meutern. Und ist erstaunt, wie lange das her sein soll. „20 Jahre“, sagt man sich, „wow“. Es ist ein erstauntes „Wow“. Und eines, das ironisch wirkt. Wie ein plötzlich an Land gespülter Rettungsring mit der Aufschrift: „DDR“.
Gedichte schreibt schon lang keiner mehr. Die meisten kommen auch kaum noch zum Lesen. Nur einer hat im Selbstverlag Geschichten von damals veröffentlicht. Wow.
Aus dem Gitarristen ist ein Physiotherapeut und Vater geworden, aus dem langmähnigen Schlagzeuger ein Regisseur mit kurzen Haaren. Er inszeniert gerade „Als wir träumten“ von Clemens Meyer. Vor- und Nachwende-Erfahrungen ostdeutscher Jugendlicher. Es lässt einen eben nicht los. Und das ist, was uns noch immer verbindet, 20 Jahre nach dem Fall der Mauer.
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