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Montag, 3. November 2003

065 | Mucha-Ausstellung

Gestern, am Sonntag, war ich in der Alfons-Mucha-Ausstellung im Bröhan-Museum, wo eine umfangreiche Retrospektive aus der Belle Époque in der Beletage gezeigt wird. Es war herrlich! Jugendstil-Plakatkunst vom Feinsten. Überall idealisierte Frauen mit Blumen im Haar, Allegorien der Künste, Jahreszeiten, Pflanzen, Gestirne und Edelsteine. Immer aber sind es Ikonen weiblicher Schönheit oder Variationen von Anmut und Eleganz.
Muchas Lithografien zeigen Nymphen, die unschuldig vollkommen oder professionell sinnlich dargestellt sind. Illustrierte Lust, kunsthandwerklich perfekt! Dass dem Künstler beim Arbeiten nicht die Linien wegzitterten, ist schon erstaunlich. Linien, von denen das Werk dank damals entdeckter japanischer Holzschnitte lebt.
Erstaunlich ist auch, wie vielfältig die Ornamentik des einstigen Autodidakten ist. Neben byzantinischen Anleihen stellt die Natur den größten Fundus zur Verfügung: von Krabbelkäfern bis zu Blütenblättern ist alles vetreten.
Unbegreiflich, dass die Prager Akademie der Künste dieses Genie einmal mit den Worten ablehnte: „Herr Mucha, Sie sollten sich nach einem Beruf umsehen, für den Sie nützlicher sein könnten ...“
Selbst wenn Mucha Illustrator und Kulissenmaler geblieben wäre, wenn er bloß Werbeplakate angefertigt hätte, wäre er berühmt geworden, davon bin ich überzeugt. Weil Muchas Plakate in erster Linie und mit allen Linien Sinnlichkeit vermarkten. Sex sells – wie auf der “JOB“-(Zigaretten?)-Reklame von 1896, meinem Lieblingsbild. Alle angepriesenen Produkte wie Champagner, Biscuits und Parfum sind da nur noch Stimmungsmacher. Kunst und Kommerz also vollkommen vereinigt.
Würde Mucha heute leben, wäre er mit Sicherheit Werbegrafiker oder Designer. Comic-Zeichner könnte ich mir auch vorstellen, bei der vornehmen Theatralik, die seine Figuren ausmachen.

Die Bilder sind einfach nur schön. Wobei „nur“ bei einem Künstler immer auch nach Makel klingt und Angriffsfläche bietet. Doch Mucha hat sich mit allem schönen Schein auch sozial oder gar politisch engagiert. Wie bei einem UNICEF-Vorläufer-Plakat von 1922, wo zur Nahrungsmittelhilfe zugunsten russischer Kinder aufgerufen wurde. Oder im „Slawischen Epos“, mit dem er auf romantische Weise das nationale Selbstbewusstsein nicht nur der Tschechen stärken wollte. Immer aber blieb er dabei seiner ästhetischen Ausdrucksweise treu.
„Der Sinn meines Werkes bestand nie darin, etwas zu zerstören, sondern stets zu schaffen, Brücken zu bauen, denn uns alle muss die Hoffnung nähren, dass die gesamte Menschheit einander näher kommt, und dies um so leichter, wenn einer den anderen kennen lernt“, sagt er.
Er züchtete also im besten Glauben gefällige Pfauen, statt sie expressionistisch zu rupfen. Oder anders: Seine Kunst ist wie süffiger Likör, der nicht mehr als einen Wermutstropfen verträgt. Sonst wäre das Zeug nämlich ungenießbar. So ist alles ausgewogen im Geschmack und für meine Begriffe nie zu süß oder klebrig.

Neben den bedeutsamen Lithografien sind auch Pastelle, Zeichnungen, Ölgemälde, Fotografien, Skulpturen, dekorative Entwürfe, Bucheinbände, Produktverpackungen und Schmuck ausgestellt. Und es läuft ein Video über Muchas Leben, Werk und seine Zeit, wenn auch auf Englisch.

Die Mucha-Retrospektive dauert in Berlin noch bis zum 18. Januar an, im Bröhan-Museum, gegenüber des Schlosses Charlottenburg (Schlossstr. 1a). www.broehan-museum.de

Wer hinterher diesen Kunstgenuss abrunden möchte, sollte unbedingt in das nahe gelegene italienische Restaurant „Opera Italiana“ gehen (Spandauer Damm 5). Die Opern-Welt – der Welt Muchas verwandt - gibt den Einrichtungsstil vor, der Rest scheint über Jahre liebevoll und typisch italienisch zusammengetragen worden zu sein. Werden auch noch Arien gespielt, kann sich in dem zwei-etagigen hohen Raum der Geist beflügelt erheben. Vor allem aber, weil Pino, der sizilianische Chef, nicht nur gutes Essen, sondern auch 50 verschiedene Rotweine bereit hält. Also dann!

Freitag, 24. Oktober 2003

Des Abendstille

Das Jaulen
Des Hundes
Vor des Fensters
Nervt! des Kopfwehs Besitzers.
Warum? Fragt des nicht!

Erschießt das Jaulen!
Und des Hundes gleich mit!
Sagt des Mundes Besitzers
(Nicht des Hundes Besitzers)
Warum? Fragt des nicht!

Da wards still.
Nur des Kopfes Weh
Fragt noch: Warum?
Des Mundes nicht,
Damit des Stille bleibt.

Donnerstag, 23. Oktober 2003

Herbst

Grünes Licht für gelbe Blätter.
Aus dem Laub tritt kalter Schweiß.
Das Gemüt verfällt dem Wetter;
Jedes Jahr hat seinen Preis.

Vor der Tür ein weites Feld:
Hämatomenhafte Schatten
In den Furchen einer Welt,
Die wir jung erobert hatten.

Abgeerntet sieht das Feld
Wie ein Gottesacker aus.
Unerkannt und unbestellt
Geht ein Mann von Haus zu Haus.

Klopft er jetzt auch noch nicht an,
Wird er in der Nähe bleiben
Und wird sicher irgendwann
Seine alte Schuld eintreiben.

Montag, 20. Oktober 2003

Am Ende, nicht eher

Ein Jahr ist ein Leben
Mit Hoffnung auf mehr:
Das Wollen des Frühlings,
Die Weisheit des Herbstes
Im sterbenden Licht.
Das Ja vor dem Nicht
Gebiert ein Vielleicht
Am Ende, nicht eher.

Sonntag, 19. Oktober 2003

064 | An der Peripherie

Sonntagmorgen mit Sonne. Im Bett noch etwas gelesen: Alfred Polgar „Die Mission des Luftballons (Skizzen und Erwägungen)“. Will mir beim Altmeister des Feuilletons ein paar Anregungen holen. Dann raus aus dem Bett und Balkontür auf.
Startup mit Kaffee und Radio1. Thema „Platte“, also Glatze, läuft gerade, während ich schreibe. Vom Haarausfall zum anhaltenden Trend oder so. Kein Thema für mich. Meine Haare werden nur grau, halten aber an mir fest wie ich an ihnen.
Balkontür zu.
„Es ist arschkalt geworden“, sagten meine Freunde , als ich mit ihnen um die Häuser zog. Nur meine Nachbarin schreibt von einer sonnigen Terrasse aus Peru. Peru ... Peter Lichts Sonnendeck fällt mir ein statt Inkas und Lamas.

Freitagabend in die Sushi-Bar „Kuchi“ (Gipsstraße 3). An der Peripherie der hippen Mitte brummte der Laden. Ein Freund hatte zum Glück reserviert, und so mussten wir nicht hilflos im Eingangsbereich warten. Was für jeden Sie-werden-plaziert-Ossi so schlimm wie Schlange stehen ist.
Die Homepage www.kuchi.de hatte ich mir vorher schon angesehen. Sehr hübsch, mit Fotos von der Tatami-Lounge und dem Chillout-Garden, immer auch mit 360°-Rundumblick. Aber das Kuchi selber enttäuschte mich ein wenig: Die dienstbaren Japaner dort haben sich so stark von ihrem asiatischen Lächeln entfernt und sich der coolen Berlin-Attitüde angenähert, dass man als Gast das Gefühl bekommt, man sei nur ein kleines Maki-Röllchen. Somit hatte ich nach meiner Bestellung und nach 45 Minuten schon 3 Beck´s weg, aber noch keinen Bissen gegessen. Die Italiener überbrücken wenigstens mit Brot oder Bruschetta.

Gegen das, was dann aufgetischt wurde, lässt sich allerdings nichts sagen. Außer dass es für 9,- Euro zu wenig war. Ich hatte einer Empfehlung zufolge „My Best Friend´s Roll“ (6 Häppchen) genommen (Inside-Out-Roll gefüllt mit Gemüse-Tempura, umhüllt von zartem Lachs mit Spezial-Soße, die lecker nach Soja und Dijon-Senf schmeckte).
Um annähernd satt zu werden, bestellte ich gleich noch (halbe Stunde Wartezeit) ein Basic-Sushi-Menu mit Lachs, Thunfisch, Surimi und Kappa (7,50). Vielleicht gehört es ja zur Zen-Philosophie, dass man nach dem Sushi-Essen immer ein wenig ratlos bleibt.

Dann lieber wie gestern back to the roots: Für 4,- Euro eine Naan-Pizza mit Olivenpaste, getrockneten Tomaten, Rucola und Parmesansplittern in der Kastanienallee 49 (Ich habe darüber schon einmal berichtet). „Der Imbiss“ heißt der Imbiss schlicht und befindet sich an der Ecke Zionskirchstraße, dort, wo die Kastanienallee leiser geworden ist und zum Weinbergsweg hin abfällt.
Jeder, der vorbei kommt, freut sich über das umgedrehte Mc-Donald´s-„M“ am Fenster. Dahinter sieht man, wie ein junger bärtiger Koch sich auflodernde Flammen nutzbar macht. Neben dieser offenen Küche ist Platz für ein Dutzend Esser, und alles wirkt, als habe hier ein Weltenbummler eine mitgebrachte kulinarische Low-Budget-Idee umgesetzt. Wobei es zum Konzept gehören dürfte, sich Gängigem zu verwehren: „Tannenzäpfle“-Bier aus dem Hochschwarzwald statt Beck´s aus Bremen. Mein Tipp also.
Links vom Imbiss gibt es eine junge Kneipe ohne Namen. Dafür erstrahlt sie abends in einem gemütlichen orangen Licht. Orange sind sogar die schirmenden Markisen.

Rechts vom Imbiss, in der Nr. 48, gibt es einen 2nd-Hand-Plattenladen, der auch schon mal bis nach 20 Uhr offen hat. Im selben Haus – und viel augenscheinlicher – eine Pizzeria. „La Castagna“ – jede Pizza für 3,- Euro.
Egal, was man vom Weinbergsweg aus ansteuert, beim Überqueren der Zionskirchstraße muss man aufpassen. Weil aus der Kastanienallee schon mal ein Auto in die Einbahnstraße zum Zionskirchplatz schießt. Dort, am Zionskirchplatz, geht es aber dennoch eher entspannt zu. Empfehlenswert ist die „Kapelle“ (Zionskirchplatz 22-24). „Café“ und „Bar“ steht als rot leuchtende Neonschriftzüge in den großen Fenstern. Innen ist es gemütlich - Rotweinflair. Gut für´s Bleiben. Gemischte Oliven im Cocktailglas und besprochene Angelpläne für den fernen Mai.
Erst wenn sich die stilisierten Eidechsen an den Wänden zu bewegen scheinen, wird es Zeit zu gehen. Wer es sich wie ich dabei in den Kopf setzt, vorn an der Schönhauser noch eine Currywurst bei „Konopke“ zu essen statt eines Schawarmas beim Libanesen, wird enttäuscht: am Wochenende geschlossen. Und das, wo es so arschkalt ist, sagten meine Freunde vorwurfsvoll.

Freitag, 10. Oktober 2003

063 | Reklame für „Holmes Place“

„Holmes Place“ klingt nach Conan Doyle. Und nicht nach Fitness-Studio. Aber Schnupperwoche hat ja auch nichts mit dem richtigen Riecher zu tun, oder doch?
Von vorn: Diese Woche bin ich Gast-Sportler bei „Holmes Place“ am Gendarmenmarkt, einem Lifestyle- und Wellness-Club, oder anders gesagt: dem Grandhotel unter den Muckibuden. Bereits das Foyer in der Mohrenstraße 50 ist beeindruckend: Durch ein aquarienartig breites Fenster blickt man auf ankommende Schwimmer eines 16 m langen Edelstahlpools. Die wiederum sehen nach außen wie in eine andere Welt. Um indiskret das ganze Becken vom Foyer aus zu überblicken, müsste man sich bücken. Aber das macht man nicht, weil sonst die hübschen Empfangsdamen hinter der Rezeption komisch gucken würden. So lächeln sie freundlich, reichen zwei Handtücher und streichen sich das Haar zurück, während man durch die Drehtür zum Umkleiden nach unten geht. Dabei vernimmt man nicht nur dezente Entspannungsmusik, dabei fällt auch ab, was alltagshalber zu Stress und Verspannungen führt. Kein Gedanke mehr an das windige Berliner Wetter oder windige U-Bahn-Gestalten. Statt nationaler Prolls internationales Klientel. Jawoll, hier geht es elitär zu – was das Niveau angeht, nicht die Standesunterschiede. Denn wer bereit ist, monatlich doppelt so viel zu zahlen wie für andere Studios, ist dabei und: Man bezahlt nicht nur für Gerätenutzung und Kurse, man bezahlt vor allem für einen kleinen Urlaub jenseits des Pauschalen. Geräte (130) und Kurse von Body Pump bis Pilates (ca. 13 Kurse täglich) gibt es natürlich auch, aber man schwitzt im Obergeschoss unter einem großen Glasdach oder kann in die Einkaufspassage des Quartiers 205 blicken, ohne – wie bereits im Pool - selbst groß entdeckt zu werden. Sehen und gesehen werden spielt hier nämlich keine herausragende Rolle. Die Leute wollen wirklich abschalten. Deswegen gibt es auch keine unangenehme laute Musik.

