Regen. Endlich Regen. Er spült das Fieber aus der Luft und wischt den klebrigen Schweiß von den Blättern der Bäume. Mein Kopf atmet wieder kühlen Verstand. Kein hitziges Verzetteln mehr, keine Maßlosigkeit, nur der barfüßige Gang zur wiedergefundenen Mitte.
Ich versuche in den Zufälligkeiten, die um mich her passieren, Zusammenhänge zu erkennen, glaube aber, dass diese Zusammenhänge Trugbilder sind:
Ein liegen gebliebener Murakami-Roman, der mich eigentlich begeistert, zwei sich eines Mittags neben der Haustür paarende unbekannte Großfalter, die von einem anderen Planeten zu stammen schienen und hier ihre Flitterwochen verbrachten. (Abends paarten sie sich immer noch neben der Haustür.) Ein runtergefallenes Weinglas, das ganz blieb, um später beim Abtrocknen zu zerbrechen. Ein Anrufer, der nichts zu sagen hat, ein E-Mail-Kettenbrief, der zum Nachdenken über die Vergänglichkeit einlädt. (Wer ihn wohl verfasst hat?) Aufhänger darin ist der Tod einer jungen Frau. Stunden später kommt von einem Bekannten ebenfalls die Nachricht vom Tod einer jungen Frau, seiner Freundin.
Und mit dem Regen kommt immer auch die Schwermut.
Wie gut erinnere ich mich an die Frau, die ich schon als Mädchen kannte? Wie gut habe ich sie überhaupt gekannt? Wer geht als nächstes? Ungeduldig trommelt der Regen ans Fenster.
Eine zur Phrase verkommene Weisheit fällt mir ein:
„Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst.“ Für die Hinterbliebenen der jungen Frau so tröstlich wie die Mär vom gerechten Gott.
Menschen, die in mein Leben traten oder ich in ihres, sehe ich vor mir. Auch Menschen, die schon immer dagewesen zu sein schienen und es plötzlich nicht mehr sind. Menschen, die lästig wurden oder bedeutsam, als es zu spät war. Was war, was bin ich ihnen?
Da tut es einen Schlag gegen die Tür, wie wenn jemand anklopft oder ein später Vogel dagegenfliegt. Liegt er jetzt mit gebrochenem Genick davor wie die toten Fliegen auf dem Fensterbrett, das ich längst abwischen müsste? Spuren beseitigen, wie der Regen.
Aber sobald die Sonne durchbricht, werde ich rausgehen, den Kopf freilaufen, weil ich lebe. Und weil das mit dem Verstand bei geistiger Kurzatmigkeit auch nicht immer so klappen will.
Wer weiß, vielleicht besteht der Sinn des Lebens auch nur darin, das Beste aus allem zu machen. Und manchmal ahne ich da draußen auch, wie ich es für mich anstellen kann.