Beim Radfahren oder Laufen vor Flachbildfernsehern kann man sich für eines von fünf TV-Programmen entscheiden und seine mitgebrachte Kopfhörer am Gerät einstöpseln. Frauen, die selbst vor verschämten männlichen Blicken verschont bleiben wollen, können im Ladie´s-Gym-Bereich trainieren.
Es gibt hüben wie drüben Wasserspender für trockene Münder und ausgelegte Handtücher für nasse Körper. Es gibt einen Club-Raum mit Bar und freier Internetnutzung, es gibt mit Ozon angereichertes Wasser im Schwimmbecken (wozu auch immer), einen Whirlpool und den Wellness-Bereich mit finnischer und Bio-Sauna. Hinter den abteilartigen Umkleide-Nischen finden sich Einzelduschen mit Shampoo und Duschgel und vor großen Spiegeln Spender mit Haargel und Bodylotion zur freien Nutzung. Es gibt natürlich auch überall freundliches und gut geschultes Personal – von den Trainern bis zu den Leuten von der Handtuchausgabe (50 Mitarbeiter insgesamt). Perfekter Service also in perfektem Ambiente.
Das 1994 fertiggestellte Sportstudio (3300 qm Nutzfläche) weist klare Formen und edle Materialien auf wie Walnussholz und schwarzen Granit, aber auch grün-blau hinterstrahlte Glaskacheln im Pool-Bereich. Das meiste wurde jedoch weiß belassen. Alles schlicht, aber edel.

Natürlich habe ich mir die einwöchige Mitgliedschaft nicht mit dieser Werbeaktion hier erkauft, beides ist gratis, aber ich würde werben, immer, für Produkte oder Dienstleistungen, die mich beeindrucken. Und ich würde Mitglied werden, wenn sie auch Karate-Kurse im Angebot hätten. So bleibe ich bei meinem Mittelklasse-Studio, für das ich keine Reklame machen muss, und bei den Sportsleuten, die ich schon zu lange kenne und mag.
Berliner, denen statt Kampfsport Fitness und Wellness in der ersten Liga etwas bedeuten, sollten sich nach einer Shopping-Tour in der Friedrichstraße ruhig einmal vor Ort kundig machen. Oder in Wien, Zürich, Barcelona ... Denn „Holmes Place“ gibt es europaweit. _>> www.holmesplace.de_>>

Montag, 6. Oktober 2003

062 | Halb leer, halb voll

Das Wetter in den Wechseltagen, unbeständig und launisch: Am 3. Oktober noch einmal aufsteigende Hitze und ein letzter Nackter auf der Nudistenwiese im Volkspark Friedrichshain. Aber jetzt taugen selbst Strickjacken mit Rolli nicht mehr viel. Jogger müssen wegen konkurrierenden Tiefausläufern immer häufiger innere Schweinehunde schlachten und Couch-Kartoffeln sehen sich selbstvergessen Kochsendungen im Fernsehen an. Man kramt immergrüne Inselträume raus („Nicht noch einen Winter in Deutschland!“), man erinnert sich bei „Herr Lehmann“ im Kino oder bei Ossi-Shows zu Hause an vergangene kuschlige Inseltage. Man hat Zeit, mit sich, dem Partner oder dem Ganzen unzufrieden zu sein, fühlt sich aber nicht in der Lage, etwas dagegen zu tun. Man ist morgens schon müde und wie in Pubertätstagen der Meinung, dass alles irgendwie nichts tauge. Traditionell die Politiker, die Bürokraten, Steuergesetze und jetzt auch die Verschuldungen, die Prognosen, das Nullwachstum. Das Wort „Reformen“ kann keiner mehr hören.

In der Baubranche wird wegen der wegfallenden Eigenheimzulagen ungewollt Rilke zitiert: „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“. Zumindest in Deutschland. Denn schnell wird von einigen Promis sogar noch der Wohnort in die Schweiz verlegt, weil man nie wissen kann. Oder weil man weiß.
Neulich träumte ich sogar von der Apokalypse: Der Mond fiel auf die Erde. Und die Menschheit hatte nur noch 42 Sekunden zu leben. Nicht schön das.
Ob schon mal jemand mit schwachem Herz einem Alptraum zum Opfer gefallen ist? Nächtlicher Infarkt nach eingebildeten Höllenqualen. Nur bei den Hinterbliebenen heißt es dann neidvoll: „Ein angenehmer Tod! Er ist sanft in seinem Bett entschlafen.“ Oder: „Das hat er nun davon!“ – Je nachdem, was der Verstorbene den Erben hinterlassen hat.

Aber der Oktober hat auch bei grauem Himmel seine Lichtblicke, seine inneren Werte: Da sind die kleinen Dinge, die erfreuen, wie zwei wiedergefundene Leergut-Pfandbons aus dem Jahre 2001. Die DM-Summen waren kaum noch lesbar, wurden mir aber bei Kaiser´s nach einigem Stutzen, Zögern und Umrechnen kulanterweise ausgezahlt. Über 5 Euro! Was sich damit alles anfangen lässt! Zum Beispiel zwei „Refill-Aktionen“ im Fitness-Studio (trinken bis zum Umfallen) oder 1 Flasche Prosecco (reicht noch nicht zum Umfallen). Oder ein Lottoschein (Was kosten die noch mal und was bringen die?) für den Inseltraum oder am Ende doch nur ein Drittel für das Knöllchen an der Windschutzscheibe vor Kaiser´s.

Dann die Oktoberklassiker wie: Sonntagvormittags mit einem Buch, das zu heißem Tee und klassischer Musik passt (Th. Manns „Lotte in Weimar“), auf der Couch. Pure Befriedigung, wenn man vorher duschen und joggen war. In umgekehrter Reihenfolge.
Literarische und musikalische Klassik wird von mir übrigens immer gern im Oktober wiederentdeckt. Sonst hat die Klassik nur bedingte Chancen. Weil der Rest des Jahres fühlbar nicht zeitlos ist. Weil immer alles ganz voll beginnt und ab Oktober halb oder ganz leer ist. Optimistischere Sichtweisen verbieten sich irgendwie von selbst.

Samstag, 4. Oktober 2003

Verführerin mit Apfelkuchen

Ich habe ihn zum Kaffee eingeladen
Und – das mache ich sonst nie –
Hab´auch gebacken: einen Apfelkuchen.

Hab´ lang gebadet, meine schönen Waden
Rasiert und mich gestreichelt, bis ich schrie.
Und nach dem Vorspiel kam er mich besuchen.

Hier riecht´s so gut, hat er nervös gesagt.
Er hat mir Rosen und die Hand gegeben,
Als hätt´ ich kein Gesicht für seinen Mund.

Na warte, dachte ich und hab´ gefragt,
Ob er vom warmen Kuchen wolle, eben
Erst rausgenommen und und und.

Dann ging ich katzenhaft im engen Kleid
Hinaus, mit seinen Rosen, seinen Blicken
Und kam mit meinem Köder schnell zurück.

Das riecht nach Ernte- und nach Weihnachtszeit,
Nach Bratäpfeln mit Zimt, sagt er. Wir nicken.
Er schluckt. Ich reiche ihm ein Kuchenstück.

Fast hätten unsre Finger sich berührt.
Er zieht den Duft ein mit geschloss´nen Augen
Und sieht mich magisch lächelnd lange an.

Bald weiß ich nicht mehr, wer hier wen verführt.
Mein stiller Plan scheint trotzdem was zu taugen.
Er isst und ist ganz hin und weg, der Mann.

Er nascht mir fast schon aus der feuchten Hand.
Er schiebt die Gabel in die Apfelspalten
Und klaubt die Krümel mit den Fingern auf.

Jetzt scheint er fertig und ich bin gespannt.
Wird er die Hände nutzen oder falten?
Und wer bestimmt den weiteren Verlauf?

Was soll´s, ich setze mich jetzt zu ihm hin.
Um seine Schulter leg´ ich meinen Arm.
Ich streich´ ihm zart mit meiner Hand durchs Haar.

Dann küsse ich von seinem glatten Kinn
Den Krümelzucker weg. Und süß und warm
Frag´ ich ihn leise, wie der Kuchen war.

Montag, 22. September 2003

061 | Innehalten

Dieses Licht! Wie es am Spätnachmittag hinter den Bäumen steht und den Blättern zuflüstert: „Noch ist alles im grünen Bereich.“ Wie es sich mühelos von geöffneten Fenstern auf gegenüberliegende Hausfassaden spiegeln lässt. Wie einzelne Bienen und Schmetterlinge davon an- und ausgeleuchtet werden, wenn sie wie beim Casting über die Bühne wehen. Wie sie auf die alten, klebrigen Maschen der Kreuzspinnen hereinfallen ...
Der Ahorn hat sich zwar schon eine rotbraune Tönung verpassen lassen, aber irgendwie steht ihm das auch besser. Und wie übermütig bei ihm oder der Linde die Samenblätter heruntertrudeln – dass einem schwindlig werden kann. Dass man sich mitdrehen möchte.
Hier und da springen mahagoniebraune Kastanien als Überraschungen aus den Stachelkugeln, als triumphierendes Leben über den Miniermottenfraß. Und man selber isst wieder auf dem Balkon, trinkt Federweißer und greift, vom Altweibersommer berauscht, nach Gedichten ... Und setzt drei Punkte hinter schweifende Sätze ... Wegen des Innehaltens.
„Ab in den Süden“ singt es im Radio. Dabei ist es gerade so schön hier, dass selbst die Zugvögel nicht an Aufbruch denken.
Trotz Wirtschaftsflaute und Politik, trotz Wochenanfang und dreckiger Fensterscheiben: so schön hier! Darauf stieß ich am Wochenende mit Freunden und Prosecco an. Ein letzter Grund zum Feiern findet sich immer. Erntezeit eben.
War mein Glas leer, erhob ich es, um mir nachschenken zu lassen und weil ich auf das trank, was mir da schmeckte.
Wie von Opferfeuern für das Hoch unter dem blauen Himmel stieg überall Rauch von Grills auf. Das Lachen der Nachbarn krönte die Stille.
Den Anträgen auf Verlängerung wurde also stattgegeben. Und am Sonntag wurde flaniert, zum Beispiel durch das Holländerviertel in Potsdam. Hausbesetzer sollen dort in der Nachwendezeit gewohnt haben. Jetzt ist davon nichts mehr zu sehen. Nach der Sanierung wurde mit Kunsthandwerk und nordischer Gastronomie der Kiez wieder touristisch erschlossen: Rote Backsteinfassaden, grün-weiße Fensterläden und große Dachbodenspeicher. Dazwischen gehobener Mittelstand mit Sonnenbrillen. Dass die Häuser so preußisch uniform in Reih und Glied stehen, passt zur Garnisonsstadt und gefällt den Besuchern.
Nebenan, am Nauener Tor, sitzt man wunderbar vor einem Edel-Italiener „Barokoko“. Über dieses Wortspiel lässt sich streiten, nicht aber über die Küche. Schon das Weißbrot zu den Oliven hatte mich überzeugt. (Außerdem war ich hungrig.) Aber dann erst die Spaghetti, mit Rucola und getrockneten Tomaten! Auf der Karte stand zwar „Linguine“, doch dem Geschmack tat es keinen Abbruch.
Hier galt es Kraft zu tanken für das Kommende, für das, was so sicher vor dem Nauener Tor steht wie „Isolde“, der Atlantik-Tornado, unlängst vor Amerikas Ostküste. Kraft, für die Zeit nach dem Indian-Summer, für die Novemberdepressionen, wenn „Denn alle Lust will Ewigkeit“ vor einem Heine-Vers kapituliert, der sich nicht nur auf die Vergänglichkeit der Liebe, sondern auch auf die des Sommers beziehen lässt:
„Es ist eine alte Geschichte,/ doch bleibt sie ewig neu,/ und wem sie just passieret,/ dem bricht das Herz entzwei.“

Montag, 8. September 2003

060 | Jugendstil

In den letzten zwei Wochen passierte nichts Besonderes. Kino- und Restaurantbesuche, Brunchen, ein wenig Sport dazwischen und wieder Essen bei Freunden (natürlich ist das Essen bei Freunden immer etwas Besonderes). Aber es gab nichts derart, wie ich es bei Fernsehreportagen mag. Und ich sah in den letzten zwei Wochen einiges im Fernsehen. Oder ich ließ die Kiste aus und las ein wenig auf der Couch. Bernhard Schlink: „Der Vorleser“ beispielsweise. Las sich schnell und gut weg, vor allem nach Arno-Schmidt-Erzählungen. Dass „Der Vorleser“ nicht auch eine Erzählung ist (unter dem Titel steht „Roman“), will ich immer noch nicht glauben. Genauso wenig wie ich nicht glaube, dass es schlechte Literatur ist, nur weil ich hin und wieder darüber eingeschlafen bin. Vor allem, wenn es draußen dunkel wölkte und die Couchdecke wieder eine Rolle spielte.
Aber jetzt hat sich der Sommer zurückgemeldet! Als hätte irgendwer aus Furcht vor den fallenden Blättern „Zugabe!“ gerufen oder einen Antrag auf Verlängerung gestellt. 25 °C waren heute in Berlin, und statt der Blätter fielen nur reife Eicheln auf das Hauptstadtpflaster. Wie das Klackte! Damit stahlen die Eichen den mondänen Platanen (im hippen Camouflage-Outfit) die Show.
Gestern war es ähnlich warm. Sonntagswetter! Mir war so bürgerlich zumute, dass ich mir irgendeine zeitlose Dauerausstellung ansehen wollte. Also fuhr ich nach einer kleinen Internet-Recherche zum Bröhan-Museum. Das befindet sich gegenüber des Schlosses Charlottenburg (Schloss-Str. 1a), und ich habe keine Ahnung, warum es so seltsam heißt. Bestimmt wurde es nach seinem Stifter benannt. Jedenfalls: Wer Jugendstil und Art Deco mag, kann in den drei zugänglichen Etagen Kunsthandwerk und Bildende Kunst aus Frankreich, Belgien, Deutschland und Skandinavien unter die innere Lupe nehmen. Einige Schränke und Ess-Services hatten es mir schon angetan, aber wenn ich ehrlich bin, würde ich mir so etwas nicht in die Wohnung stellen wollen, sondern bei Ebay versteigern: Zinn- und Silberkännchen, einige mit Griffen aus Edelholz oder Elfenbein. Höchstens die eine Uhr mit dem Falken-Motiv hätte ich behalten. Die kannte ich noch aus einer „Kunst & Krempel“-Sendung. Vielleicht haben die Bröhan-Leute sie dort entdeckt und aufgekauft.
Eine Augenweide ist der alte Hausrat ja allemal ( - anfassen verbietet sich bei den Werten). Schon wenn ich die typischen „Peitschenhieblinien“ des Jugendstil sehe, werde ich ähnlich begeistert wie von den Formen einer schönen Frau (wie meiner Freundin). Nur eben hier ästhetischer, versteht sich.
Das „Seerosenbild“ von Karl Hagemeister mag im Vergleich zu Monets berühmtem Werk weniger Tiefe besitzen. Gewollt, denn es ist so leicht und zart, dass ich mir entsprechende klassische Musik dazu einbilden konnte. Und die anderen Naturmalereien von Hagemeister strahlen eine sentimentale Ruhe aus, wie sie mir nach der vergangenen Sommerhitze gut tat. Da war der Wunsch nach einem Spaziergang durch Märkischen Forst bei tiefstehender Sonne und der nach einem Orgelkonzert in einer Brandenburger Dorfkirche. --- Die Musik ganz deutlich und ganz von ferne --- Nostalgie einer Ära, die ich nur mittelbar kenne, und einer Kindheit, die so nie stattgefunden hat.
Jugendstil ... Ungefähr zur gleichen Zeit entstand der Expressionismus mit seinen hässlich-schönen Bildern. Auch die gefallen mir. Expressionismus ist für mich trotz seiner Landschaftsbilder städtisch. Und Jugendstil das Extrakt der Natur, wenn oft auch ein wenig zu pathetisch. Beides verinnerliche ich gern, als Gegensatz, so wie ich Stadt und Land gern verinnerliche. Da wo der Jugendstil das Natürliche ein wenig schöner schminkt, stellt der Expressionismus bloß. Und die Wahrheit liegt wie so oft irgendwo dazwischen.
Solche Gedanken kommen mir erst jetzt; im Bröhan-Museum genoss ich nur, ungestört. Die meisten Besucher tummelten sich in einer „Heute freier Eintritt!“-Ausstellung im Nebengebäude, wo Picassos grafische Arbeiten gezeigt wurden. Dafür war ich nach einem Café-Besuch zu müde, und die Zeit, bis geschlossen wurde, war zu knapp.
Von der Café-Terrasse aus hatte ich ein wenig Blick auf das Schloss Charlottenburg, wo ich noch nie war. Selbst in dem Ägyptischen Museum dort war ich noch nicht. Den einäugigen Nofretete-Kopf kenne ich nur aus den Medien, wie aus einer der letzten STERN-Ausgaben. Eine Archäologin will die Nofretete-Mumie entdeckt haben. Den Fotos nach würde ich Laienkriminologe sagen: Sie ist es! (Oder war es.) Und als Ästhet hätte ich meinen Milchkaffee gerne einmal mit ihr in einem Jugendstil-Salon getrunken und ihre vollständigen Augen wie einen Pharaonenschatz betrachtet. Streng wissenschaftlich, versteht sich. (Denn ich halte mich besser an die Lebenden und kneife meiner Liebsten ein Auge.)

Dienstag, 19. August 2003

Etwas bleibt immer

Von dem Sommer, der gepfändet wird,
Von dem Himmel, den der Kuckuck weiß,
Von dem Tag, der sich im Datum irrt,
Von der Quittung mit dem hohen Preis.

Von dem Hunger, den du satt gemacht,
Von dem Durst, den du zur Nacht ertränkst,
Von dem Rausch, der deinen Schlaf auslacht,
Den du nüchtern zur Erkenntnis drängst.

Von den Träumen, die du früh vergisst,
Von Gesprächen, macht ein Wort dich still,
Von der Liebe, die gegangen ist,
Und der Zeit, die dich verlassen will.

Donnerstag, 14. August 2003

059 | Alter Fritz & Fischers Fritz

Obwohl ich es ganz gut tagsüber (mit einem Arno-Schmidt-Buch) am Liebnitzsee - dem schönsten See im Berliner Umland (genauer: bei Wandlitz, türkisgrünes Wasser!) – und abends im Prater- oder Pfefferberg-Biergarten aushalten konnte, war mir manchmal die Zeit dafür doch zu kostbar. Also machte ich vor ein paar Tagen eine Führung im Schloss Sanssouci mit. Denn das Einzige, was ich mir von einem Besuch als Kind an Erinnerung herübergerettet hatte, waren die Filzpantoffeln. Die sahen – obwohl kratzig grau – lustig groß aus. Ich brauchte mir dafür die Straßenschuhe nicht auszuziehen und konnte über endloses Marmorparkett schlittern (bis ich streng angezischt wurde). Jetzt genoss ich die professionell vorgetragenen Informationen der Führerin (blödes Wort), staunte, dass die Räume kühler als erwartet waren und schmeckte das erhabene Interieur (hier ist Schwulst zu Hause!) mit meinen lückenhaften Kunst- und Geschichtskenntnissen ab. Verspieltes Rokoko und gravitätischer Klassizismus. Gefiel mir beides. Gold nur in den Königszimmern. Aber Voltaire hatte es auch ohne ganz nett. Schade, dass man die geheimen Zugänge nicht betreten darf (wie die Mätressen wohl ausschauten?).
Den alten Fritz versuchte ich mir so ganz anders als auf den Bildern vorzustellen: wie er an seinem Schreibtisch saß, sich morgens aus dem Bett schälte, eines Abends (?) in seinem Sessel verstarb. Am beeindruckendsten: der Marmorsaal, gerade bei der Hitze. Ich möchte wetten, dass ich als Kind nur die Marmorintarsien des Bodens im Auge hatte, nicht aber die ovale Pantheon-Kuppel, zu der sich die großen Geister der Tischgesellschaft übertragen und übersetzt emporschwangen. Da staunte ich höchstens von außen und weitem, während mich Erklärungen kalt ließen. („’Sanssouci’ heißt ‚ohne Sorgen’!“ – „Ja, ja ...“)
Warum nach „Sans“ ein Komma und hinter „Souci“ ein Punkt steht, fiel natürlich den wenigsten damals auf. Französische Grammatik! Schon die deutsche interessierte nicht. Heute schlaumeiern viele Besucher wie kurzatmige Oberlehrer, wenn sie die Treppen hochächzen:
„Kuck mal – das Komma – von Sans Soucie ... Weißt du, warum es ...“
Einige haben bestimmt das Buch gelesen von – na – wie heißt er gleich? (H. D. Kittsteiner) Soll so gar nicht oberlehrerhaft kurzweilig von Geheimzeichen (Punkt, Punkt, Komma, Strich :-) und der Impotenz Friedrichs des Kleinen handeln.
Vielleicht war ja doch alles nur grammatikalisches Versagen oder unpreußische Laxheit in einer Zeit, wo Staatsreformen wichtiger als Rechtschreibreformen waren. Schließlich habe ich mal folgende Fassadenerinnerung an einem Satteldachhaus gelesen: „Erbaut in Kriegsjhare 1914“.
Wie bekomme (um nicht „krieg“ zu sagen) ich jetzt die Kurve zur Berliner Gastro-Szene? Sollte ich schreiben, dass ich jemandem in einem der schattigen Cafés am Zionskirchplatz vom alten Fritz erzählte? Die Wahrheit ist viel grausamer: Ich drohte dort ständig an, „das Phänomen deutscher Romantik historisch“ erklären zu wollen. (Nicht wirklich, wollte nur Angst machen, also Spaß) Denn das wäre genauso aufschlussreich wie für den Kommunikationswissenschaftsstudenten, der in der inzwischen heillos überlaufenen Simon-Dach-Straße seinen Freunden (Probanden!) den 2. thermodynamischen Satz „ganz kurz“ erklären will. - Ein Thema, von dem er wie ich keine Ahnung hätte.
Viel besser ist es wohl auf der Restaurantterrasse bei „Fritz Fischer“ an der Oberbaumbrücke zu sitzen und auf die abendliche Spree zu sehen, während man am Frizzante nippt und sich zuraunt: „So lässt es sich aushalten!“ Oder man überlegt, ob der Name des Edelrestaurants (im Universal-Haus, Stralauer Allee 1) vom Wortspiel „Fischers Fritz“ kommt.
Als Vorspeise wird einem in der Karte die Geschichte einer Kunstfigur aufgetischt: Fritz Fischer war ein Playboy, kannte alle Jetsetter, Wirtschafts-, Medien- und CIA-Bosse. Und wenn man in seinen Mutmaßungen nicht weiterkommt („Könnte doch stimmen.“), sagt man einfach: „Na, ist ja auch egal!“, lächelt sich wieder an und wendet sich dem vorzüglichen Essen zu („Von meiner Kaninchensülze musst du unbedingt probieren!“). Köstlich dieser Fisch („Was ist eigentlich ein Bodensee-Egli?“), und das Kalbsfilet - so zart ...
Ich wusste gar nicht, wie umständlich Wein serviert werden kann! Damit meine ich nicht das Probier-Ritual, sondern, dass am Ende (am Anfang!) der Korken des Weines in einer Schlaufe des Plastikverschlusses des Flaschenhalses steckt. Genauso kompliziert! Nur besser.
Die angestrahlten großen Türme der Oberbaumbrücke, der Blick nach Kreuzberg (sehnsüchtig-nostalgisch), die netten, perfekt ausgebildeten Kellner (manchmal zerstreut statt zuvorkommend) --- „Du bist so wunderrrbarrr, Berlin!“
Wer sich oder seinen Gästen/Freunden/Liebsten etwas Gutes/Besseres/fastPerfektes antun (lassen) möchte, reserviert sich hier abends einen Tisch. Und kann dann auch getrost vor dem Hauptgang vom frischen Brot essen, weil die leckeren Speisen natürlich auf Qualität reduziert sind.
Danach Bonmots mit Pfirsichcreme oder einen Absacker in Kreuzberg 36. Nur keine schweren Anekdoten aus dem Siebenjährigen Krieg, auch keine Filmanalyse von „Japon!“ oder „Lichter“.
Dass es in den Freiluftkinos nachts wieder kühler wird, reicht an Tiefsinn vollkommen aus.

Dienstag, 5. August 2003

Stadtmitte umsteigen

Eine traurige Weise aus Weißgottrussland
Spielt Akkordeon im Untergrund.
Sie bettelt mit unaufhaltsamer Hand
Und starrt sich vergreiste Gedanken wund.
Vom Ich zum schluchzenden Schifferklavier
Zieht fahrendes Volk im Übergang.
Wer gibt was drauf, wer näh´rt sich ihr?
Die Zeit ist knapp, Gesichter lang.

Auf jeder Stirn zwei Senkrechtfalten –
Gespannte Saiten, die nicht klingen.
Das Geld reicht gerade zum Behalten.
Vielleicht versucht sie´s mal mit Singen.

Gesichtszüge – festgefahren statt entgleist
Im Tunnel zwischen U6 und U2.
Aber etwas bleibt im Ohr. Bis es heißt:
Die Bahn kommt. Zurückbleiben. Dann ist es vorbei.

Mittwoch, 30. Juli 2003

058 | Sommerloch

Es ist heiß. Seit Wochen. Selbst für Leute, die an der Copacabana zu Hause sind.
Eigentlich schön, in luftigen Sachen durch Berlin zu strolchen, wenn man sonst nichts weiter zu tun hat. Keine Tasche dabei, keinen Rucksack auf, nur die Sonnenbrille; City-Luxus pur. Wären da nicht diese Temperaturen. Wer kann, duscht dreimal täglich oder fährt an die Havel zum Baden. Petzow ist sehr schön. Klassische Parkatmosphäre. Erinnert mich an den Goethe-Park in Weimar. Wer im Auto eine Klimaanlage hat, fährt unbeirrt von Sommerlochthemen nach Italien, wer irre ist, geht mittags joggen. Und wer arbeiten muss, freut sich auf den Biergarten am Abend.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich im Hochsommer gerne in Ausstellungen gehe, aber in den bedeutsamen gibt es auch Klimaanlagen. Eines der schönsten Bildermuseen Berlins ist seit der Wiedereröffnung im Dezember 2001 die Alte Nationalgalerie auf der Museumsinsel. Dort, wo auch das Morcheeba-Konzert stattfand.
Merkwürdig, Caspar David Friedrich wollte jetzt so gar keinen Eindruck bei mir hinterlassen. Zu viel Mondenschein und Sehnsuchtshorizont. Bisschen wie klassische Theaterkulissen. Selbst Böcklins „Toteninsel“ und sein Selbstporträt mit Tod sind im Sommer kaum mehr als ein Kinderschreck. Das sehe ich im Herbst bestimmt wieder anders, da nicke ich bedächtig und erinnere mich an ein sentimentales Lied von Element of Crime.
Ich dachte, als ich vor der „Toteninsel“ stand, nicht einmal an Heinz Knobloch, den von mir verehrten Berlinschriftsteller. Am 24. Juli ist er mit 77 Jahren an Krebs gestorben, und ich war, als ich davon erfuhr, ernsthaft betroffen. Seine Feuilleton-Bücher über Berliner Friedhöfe, historische und gegenwärtige Ereignisse brachten mir nicht nur Schriftsteller von Heine bis Tucholsky anekdotenhaft nahe – ich begann sogar ihre Werke zu lesen. Und tue es noch heute.
Als ich allmählich zwanzig Bücher von Heinz Knobloch aus Antiquariaten gefischt hatte, wollte ich ihn in Pankow besuchen, mich für die Leseimpulse bedanken. Ich ging sogar mit seinen Büchern Berliner Friedhöfe, Straßen und Plätze ab. Um zu sehen, was ich vorher nicht wusste.
Ich wollte, obwohl ich mir blöd vorkam, ihm persönlich dafür danken, bevor von ihm nur noch die Bücher existierten.
Er empfing mich. Wir unterhielten uns und tranken Tee. Das ist jetzt über 10 Jahre her. Er empfahl mir am Ende, Chronist meiner Zeit zu sein und ich durfte mir eines seiner Bücher aussuchen, welches er mir mit Exlibris und Widmung schenken wollte. Dabei war ich es, der kam, um sich zu bedanken. Ich nahm verschämt den „Blumenschweijk“, mein 21. Knobloch-Buch. Einige Zeit darauf traf ich ihn im Weddinger „Lesecafé“ wieder, über das ich einen Artikel für die Berliner Zeitung schreiben wollte. Den Tipp dafür hatte mir Heinz Knobloch auch geschenkt.
Charlotte von Mahlsdorf erzählte an diesem Tag aus ihrem Leben und spielte auf einem ihrer Gründerzeit-Museums-Grammophone Schellack-Platten ab. Schlager, die von ganz alten Café-Besuchern und Zuhörern mitgesummt wurden.
Charlotte von Mahlsdorf ist nun auch schon tot. Und die Besucher der Alten Nationalgalerie rückten neben mir etwas näher an die „Toteninsel“ ran. Als würde von daher ein „Carpe diem“-Flüstern kommen wie im „Club der toten Dichter“.
Aber dass ich davorstand und in dem Moment der Toten nicht gedachte, die ich als Lebende gekannt hatte, hätte Heinz Knobloch sicher gefallen. Er liebte auf Friedhöfen spielende Kinder. Und jegliches, auch das Gedenken, hat eben seine Zeit. Ich tue es jetzt und hier.
Leichtschrittig ging ich weiter und fand lebendigen Gefallen am gemalten Satin-Glanz eines Kleides, am Faltenwurf der Marmor-Prinzessinnen von Schadow und an Adolph Menzels „Balkonzimmer“ von 1845.
Das wirkt auf mich mindestens ebenso geheimnisvoll wie das Lächeln der Mona Lisa. Es ist auf eine unfertige Weise vollkommen, und wegen der fehlenden Personen im Zimmer bleibt Raum, den der Betrachter mit seinen Überlegungen füllen kann. Sind die Bewohner des Zimmers auf dem Balkon oder nebenan? Wie viele sind es?
Bei mir ist es ein Ehepaar in den Vierzigern, das an einem Sonntag Freunde zu Besuch hat. Der oberflächliche Betrachter sieht nur einen vordergründig bedeutungslosen Zimmerausschnitt. Er sieht nicht den gedeckten Tisch im Garten und nicht die Tafel im Salon (falls es regnet). Er sieht nicht die kleinen Fliegen, die um den Deckenleuchter kreisen und nicht das Bedienstetenmädchen, das sich gleich unbeobachtet vor dem Schrankspiegel drehen wird. Oder doch? Was hätte Heinz Knobloch gesagt?
Weniger herrschaftlich als auf den meisten Bildern der Alten Nationalgalerie ging es am Sonntag in der Neuen Nationalgalerie am Potsdamer Platz zu. Da gibt es seit einer Woche bis zum 26. Oktober „Kunst in der DDR“ zu sehen. Nein, nicht „Kunst der DDR“, aber, ja – im Westen! Es war ein wenig wie im November ´89, als viele Ostberliner den Westen stürmten und sich völlig neu orientieren mussten. Ich gehörte schließlich auch dazu. Aber einige der Besucher schienen seitdem nur an Wahltagen ihre Wohnung verlassen zu haben und blickten so drein, als habe man sie nicht vierzig, sondern die letzten dreizehn Jahre, Pardon, beschissen. Ein älterer Mann hatte allerdings gelernt, seinen Mund aufzumachen. Er fragte sächselnd – Pardon auch für dieses Klischee, aber es war so – er fragte den Kartenabreißer, warum es hier keine Ermäßigung für Rentner gäbe.
„Die gibt es ja sogar im kapitalistischen Ausland wie Amerika!“, ereiferte er sich.
Der Kartenabreißer zuckte nur mit den Schultern.
Dass früher alles besser war, ließen sich die Besucher von den 390 Werken nicht einreden. Das konnten sie gar nicht. Dafür waren die Malereien, Filme und Fotos zu deprimierend. Von den Collagen und Assemblagen ganz zu schweigen. Zonen-Tristesse als Zeitkritik. Damals. Nur im Kunstunterricht stand anderes an der Tafel. Auch damals.
Der satirische Umgang mit der DDR-Zeit war überwiegend wohl erst hinterher möglich, wie im „Goodbye, Lenin“-Film oder in „Sonnenallee“. Denn dazu gehört schließlich Abstand. Um den bat im Übrigen auch ein Aufseher, der immer „Hallo!“ rief, wenn einer die Linie vor dem an die Wand gestellten Bilderdutzend (Installation!) übertrat. Und er sah aus wie der dicke NVA-Offizier im Kübelwagen auf dem Farbfoto gegenüber. Wer weiß, was einer war, bevor er Aufseher wurde.
Stilistisch hatten viele DDR-Maler vor allem auf Größen wie Picasso, Klee & Co zurückgegriffen. Aber es machte trotzdem Spaß, wieder nach politisch Deutbarem zwischen ihren Pinselstrichen zu suchen. Nur mit Abstraktionskünstlern wie Hermann Glöckner kann ich auch dann noch nichts anfangen, wenn sie wegen ihrer Realismusverweigerung den Ruch von Dissidenten mit sich bringen.
Fazit: Als DDR-Retrospektive nach wie vor nicht einfach, da die Grenzen zwischen offizieller, mutiger und bedeutsamer Kunst fließend und relativ sind. Zur Selbstfindung letzter richtungsloser Ostler mit Phantomschmerz eignet sich die Ausstellung mangels geringem Wiedererkennungswert jedenfalls auch nicht. Dennoch waren hier viele in Gesprächen vertieft, die offenbar immer noch Not tun.
„Kunst in der DDR“ wird auch jetzt noch eine streitbar große Sache und eine kleine Gesellschaftstherapie bleiben.
PS: Ich staune, wie redselig ich heute bin, dabei hatte ich überhaupt keine Lust, etwas zu schreiben. Aber ich las zum Beispiel Sven Regeners (Element-of-Crime-Sänger) „Herr Lehmann“-Roman weg wie nichts. Über die Vor-der-Wende-Zeit in Kreuzberg. Eben die andere Seite der Medaille oder der „Sonnenallee“. Kommt auch einen Tag vor dem der deutschen Einheit in die Kinos und ist von Leander Haussmann gedreht worden, einem Ossi.
Und ich ging in den letzten vier Wochen viel lieber in Freiluftkinos als dann darüber hier zu schreiben („Japon“ fand ich langatmig). Ich dachte mir, was soll´s, jeder steckt im Urlaub oder im Sommerloch, ist jedenfalls nicht im Internet unterwegs. Also klappe ich das Online-Tagebuch eine Weile zu, merkt sowieso keiner. Kommt sowieso kaum ein Feedback ...
Aber heute schon. Heute fragte eine Christine nach, warum ich mit den Einträgen so säumig sei. Recht hast du, Christine, dachte ich, und – mit den besten Grüßen – es gab ja auch wieder einiges zum Lesen.

Mittwoch, 16. Juli 2003

Himmelfahrt

Dort,
Wo der Blick aus dem Boot
Schwer ins Wasser sinkt
Und wieder auftaucht
Im Verschwommenen,
Wo tote Stege zwischen Erlen
Die Ufer markieren,
Wo Seerosen im ersten Licht
Und Libellen im Abendrot schweigen
Über das, was von Tagen übrig bleibt,
Dort,
Wo das Leben sich abspiegelt,
Hast du gesagt,
Wirst du immer gewesen sein.

Als ich kam,
Mich an deine Seite zu setzen,
Warst du verschwunden.

Montag, 23. Juni 2003

057 | Morcheeba

Sonnabend zur Sommersonnenwende spielten Morcheeba auf der Museumsinsel vor der Alten Nationalgalerie. Pop open Air. Aber Sonne und Sommer hatten sich abgewendet; die Himmelszeichen standen auf Regen. Die Fans setzten sich auf die hoffnungsvoll grüne Auslegeware vor der Bühne und warteten. Und starrten vereinzelt kleine Löcher ins Wolkengrau.
Über ihre Köpfe hinweg starrte von seinem hohen Denkmal-Ross aus Friedrich Wilhelm IV. missbilligend auf ein riesiges „Zitty“-Plakat. Darauf war zum aufbegehrenden „Die Stadt bin ich“-Slogan ein weißes Marmorbüstenhaupt abgebildet, das wie der frostige Kai aus Andersens „Schneekönigin“ aussah und seinerseits auch in den Himmel starrte.
Dann - gegen halb neun - fingen Morcheeba zu spielen an. Alles erhob sich und drängte zur Bühne. Applaus, als Skye Edwards, die Sängerin lächelnd ans Mikro trat und „Hallo!“ sagte. Sie sah aus wie ein nettes schwarzes Südstaatenmädchen, oder wie die kleine Rudi aus Bill Cosbys Familienbande, nur etwas größer, mit dreiviertellangem Rock und mit zu Schneckchen geflochtenem Haar. Dabei kommt sie mit der Band aus London.
Während des ersten Songs sah auch sie immer wieder in den luftfeuchten Himmel, rüber zum Berliner Dom, wo ein großer Starenschwarm wendig wie eine Fischschule seine Runden über der Kuppel drehte.
Skye Edwards wirkte entspannt. Ihre Samtstimme und die sanften Gesten schienen den drohenden Regen abwenden zu können. Und tatsächlich - bereits während des ersten Songs riss der Himmel auf und die Regenwolken begannen, sich in alle Winde zu zerstreuen. Ebenso der Rauch einiger Joints. Es mussten entscheidende Energien fließen. Sky(e), natürlich! – nomen est omen!

Für die aktuelle Tour wurde die ursprüngliche Dreierformation, bestehend aus den Gebrüdern Godfrey und eben Skye Edwards, durch einen Bassisten, einen Drummer, einen Keyboarder und einen jungen Mann an den Turntables als Gastmusiker aufgestockt, die ihre Sache allesamt gut machten.
„Morcheeba“ ist nicht nur eine bemerkenswerte Mischung unterschiedlichster stilistischen Einflüsse, sondern auch das perfekte Zusammenspiel von Elektronik und Livemusik. Ob mit oder ohne „Trip-Hop“-Etikett. Für mich die Musik des neuen Jahrtausends. Sehr harmonisch das Ganze.
Wer wie ich alle 4 Morcheeba-Platten zu Hause hat, wird die sicher nicht nur hoch und runter hören, er wird vielleicht auch seine Mühe haben, die Stücke auseinander zu halten und zuzuordnen. Aber das macht nichts. Im Grunde ist jeder Song nur eine Variante des harmonischen Ganzen, das man als „God Vibes“ bezeichnen könnte. Auf anderer Ebene – ´tschuldigung - vergleichbar mit Vivaldi, über den es hieß, er habe nicht 1000 Themen komponiert, sondern ein Thema tausendmal. Doch auch das macht überhaupt nichts, im Gegenteil.

Bereits mit dem ersten Lied - natürlich weiß ich nicht mehr, welches das war – hatte Skye, die Sängerin, das Publikum und mich auf ihrer Seite. Ich kann mich auch nicht erinnern, wann ich eine so uneitle Performerin erlebt habe. Sie war naturbelassen schön und positiv wie ein Kind, selbst wenn sie sich kokett in den Hüften wiegte und mit dem Publikum flirtete. So winkte sie auch schon mit beiden Händen zu zwei kleinen dunkelhäutigen Kindern rüber, die auf der Treppe der Nationalgalerie standen. Vielleicht ihre eigenen. So versuchte sie voller Übermut das Berliner Publikum zum Mitsingen zu bewegen, was bei „Friction“ sogar gelang.

Am Ende, nach einer und einer dreiviertel Stunde, waren jedenfalls alle glücklich. Wie nach einem Film, in dem das Gute siegt, ohne allerdings mit dem Bösen gekämpft haben zu müssen. Die letzte Zugabe hieß – erhofft und zu erwarten – „rome was`nt built in a day“. Der Song klang noch, da verteilte Skye Handküsschen, nahm eines der todmüden kleinen Kinder auf den Arm, welches nun hinten an der Bühne stand, und verschwand lachend als erste.

(Am 19. Juli kann man Morcheeba übrigens noch in Karlsruhe sehen.)

Sonntag, 15. Juni 2003

Das Durchgangszimmer

Die Wohnung, hieß es, gehörte früher reichen Juden, besser gesagt: die Wohnungen. Nach dem Krieg hatte man den gesamten Etagenverbund dreigeteilt. Weil an Unterkünften Mangel herrschte und es keine Juden mehr gab, die dagegen Einspruch erheben konnten.
Alle drei Wohneinheiten, wie man sie jetzt nannte, wurden nach einem nicht immer durchschaubaren Dringlichkeitssystem zugewiesen, nachdem einige vergleichsweise geringe Schäden beseitigt worden waren.
Die größte und komfortabelste Wohnung - auf der linken Seite, mit drei Zimmern, Innentoilette und einem Wintergarten – bezog ein russischer Offizier. Der arbeitete jedoch die meiste Zeit in der „Kommandatur“, einem nahe gelegenen Hotel, wo die neuen Machthaber abends ebenso gut wie die alten zu feiern verstanden.
Das Privileg einer Wohnberechtigung für die zwei Zimmer gegenüber der Offizierswohnung erhielt eine ausgebombte kinderreiche Wäscherin. Denn Wäscherinnen wurden vor allem für Offiziersuniformen gebraucht.
Gleichsam eingeklemmt von diesen beiden Wohnungen, aber mit separatem Zugang, lag die dritte. Im Grunde genommen nur ein einzelner Raum mit einem einzelnen, vorerst notdürftig instandgesetztem Fenster: das ehemalige Bedienstetenzimmer. Obwohl das Wort „Bedienstetenzimmer“ bereits zu herrschaftlich klingt. Es war eine Kammer, in der es weder Herd noch Ofen gab. Eine gewisse Bedeutsamkeit kam diesem Raum höchstens wegen der zwei Durchgangstüren zu, die – nun verschlossen - einmal die Verbindung der beiden anderen Wohnungen darstellte. Und dorthin zog eine etwa vierzigjährige unauffällige Frau, die kaum mehr als ein Eisenbett besaß.
Sie musste sich nicht nur mit der Enge abfinden, sondern auch noch das im Treppenhaus befindliche Außenklo mit der Wäscherin und deren Kindern teilen. Aber man hatte andere Sorgen und Schlimmeres bereits hinter sich.
Woher diese unauffällige Frau kam und wie ihre familiären Verhältnisse einmal ausgesehen hatten, wusste keiner im Haus. Es interessierte auch keinen, wie man sich im Treppenhaus immer wieder flüsternd bestätigte. Man habe ja schließlich mit sich selbst genug zu tun, hieß es. Aber es ging das Gerücht, dass die auffällig unauffällige Frau, die mit ihrem widerlich zur Schau getragenen Leiden hausieren zu gehen schien, Ähnlichkeit mit einem Kindermädchen habe, das vor etlichen Jahren bei den Juden zur Anstellung gekommen war. Natürlich hätte man sie daraufhin ansprechen können, aber unverhohlene Neugier galt als unschicklich und zeigte sich deshalb nur versteckt, wenigstens versteckt vor dieser Frau. Sie sprach von sich aus auch mit niemandem und grüßte, wenn überhaupt, nur so verhalten, dass sie von jedem für unfreundlich erklärt wurde.
So nahm es kein Wunder, dass sich die Gerüchte mehrten.
„Judenliebchen“ sagte man und deutete mit dem Kopf zur 1. Etage, wo früher der Kaufmann und jetzt sie wohnte. Sie habe seiner Familie geholfen unterzutauchen, sagte man, nachdem er abgeholt worden war. „Abgeholt“, so sagte man, und „Judenliebchen“, auch wenn einem „Judenhure“ auf den Lippen lag. Was mit der Familie passiert sei? Wer weiß es und wer will es wissen?
Und als diese Frau, die weder Mann noch Kinder hatte, schwanger wurde, fragte man sich im Treppenhaus natürlich, wer denn dafür in Betracht kommen könne. Die meisten waren sich einig, dass nur der Invalide von vis-á-vis, ein alter Prokurist mit Holzbein, ihr was angehängt haben konnte. Schließlich war diese Frau einmal in der Woche bei ihm putzen. Putzen! Selbst die Rückkehr des Juden wurde von manchem in Erwägung gezogen. Nur die Wäscherin aus der Nachbarwohnung wusste Bescheid. Sie hatte diese Frau eines Nachts, nachdem der Russe lärmend heimgekehrt war, im Nachthemd vor der Außentoilette sitzend vorgefunden, mit versteinertem Gesichtsausdruck und angezogenen Beinen.
Die Wäscherin, die bisher auch keinen großen Kontakt zu ihrer Nachbarin unterhalten hatte, brachte sie in jener Nacht in ihr Zimmer zurück und schob mit ihr das Eisenbett vor die Durchgangstür zur Soldatenwohnung.

II.
Unauffällig wie das Leben dieser rätselhaften Frau verlief auch deren Entbindung. Wäre die Wäscherin nicht als Hebamme zugegen gewesen, hätte sie in ihrer Wohnung davon kaum etwas mitbekommen.
Es war nicht das erste Mal, dass sie so einem kleinen Wurm ins Dasein verhalf. Nur wunderte sie sich, dass dieses Kind, ein Knabe, nicht schreien wollte. Selbst der Klaps auf seinen kleinen Hintern brachte nichts anderes als ein stummes Wimmern zutage.
Nachdem der Knabe bereits laufen gelernt hatte, wurde der russische Offizier in seine Heimat zurückbeordert. Die geräumige, wenn auch verwahrloste Soldatenwohnung durfte daraufhin von der unauffälligen Frau und ihrem Kind bezogen werden, was den Neid der anderen Mieter heftig erregte. Denn obwohl bei ihr, wie jeder einsah, ein weiteres Zimmer und vor allem ein Ofen erforderlich war, schien der Luxus einer Dreizimmerwohnung doch arg übertrieben. Aber der Offizier hatte offenbar an ein paar Fäden gezogen, bevor er für immer in den Weiten Russlands verschwand.
Bald darauf ging auch die Wäscherin mit ihren Kindern fort. Man hatte ihr zwar angeboten, die nun freigewordene Kammer als drittes Zimmer zu nutzen, aber woanders gab es für sie eine Wohnung mit Innentoilette. Und so kam es, dass die unauffällige merkwürdige Frau mit ihrem nicht weniger merkwürdigen Kind vorerst allein auf der ganzen Etage wohnte.
Manchmal entriegelte die Frau die beiden Zugangstüren ihrer alten Behausung und sperrte sie weit auf. Dann nahm sie ihr Kind an die Hand und führte es durch die Räume ohne auch nur ein einziges Wort dabei zu verlieren.
Dem Knaben wurde diese Art von Ausflug alsbald zur lieben Gewohnheit. Obwohl die Zimmer ausgeräumt waren, gab es für ihn noch vieles zu entdecken. Hier ein Bleistiftstummel, da eine zurückgelassene, vertrocknete Topfpflanze oder eine aus dem Wirtschaftsbuch der Wäscherin herausgerissene Seite, welche einseitig beschrieben war. Dann die Schattierungen der Ofenkacheln in dem einen Zimmer und die abgeblätterte Farbe des gusseisernen Waschbeckens in dem anderen.
Der Knabe konnte, wenn er allein war, lange Zeit auf Tätigkeiten verwenden, die kein eigentliches Spielen darstellten. So verfolgte er immer wieder die sich auf einer Linie bewegende Schrift auf der Wirtschaftsbuchseite mit seinem dürren Finger, ohne sie zu begreifen. Er gab sich einfach den Schwüngen und Schnörkeln hin. Die Schrift schienen ständig ihre Richtung ändern zu wollen, als haben sie vor, sich selbst zu entkommen, bevor sie von unsichtbarer Hand weiter in eine Richtung gezwungen wurde.
Mit dem Bleistiftstummel die Rückseite des Blattes zu bekritzeln, fiel dem Knaben nicht ein. Dafür versuchte er immer wieder an einen weißen Knopf zu gelangen, den er hinter der Scheuerleiste entdeckt hatte. Weil das nie klappte, füllte er eines Tages den Spalt mit grauer Erde aus dem Blumentopf aus. Als wollte er den widerspenstigen Knopf zur Strafe lebendig begraben.
Während das Kind so seine mikrokosmische Welt erkundete, stand seine Mutter oft nicht anders als reglos an einem der Fenster und starrte in die Ferne vergangener Tage. Der Knabe lag dann meist von seinen Unternehmungen müde geworden am Boden und überflog den Deckenstuck mit seinem versteinerten Obst und den bleichen Girlanden aus reglosen Blättern, von denen ein paar Spinnwebfäden wie tote Seelen hingen.
Die gesamte Kindheit des Knaben verlief völlig unspektakulär. Er verließ die Wohnung nur, wenn es – wie zum Schulbesuch - unbedingt erforderlich war. Und selbst dann passierte nichts, was erwähnenswert wäre. Freunde hatte er keine. Sonderbarerweise ließen ihn die anderen Kinder stets in Ruhe. Er galt als Außenseiter, dem übel mitzuspielen nicht einmal Spaß machte.
So konnte der Knabe ungestört seinen Tagträumen nachhängen. Am liebsten tat er das in dem Durchgangszimmer, dem Ort seiner Geburt. Hier war sein Fluchtpunkt, das Tor zu einer anderen Welt, die er sich vorstellte und nur zu gerne betreten hätte.
War seine Mutter nachmittags irgendwo eine fremde Wohnung putzen, nahm er sich ein Märchenbuch mit, setzte sich auf die kahlen Dielen und verschwand zwischen den Seiten. Er war wie ein Wartender, den man vor Jahren mit dem Versprechen auf eine baldige Rückkehr hergebracht hatte. Füllte sich die ehemalige Soldatenwohnung allmählich mit notwendigem Hausrat, blieb das Durchgangszimmer unverändert leer. Nur die in grauer Erde vertrocknete Topfpflanze hatte er sich aus der Wäscherinnen-Wohnung herüber geholt, bevor sie von einem der letzten Kriegsheimkehrer vorübergehend bezogen wurde. Vielleicht fühlte er bei dieser toten Pflanze eine Art Verantwortung oder Seelenverwandtschaft. Vielleicht wollte er aber auch nur eine Erinnerung an die schweigsamen Ausflüge mit der Mutter herüberretten.
Als der Heimkehrer wieder ausgezogen war, ging der Knabe nach der Schule allein durch die zwei geräumten Zimmer. Es roch nach kaltem Zigarettendunst und überall gab es die Spuren dieses Eindringlings: gestapelte Zeitungen, leere Konservendosen, einen vollen Ascheeimer vor dem Ofen mit den vertrauten Kacheln.
Der Knabe begann, diese Spuren zu beseitigen, um die ihm bekannte Ursprünglichkeit der leeren Räume wiederherzustellen. Und er wünschte sich mit einer ihm bis dahin kaum vertrauten Leidenschaft, dass nie wieder jemand Fremdes sein Schattenreich, für das er es hielt, betreten werde. Er wünschte sich, dass die Zeit wie im Märchen von Dornröschen anhält, damit alles Vergangene, was er nur noch ahnen durfte, Bestand habe und von ihm geistergleich betrachtet werden könne.
Keine zwei Wochen darauf zog ein altes Ehepaar in seine dunkle Traumwelt. Die beiden Greise hatten, so erzählten sie sofort jedem im Haus, ihr Häuschen am Stadtrand dem Sohn und der Schwiegertochter überschrieben und waren von denen darauf vor die Tür gesetzt worden. Aber das interessierte den Knaben nicht. Statt Mitleid schwelte in ihm Hass gegen die Neumieter, die ihn, den Geist des Schattenreiches, so vertrieben hatten, wie sie selbst vertrieben wurden. Im Treppenhaus ging er ihnen wie allen anderen aus dem Weg. Traf er sie doch einmal, verfluchte er sie. Er betete sogar auf eine intuitive Art und Weise dafür, dass sie ersticken sollten, wenn er mit der vertrockneten Topfpflanze allein im Durchgangszimmer saß und nebenan die alten Leute husteten. Ob nun seine Gebete erhört worden waren oder der nagende Kummer schuld war, fest steht, dass die alte Frau tatsächlich kurz darauf verstarb und ihr Mann in einem Pflegeheim untergebracht werden musste. Warum die Wohnung dann leer blieb, ist schwer zu sagen. Vielleicht wollte sich niemand mit einem Geist anlegen.

III.
Nach Beendigung der Schulzeit verspürte dieser sonderbare Mensch weder den Wunsch, einen Beruf zu erlernen, noch spielte er mit dem Gedanken, sich sein weiteres Leben aufzubauen. Hier sei sein Platz, glaubte er, hier gehöre er hin. Er wusste es nicht besser.
Das Geld der Mutter, die alle bescheidenen Einkäufe selbst erledigte, reichte für beide. Da seine Mutter außerdem fürchtete, er könne sie eines Tages verlassen, drängte sie ihn nie zu etwas, was seine Eigenständigkeit gefördert hätte. So konnte sich der inzwischen äußerlich zum Mann herangereifte Knabe den zweifelhaften Luxus leisten, das Haus lange Zeit nicht verlassen zu müssen. Er durchstreifte immer wieder das Durchgangszimmer und die zwei Räume, wo die Wäscherin einmal gewohnt hatte, lag auf dem Boden, starrte sich an irgendeinem Punkt fest, lauschte seinem regelmäßigen Atem hinterher, genoss den kühlen Staubgeruch und schlief darüber immer noch ein. Wie ein Toter lag er in seiner unbegrenzt begrenzten Welt, die ihn zu bewachen schien.
Vielleicht wurde er deshalb nicht besonders groß. Es war wie bei einem Aquarienfisch, der auf wundersame Weise klein bleibt, wenn ihn sein Lebensraum dazu zwingt. Und je seltener der kleine Mann seinen Lebensraum verließ, um so feindseliger erschiehn ihm die Welt hinter dem Glas.
Aber war er denn glücklich in seinem Schattenreich? Sein Gesicht war eine einzige Leidensmiene, die blasse Haut wirkte wie das fettige Wachs vergilbter Kirchenkerzen, war aber so pergamentartig dünn, dass sich die blauen Blutgefäße darunter wie Krankheitssymptome abzeichneten. Kurzum, er sah einem Geist allmählich auch ähnlicher als einem Menschen. Und vielleicht empfand er es genauso. Er machte niemanden für sein Scheinmartyrium verantwortlich, wozu auch, er litt ja nicht. Außer Angst und Hass kannte er keine Gefühle. Menschen waren ihm egal. Selbst seine Mutter bedeutete ihm nichts. Nur gehörte sie einfach zum gewohnten Mikrokosmos dazu. Er lebte meistens leidenschaftslos, wie in dem Zustand, den Heilige anstreben, wenn sie sich von irdischen Begehrlichkeiten verabschieden. Auf diesem Gebiet war er ihnen sogar überlegen, da er auch keine Erleuchtung begehrte und sich nach keiner göttlichen Liebe verzehrte. Er befand sich so gesehen schlichtweg im Paradies, wo die Gleichgültigkeit wie Unkraut wuchs und dem Baum der Erkenntnis das Licht nahm. Nur die Schutzbedürftigkeit eines gehäuteten Krebses verlieh ihm im übertragenen Sinne etwas Menschliches.
Aber darüber machte er sich niemals Gedanken, denn Selbstreflexionen waren ihm so fremd wie die Welt da draußen, in der er sich dafür hätte spiegeln müssen, statt wie durchs Fenster durch sie hindurchzusehen. In ihm rosteten die Talente wie Ausbruchswerkzeuge, die weder erkannt, noch gebraucht wurden.
Diese Situation sollte sich erst Jahre später ändern:
Seine Mutter war im Treppenhaus gestürzt. Sie hatte sich ein Handgelenk und zwei Rippen gebrochen. Den Hausmeister, der als einziger ein Telefon besaß, zu bitten, einen Krankenwagen zu rufen, lehnte sie jedoch ab. Sie nahm den Bus und ließ sich von ihrem Sohn begleiten. Obwohl sie starke Schmerzen hatte, klagte sie nicht. Sie biss die Zähne zusammen, wie sie es immer getan hatte, und saß – mit den Augen nach außen und dem Blick nach innen – schweigend da. Wie sie es auch immer getan hatte. Ihr Sohn blinzelte fremd in das Licht.
Als sie aus dem Bus steigen wollten, der direkt vor der Klink hielt, fühlten sich die Beine der Mutter schwer und steif an. Sie hatte Angst, erneut zu fallen und drückte ihre Beine durch, als könnte sie den Boden damit auf Distanz halten. Die Beine anzuwinkeln war kaum und nur unter großer Kraftanstrengung möglich. Nachdem sie geröntgt, der Arm eingegipst und der Brustkorb bandagiert worden war, gab ihr der Arzt für den Heimweg eine Krücke mit, obwohl er, was die Beine anging, nichts feststellen konnte. Auch bei der Nachuntersuchung einige Wochen später nicht. Selbst nachdem die Rippen wieder zusammengewachsen waren und sie die Hand wieder einigermaßen bewegen konnte, blieben die Lähmungserscheinungen in den Beinen. Ein Rätsel für die Ärzte. Diese sonderbare Frau aber beklagte sich nicht und wollte auch nicht wirklich wissen, wie so etwas passieren kann. Es war eben so, und damit fertig. Nicht ein einziges Mal sprach sie mit ihrem Sohn darüber. Sie tauschte nur ihre Krücke gegen einen Gehstock ein, den sie sich nach ihrem letzten Arztbesuch unterwegs gekauft hatte. Und damit bekam ihr Zustand etwas Endgültiges.
Ihr Sohn befand sich nun in einer völlig neuen Situation. Er war genötigt, sich um den Haushalt und seine zum Pflegefall gewordene Mutter zu kümmern. Waschen konnte sie sich, anfangs sogar noch mit Gipsarm, allein. Aber er musste ihren Nachttopf entleeren und ungewohnte Arbeiten wie das Waschen der Kleidung in einer alten Zinkwanne bewerkstelligen.
Hatte die Mutter früher noch alles zum Trocknen auf den Hof oder den Dachboden gehängt, so nutzte ihr Sohn einzig das nachbarliche Durchgangszimmer dafür. Er schlug große Nägel in die sich gegenüberliegenden Türrahmen und spannte Wäscheleinen dazwischen. Weil er das Fenster oft verschlossen hielt, roch die Wäsche meistens modrig; ein Geruch, der sich auf ihn und seine Mutter übertrug und bald dazu gehörte wie der Rest ihres sonderbaren Lebens. Aber weder das eine noch das andere wurde von ihr oder ihm befremdlich wahrgenommen.
Anfangs schien es, als sollte der junge Mann durch die Hausarbeiten aus seiner Lethargie herausgerissen und in die Alltagswelt gezwungen werden, die er bloß als Geist durchstreifte. Aber statt aus seiner Lethargie zu erwachen, unterwarf er auch die neuen Tätigkeiten seiner traumwandlerischen Routine. Doch seit dem Treppensturz der Mutter war er auch genötigt, ab und an das Haus zu verlassen, um von der Invalidenrente der Mutter die nötigsten Einkäufe zu machen. Allerdings beherrschte er schnell die Kunst, sich in der Sparkasse und den Geschäften, wo man ihn für stumm hielt, wortlos zu verständigen. Denn zu reden war ihm bereits ein furchtbarer Gedanke. Mit jedem Wort, das ihn verlässt, glaubte er, dringe die äußere Welt wie eine Krankheit in ihn.
Im Nachbarhaus gab es einen kleinen Lebensmittelladen, den er aber aus Furcht, erkannt und angesprochen zu werden, mied. Also ging er weiter Richtung Kaufhaus oder zum Wochenmarkt. Lief er erst einmal auf der Straße, kam es nicht so sehr auf die Länge der Strecke an, sofern er diese anonym zurücklegen konnte. Dabei versuchte er, keinem Menschen in die Augen zu blicken. Und wenn er es doch einmal tat, war er froh, dass die meisten durch ihn hindurchschauten.
Er sah nun langhaarig und bärtig aus wie einer der Hippies und Gammler, an deren Anblick man sich mittlerweile gewöhnt hatte, nur kindlicher und greisenhafter zugleich. Sein Blick war starr und oft wie von Drogen nach innen gelenkt. Dass aus seiner Mutter eine alte Frau geworden war, die immer weniger aß und kaum noch ihr Bett verließ, drang selten dorthin. Er wusste nicht wirklich um die Sterblichkeit der Menschen. Ihn beschäftigte jetzt auch etwas ganz anderes: Nach 15 Jahren hatte wieder jemand sein Schattenreich bezogen. Und diesmal war es eine eine junge Frau.

IV.
Das erste Mal begegnete er ihr im Hausflur. Er wollte um die Mittagszeit, wo die wenigsten Leute unterwegs sind, einkaufen gehen. Und genau da stand sie am Briefkasten, klebte ihr Namensschild auf und grüßte mit einem Lächeln. Der Mann wusste genau, zu welcher Wohnung der Briefkasten gehörte, an dem sich die junge Frau zu schaffen machte. Später las er sich mehrmals ihren Namen durch. Aber jetzt erfasste er ausschließlich ihre schlanke Erscheinung und ihr blondes Haar, von dem so ein betörender Duft ausging, dass der Mann unverzüglich seinen Atem anhielt. Er war verwirrt und fühlte sich schutzlos ausgeliefert. Aber sie lächelte ihn an.
Der Mann sah, ohne den lächelnden Gruß zu erwidern, weg und verließ das Haus. Merkwürdig, dachte die junge Frau.
Als der Mann zurück war, stellte er sein volles Einkaufsnetz im Flur ab, betrat leise das Durchgangszimmer und lauschte an der Tür, hinter der die Gegenwart das Zeitlose bezog. Er konnte spüren, wie die vertrauten Schatten durch die Tür in ihn drangen, auf der Flucht vor dem, was die Frau gerade tat. Aber diesmal ging von ihm keine Feindseligkeit aus, sondern bloße Neugier. Wer war diese Frau? Er hörte, wie sie durch die Räume ging, wie sie Nägel in die Wand schlug, wie Geschirr klapperte und wie hin und wieder etwas herunterfiel. Er hörte, wie am anderen Tag Möbel in sein Schattenreich getragen wurden und er hörte, wie sich die Stimme dieser jungen Frau mit der Stimme eines Mannes unterhielt. Darüber hatte er das Einkaufsnetz im Flur vergessen.
In den nächsten Tagen vergaß er, sich und seiner Mutter einige Mahlzeiten zu bereiten, da er weder Hunger noch Durst verspürte. Wenn die junge Frau Besuch bekam, vergaß er sogar die bloße Anwesenheit seiner Mutter, bis sie sich müde in Erinnerung rief und gequält vergessene Hausarbeiten anmahnte.
In der Waschecke der Küche wuchs ein Wäscheberg, auf dem sich bereits einige Stubenfliegen niederließen. Aber das sah der Mann nicht. Er hatte seine Augen geschlossen, während er ein Ohr an die Tür zum Ort seiner Vertreibung presste und Gesprächsfetzen gierig aufschnappte, in denen es um Professoren, Vorlesungen und um eine Feier ging. Er hörte, wie sie lachten, wie sie kicherte. Dieses junge Lachen faszinierte ihn, aber er wünschte gleichzeitig, es würde aufhören. Denn noch nie hatte jemand in diesem Haus etwas zu lachen gehabt. Als es dann unvermittelt still wurde, wünschte der Mann allerdings wieder, sie würde ewig weiterlachen. Er wusste nicht, was er wollte. Er versuchte, sich an den betörenden Geruch dieser jungen Frau zu erinnern. Aber es gelang nicht. In ihm stieg eine Melancholie auf, wie sie Russen kennen, wenn sie fern der Heimat sind. Und sein Blick fiel auf die vertrocknete Topfpflanze, die seit Jahren in der Ecke des Durchgangszimmers stand.
Der Wunsch, diese Frau zu riechen wurde bald so übermächtig, dass der Mann beschloss, ihre Wohnung zu betreten, die sie fast immer zur gleichen Zeit verließ. Er beobachtete, nachdem sie ihre Wohnungstür abgeschlossen hatte, einige Minuten vom Wintergartenfenster aus die Straße. Draußen war Frühling. Unter dem zarten Grün einer Kastanie erschien die junge Nachbarin und überquerte eilig die Straße. Sie trug eine hellblaue Jeans mit Blumenstickereien und über einer weißen Bluse eine hellbraune Weste. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem einfachen Zopf nach hinten gebunden. Sie bewegte sich trotz ihrer schweren Clogs mit mädchenhafter Anmut. Von der Schulter hing ein Stoffbeutel, der die Leichtigkeit ihres Lebens zu enthalten schien.
Der Mann wandte sich vom Fenster ab und nahm beim Verlassen des Zimmers das Frühstück seiner Mutter mit, die nichts angerührt hatte. Nur eine schwarze Fliege hatte das Butterbrot und die Apfelstücke untersucht und flog auch beim Raustragen nicht auf. Die Mutter lag mit offenem Mund und totem Blick, der irgendwo in die Zimmerdecke gegraben war, auf dem Sofa. Seit einiger Zeit lag sie auch nachts dort. Denn sie glaubte, der Tod würde vor dem Schlafzimmerbett auf sie warten.
Ihr Sohn wartete im Durchgangszimmer, bis er ganz sicher war, dass sich niemand mehr in der Nachbarwohnung aufhielt. Dann drehte er vorsichtig den Messinggriff herum und schob die Tür langsam auf. Er hatte damit gerechnet, dass ihm eine Kiste oder ein Schrank den Weg versperren würde, aber nicht mal ein verräterisches Knarren war zu hören.
Es roch nach frischer Farbe, alles war in den beiden Räumen weiß gestrichen, die Wände und Decken mit den elektrischen Leitungen, die sich wie Adern unter der Tapete abhoben. Dadurch erhielt das spärliche Mobiliar eine Bedeutung, wie sie Ausstellungsgegenständen zukommt. Selbst die Türen und Fensterrahmen glänzten weiß vom Lack.
Aber unter dem intensiven Farbgeruch, der gleichsam die Nase blendete, lag der betörende Duft dieser schlanken Frau. Noch bevor sich der Mann in Ruhe umsah, ergriff er die über einen Stuhl gehängte Strickjacke und presste sie gegen sein Gesicht, um sich dieses Duftes zu vergewissern. Er schloss die Augen und sah ihr blondes Haar, sah wie sie über die Straße ging, sah, wie sie ihre Lippen vor den Briefkästen bewegte. Mit diesem Duft glaubte er weitaus mehr als ihre Schönheit einzuatmen. Die ganze Frau, ihr Wesen, ihre Seele wollte er in sich aufnehmen. Er meinte sogar ihre Gefühle zu riechen und die Ängste, welche sie mit der Kindheit abgelegt zu haben glaubte. Aber sie waren noch da. Und keiner verstand sich darauf so gut wie dieser Mann.
Vorsichtig, als könnte er etwas verletzen, hängte er die Jacke wieder über den Stuhl, der in dem sonst noch recht kahlen Raum vor einem angeklappten Fenster stand. Nur einige Bücherkisten, ein Plattenspieler und eine dem Ofen gegenüberstehende alte Anrichte deuteten auf ein zukünftiges Wohnzimmer. Im Nachbarraum gab es weitere Bücherkisten, außerdem einen kleinen Wäscheschrank. Den meisten Platz beanspruchte eine Bettstelle aus zwei zusammengeschobenen Matratzen, über die sich ein weißes Laken faltig spannte. Weiß bezogen war auch die Bettwäsche: ein Kissen und eine nur zur Seite geschobene Decke. Neben dem gusseisernen Waschbecken stand der einzige Tisch der Wohnung, darunter ein Heizstrahler. Auf dem Tisch trocknete abgewaschenes Geschirr. Über eine kleinen Leine waren zwei Handtücher und ein Lappen gehängt. Und in der Ecke neben dem Waschbecken stand ein Eimer voller Pinsel neben einer großen Emailleschüssel, in der sich die Frau offenbar wusch.
Der Mann hatte alles schnell erfasst und sah nicht nur das Leben dieser Frau, er glaubte es zu wissen.
Er wusste, wie sie sich morgens Wasser für Tee und nicht für Kaffee aufsetzte, wie sie das restliche Wasser zum Waschen nutzte, wie sie am Ende nackt in der Emailleschüssel stand und nach einem Handtuch von der Leine griff.
Der Mann roch an dem großen, feuchten Handtuch. Aber der Geruch enttäuschte. Vielversprechender war ihm ihr Schlaflager. Zuerst schob er auf der Suche nach einem Nachthemd seine Hand unter die Decke. Als er aber nichts dergleichen fand, beugte er sich beinahe zärtlich über ihr Kissen, das mit ihrem Geruch parfümiert war. Er sah aus, als wollte er eine schlafende Unsichtbare küssen, dann schien er sich mit diesem Kissen ersticken zu wollen.
Zu gern hätte er sich unter die Decke gelegt und in völliger Entspanntheit alles auf sich wirken lassen. Aber er war in seinem Sinnestaumels beherrscht genug, um alles, was er vorfand, nicht zu verändern. Einer Verlockung konnte er allerdings nicht widerstehen: Er prägte sich genau die Lage und den Faltenwurf der Decke ein und schob sie in der Mitte leicht zur Seite. Dann hielt er seine Nase auf die Stelle des Lakens, an der er nachts ihren Schoß vermutete.
Seine Nase kostete von dem schwach konzentrierten Duft aus Nachtschweiß, Scheidensekret, Urin und parfümierter Seife. Jetzt hatte er die junge Frau mit all ihren Facetten in sich aufgenommen, wie er glaubte, mit ihrer Einsamkeit, Sehnsucht und Lust, mit all ihren Träumen und Nachtseiten, die er spürte, die er roch. Und auch jetzt wusste er mehr als er sah: wie sie sich ganz auszog, sich hinlegte und zudeckte, wie ihr Atem leise im Schlaf ging und wie sie sich doch unter dem festen Griff ihrer Träume unruhig und leicht schwitzend wand.
Es war wie eine Sucht. In den nächsten Tagen, ja Wochen schlich sich der Mann immer wieder in die Wohnung der jungen Frau, sobald sie das Haus verlassen hatte. Jedes Mal sog er ihren Duft mit einer Intensität in sich, als könnte schon beim nächsten heimlichen Besuch die Durchgangstür für immer verstellt sein. Sämtliche Gerüche nahm er mit der Präzision eines Spürhundes wahr. Bald glaubte er sogar, ihre Befindlichkeit riechen. Er wusste, wann sie entspannt und wann gestresst war, wusste wann sie ein körperliches Unwohlsein verspürte, wann sie sich selbst nicht leiden konnte und wann sie voller Lust steckte. Wenn ihm auch der Zyklus einer Frau nicht vertraut war, so konnte er ihn doch riechen. Er entwickelte mehr Einfühlungsvermögen, als sich Frauen jemals von Männern wünschen würden.

V.
Hatte er sich mit dem intimsten Geruch dieser Frau innerlich befriedigt, untersuchte er neugierig einige Gegenstände, um das Bild, das er sich von ihr gemacht hatte, zu komplettieren. Mal war es ein Schuh, den er sich an die Nase hielt und auf Abnutzungserscheinungen hin untersuchte, mal ein Buch, in dem ein Busfahrschein als Lesezeichen klemmte und worin sich sandkorngroße Kekskrümel und eines ihrer blonden Haare befanden. Nie kam er aber auf die Idee, irgendetwas mitzunehmen, nicht mal ein einzelnes Haar.
Auch wenn er die Wohnung der Nachbarin nicht betreten konnte, drehte sich sein ganzes Denken um diese Frau und ihre betörende Welt, die einmal sein Schattenreich war. Aber begegnen, begegnen wollte der Mann ihr nicht, konnte er nicht. Selbst als sie eines Tages an der Tür klingelte – und er roch, dass sie es war – öffnete er nicht. Warum sie geklingelt hatte, blieb ihm rätselhaft.
Ohne dass er es merkte oder merken wollte, vernachlässigte er seine inzwischen bettlägerig gewordene Mutter von Tag zu Tag. Zwar stellte er ihr nach wie vor einfache Mahlzeiten hin, die sie jedoch immer seltener zu sich nahm, setzte sie auf den Nachttopf und wusch sie in unregelmäßigen Abständen. Aber wenn sie wieder mal auf das Sofa uriniert hatte, ließ er sie in der Nässe liegen. Und dass sie am Rücken wundgelegen war, registrierte der Mann erst, als die Wunden übel zu riechen begannen.
Doch so wie er ständig mit seinen Gedanken woanders war, war seine Mutter es auch. Seit Monaten hatte sie nicht mehr gesprochen und ihre Augen blickten leer aus einer zerfallenden Hülle.
Die Wohnung der jungen Nachbarin heimlich aufzusuchen wurde für den Mann zu einer Sucht. Es berauschte ihn. War ihm der Zugang verwehrt, litt er wie ein Drogenabhängiger unter Entzug.
So auch in der Nacht, als die junge Frau spät und in Begleitung heimgekehrt war. Sie lachte im Treppenhaus. Aber diesmal lachte sie anders, leiser, zärtlicher. Und sie flüsterte.
Bereits seit Stunden saß der Mann vor der Durchgangstür und stierte wie vom zwielichtigen Schein der Straßenlaternen hypnotisiert auf das schwarze Fensterkreuz. Nur wenn unten ein Auto um die Ecke fuhr, sah er an der Zimmerdecke. Dort befand sich das abgeklemmte Rohrstück einer alten Gasleitung und ein Haken für die fehlende Lampenaufhängung. Das Rohrstück sah wie ein Giftstachel aus, der vom Scheinwerferlicht der Autos tiefer in die Decke gedreht wird. Und der Haken erinnerte an die Armprothese eines Piraten, die dem Mann als kalte Handreichung entgegengestreckt wird, immer wenn es nebenan kicherte, wenn dort eine Flasche Wein entkorkt wurde, leise Musik und immer wieder ihre Stimme zu hören war, die er nicht verstand. Die drei Türen umgaben ihn wie versperrte Möglichkeiten.
Als mit der Musik nebenan die Geräusche verstummten, hallte das Gehörte im Inneren des Mannes noch lange nach.
Am Spätvormittag des nächsten Tages verließ die junge Frau in Begleitung das Haus. Kurz darauf betrat der Mann ihre Wohnung. Die Luft roch fremd. Neben der Matratze standen zwei Gläser und eine leere Flasche Wein. Vorsichtig schlug der Mann die Bettdecke zurück und stand einige Sekunden bewegungslos davor, dann verließ er die Wohnung, ohne sich für weiteres zu interessieren.

VI.
In der folgenden Nacht schlief die junge Frau allein. Sie träumte unruhig. Ihr war, als hörte sie Dielen knarren und glaubte im Halbschlaf einen etwas modrigen Geruch wahrzunehmen. Noch im Schlaf fühlte sie sich beobachtet.
Am anderen Morgen war sie unausgeschlafen und versuchte sich vergeblich daran zu erinnern, was sie in der Nacht beunruhigt hatte. Aber dann dachte sie an etwas anderes und lächelte. Sie setzte einen Teekessel mit Wasser auf und ging zum Fenster. Das Laub der Kastanie vor ihrem Fenster war von einer Blattkrankheit verdorrt und fiel herbstlich braun herab. An einigen Stellen konnte die junge Frau bereits durch das Geäst auf das gegenüber liegende Haus sehen. Dort saß eine Krähe und starrte herüber. Die Krähe nickte mehrmals mit dem Kopf, als wolle sie jemanden grüßen oder sich darin bestärken, endlich loszufliegen. Die junge Frau fröstelte ein wenig. Nachdem das Wasser gekocht hatte, machte sie sich eine Tasse Tee zurecht und kippte das restliche Wasser in die Emailleschüssel, um sich zu waschen, bis der Tee durchgezogen war.
Nach dem Waschen und Anziehen packte sie ihre Seminaraufzeichnungen zusammen und sah auf die Uhr. Es war noch Zeit. Der Tee hatte am Tassenrand einen öligen Schmutzfilm hinterlassen. Sie ging mit der Tasse wieder zum Fenster und trank den Tee dort mit kleinen Schlucken, als wenn er noch heiß wäre. Essen konnte sie so früh am Tag noch nichts.
Die Krähe war mittlerweile verschwunden. Dafür stand ein rabenschwarzes Auto vor dem Haus. Als sie sich Minuten später auf den Weg zur Universität machen wollte und ihre Tür abschloss, traten zwei dunkel gekleidete Männer, die einen Sarg trugen, aus der gegenüber liegenden Wohnung. Ihr war es unheimlich, obwohl oder weil die junge Frau nicht wusste, wer dort gewohnt hatte.
„Nach Ihnen!“, sagte einer der dunklen Männer und zwinkerte dem anderen zu, während die junge Frau eilig an ihm vorbeiging.
In den folgenden Tagen hielt sie sich nur noch ungern in ihrer Wohnung auf. Sie war erleichtert, wenn ihr Freund bei ihr übernachtete. Sie besuchten die gleichen Seminare, er hatte ihr beim Umzug geholfen und nun waren die beiden so etwas wie ein Paar, ohne daraus Ansprüche auf die Freiheit des anderen abzuleiten. Ein kompliziertes Thema, worüber sie jedoch einhelliger Meinung waren und sich dafür im Bett belohnten. Das wollten sie sie allerdings nicht zur Gewohnheit werden lassen, weil jede Gewohnheit die Freiheit töte. So sagten sie.
Wenn ihr Freund gegangen war, schien die junge Frau bei aller abgemachten Leichtigkeit über ihre neue, unstete Situation nachzudenken, dass sie davon immer zerstreuter wurde. Mal fand sie ein Buch nicht wieder, das sie irgendwohin gelegt hatte, mal vermisste sie ein Wäschestück, wenn sie zum Waschsalon wollte. Als ob ein Geist sein Unwesen triebe. Und diese Vorkommnisse schienen sich zu häufen. Einmal kam sie um die Mittagszeit nach Hause, weil eine Vorlesung ausgefallen war und sie mit ihren Kommilitonen zum See fahren wollte. Als sie fast verzweifelte, weil sich ihr Badeanzug nicht im Wäscheschrank finden ließ, bemerkte sie die selbst für einen Junitag ungewöhnliche Wärme. Sie rührte vom Heizstrahler, den sie aus Versehen angestellt haben musste.
Als sie abends vom See zurück war, hatte sie das mit dem Elektro-Ofen schon wieder fast vergessen und begann, ihr feuchten Sachen über die Leine zu hängen. Dabei löste sich einer der Haken aus der Wand und die Wäsche lag auf dem Boden. Das war zwar nicht weiter tragisch, aber irgendwie kam eines zum anderen. Zu allem Überfluss entdeckte die junge Frau noch eine Kakerlake in ihrem Waschbecken, die dort gefangen saß. Sie hatte keine Vorstellung, wie sie dort reingekommen sein sollte, denn für den Abfluss war sie zu groß. Nachdem die junge Frau ihren Ekel bezwungen hatte, überbrühte sie das Tier mit heißem Wasser und bedauerte zum ersten Mal aufrichtig, dass sie allein lebte. Aber je öfter sie ihren Freund trotz der Gewohnheits-Freiheits-Diskussionen bei sich übernachten ließ, dem sie von all dem nichts erzählte, um so mehr häuften sich diese unheimlichen Vorfälle: Der Plattenspieler ging kaputt, große Spinnen hielten Einzug in die Wohnung. Und fand sich ein vermisstes Höschen wieder an, zum Beispiel hinter dem Wäscheschrank, war es garantiert von Mottenl zerfressen. Einmal lag sogar eine tote Maus vor ihrer Wohnung, die von einer Katze dorthin gelegt worden sein musste.
Aber der Sommer tröstete die junge Frau, lenkte sie ab. Bis spät in die Nacht konnte sie mit anderen Studenten auf dem Campus sitzen, die Ferienzeit genießen, von fernen Musik-Festivals träumen und dem Bluesgesang eines Gitarrespielers zuhören. Vielleicht wurde sie von ihrer unterschwelligen Furcht überredet, einen Trip einzuwerfen. Haschisch war inzwischen nichts Außergewöhnliches, aber zu LSD gehörte Mut.
Sie wusste nicht, ob sie allein nach Hause gegangen war oder ob man sie gebracht hatte. Sie wusste nicht, wie lange sie im Dunklen vor ihrer Wohnungstür gestanden hatte, sie wusste nicht einmal genau, wo sie stand. Irgendwann wollte sie zu dem Außenklo, obwohl sie gar nicht musste. Sie war wie ferngesteuert. Wäre ihr der Keller eingefallen, hätte sie sich wahrscheinlich auf den Weg nach unten gemacht. Aber so trugen sie die Treppenstufen des unbeleuchteten Treppenhauses als schwarze Wellen einen Schritt hoch und zwei zurück oder umgedreht. Wie Schritte übers Wasser, nur bergauf.
Nachdem sie es bis in die enge Kammer geschafft hatte und auf dem Deckel des Klobeckens saß, ohne sich die Hose runtergezogen zu haben, sah sie sich erneut um. Durch das winzige Fenster drang kaum Licht vom Hof. Die junge Frau bildete sich ein, in einem Sarg zu sitzen. Einem Sarg mit Klo, wie praktisch, dachte sie kichernd. Dann versuchte sie sich zu entsinnen, wann sie gestorben sei, denn dass sie tot sein musste, stand für sie fest. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und hörte das Ächzen einer Frau. Als sie erschrocken aufsah, stand sie wieder unten im Treppenhaus vor der Wohnung. Ihre Augen hatten sich an die Finsternis gewöhnt. Aber immer noch ferngesteuert versuchte sie der Bewegung des Schlüssels zu folgen, der sich am Schloss zu schaffen machte. Da öffnete sich die Tür wie von Geisterhand. Ein kleiner Mann mit Bart erschien und machte Licht im Treppenhaus. Was sucht der in meiner Wohnung, dachte die junge Frau und überlegte, wo sie ihn schon einmal gesehen habe. Als sie erkannte, dass sie die Wohnungen verwechselt hatte, ließ sie sich von ihm wortlos den Schlüssel abnehmen und aufschließen.
Dabei musterte sie ihn, sah ihn aus geweiteten Pupillen an, diesen bärtigen Kind-Mann in seinen altertümlichen Sachen. Sein blasses Gesicht drückte den Überdruss eines vertanen Lebens, aber auch die Bereitschaft zum Neuanfang aus. Er schien auf etwas zu warten. Vielleicht ein erlösendes Lächeln, ein Wort des Dankes, ein Wort überhaupt. Vielleicht war es die absurde Mischung von Tragik und Komik, die dort vor ihr stand, vielleicht war es aber auch nur die Wirkung der Droge, auf jeden Fall begann die junge Frau – statt etwas zu sagen – in ein immer stärker werdendes Gelächter auszubrechen. Wie ein reißender Fluss brach es sich aus ihrem Inneren Bahn und schall durchs ganze Haus. Es stieg ihr als Tränen in die geröteten Augen, dass sie sich festhalten musste, um nicht fortgerissen zu werden.
Dann ebbte ihr Gelächter wieder ab. Sie wischte sich, vom Lachen noch etwas nachbebend, die Augen und sah in das dunkle Treppenhaus, aus dem der kleine Mann wie ein eingebildeter Spuk verschwunden war.

VII.
In den nächsten Tagen und Wochen geschah nichts, was man als merkwürdig bezeichnen könnte. Nichts ging kaputt oder ängstete. Einzig der Hochsommer machte der jungen Frau zu schaffen und die Fliegen, die sich vor den Schwalben in ihre Wohnung geflüchtet hatten.
Tagsüber fuhr sie mit den Freunden, die noch in der Stadt waren, an den See, abends ging sie zu einer dieser WG-Partys. Und manchmal lag sie einfach so mit ihrem Freund auf der Matratze, aß einen Apfel, ließ sich etwas vorlesen oder lauschte dem gleichförmigen Sommerregen, der wie um Einlass ans Fenster klopfte. Dabei waren nur die Fliegen lästig, die sich nicht verjagen ließen, die sich auf dem Kopfkissen landeten, auf dem Buch, selbst auf dem Apfel. Eine hatte sich sogar in ihrem langen, blonden Haar wie in einem Netz verfangen und summte dort wütend herum.
„Fleischfliegen!“, sagte ihr Freund. Und es schienen davon immer mehr zu werden. Vielleicht lag ja irgendwo ein vergessenes Stück Wurst. Denn einen Kühlschrank gab es hier nicht. Der Mann machte sich auf die Suche nach der Ursache dieser Fliegenplage, die aus dem Wohnzimmer zu kommen schien. Denn die „Schlafküche“, wie seine Freundin sagte, hatte er schon abgesucht.
Als er die Wohnzimmertür öffnete, fiel der Lichtschein auf die gegenüber, neben dem Eingang befindliche weiß lackierte Tür, die früher einmal ein Durchgang gewesen sein musste. Die Tür war schwarz übersät von unzähligen Fliegen, von denen sich etliche - vom Lichtschein aufgeschreckt – erhoben und wie ein Schwarm Bienen im Zimmer zu lärmen begannen. Unten, am Türspalt, krochen Maden hervor.
Noch nie hatte der Mann so viele Fliegen auf einmal gesehen. Schnell machte er die Tür wieder zu.
„Tausende von Fliegen!“, sagte er zu der jungen Frau, die sich mit großen Augen im Bett aufgesetzt hatte. „Sie kommen aus diesem Raum da!“
Die beiden beschlossen, die Nacht in der Studentenunterkunft des Mannes zu schlafen, zogen sich schnell an und verließen eilig die Wohnung.
Am anderen Tag kamen sie zurück, um den Hausmeister zu informieren.
Der wollte nicht glauben, dass aus dem kleinen Durchgangszimmer Fliegen kommen sollten.
„Das ist leer!“, sagte er. Höchstens, wenn unter den Dielen mal eine tote Maus liege, aber die gäbe es hier nicht in seinem Haus. Nach dem Krieg habe da die kürzlich verstorbene Frau gelebt, sagte er den jungen Leuten. Aber die sei dann in die andere Wohnung gezogen. Er deutete auf die Nachbartür, während er aus einem mitgenommenen Schuhkarton nach dem richtigen Schlüssel kramte. Jetzt wohne nur noch ihr Sohn da, sagte er. Ein sonderbarer Mensch, fügte er leise hinzu und sah vorsichtig zur Seite.
„Es heißt ...“, flüsterte er weiter, unterbrach sich dann aber, als er den passenden Schlüssel gefunden hatte.
Die Tür wollte erst nicht aufgehen, gab dann aber knarrend nach.
Fliegen! Auch hier war alles voller Fliegen. Sie saßen am staubigen, halb offenen Fenster und auf der alten Tapete. Und sie umflogen laut einen kleinen, in der Mitte des Zimmers hängenden Leichnam, dessen Kopf von wimmelnden Maden unkenntlich gemacht worden war und von dem trotz des halb offenen Fensters ein faulig-süßer Geruch ausging. Auf dem Fußboden lag ein aufgeschlagenes Buch, über das eine Made kroch, die keiner sah, und in der Ecke stand eine verdorrte Topfpflanze, die einige grüne Blätter trieb. Mehr war nicht zu erkennen.

Dienstag, 10. Juni 2003

056 | Pfingsten in Berlin

Selbst wenn man Pfingsten nicht das Passende für sich in Stadtmagazinen wie „Tip“ oder „Zitty“ finden sollte, lässt sich in Berlin und Umland einiges unternehmen. Vor allem Altbewährtes. Museen und Kinos verbieten sich bei Sommerwetter irgendwie von selbst. Im Grunde will man nur irgendwo gemütlich sitzen und mit angenehmen Menschen Gaumenfreuden und Neuigkeiten teilen. Zum Beispiel im Kreuzberger „Abendmahl“ in der Muskauer Straße 9. Das Besondere ist dort nicht das Interieur (oder die bunten Lampions draußen an der Markise), sondern das Essen mit Event-Charakter. Zur Zeit gibt es Krimi-Menue-Abende. Dem entsprechen auch an normalen Tagen die Namen der Gerichte. Wer vermutet da schon hinter „männlich, versoffen, böse sucht ...“ Seeteufelfilet auf Portweinlinsen? Oder hinter „Flammendes Inferno“ ein scharfes thailändisches Fischcurry?! Doch irgendwie machen die Namen nicht nur Spaß, sondern auch Sinn. Ich bestellte mir für 15,50 € einen „Mord im Aquarium“ - eine gebratene Dorade, die offenbar aber an Vernachlässigung gestorben war. Bei 3 kleinen halben Rosmarinkartoffeln und 5 Mini-Zuccinischeiben wunderte es mich nicht, dass selbst beim Würzen gegeizt wurde. Selbst die berühmt-berüchtigten Eiskreationen waren fast ausschließlich für das Auge bestimmt. Und weil alles trotz spärlicher Kundschaft lange auf sich warten ließ, kam ich zu dem Schluss: Wer im „Abendmahl“ speist, sollte bereits satt hingehen, viel Zeit und mehr als 30 Silberstücke haben. Denn mögen Küchenkreationen auch ihren Preis rechtfertigen – aber 5,-€ für eine Flasche Wasser und 25,-€ für eine Flasche Prosecco ist schon recht unchristlich.

Dann lieber volkstümlich in Friedrichshagen, direkt neben dem Spreetunnel. Wer einen Spaziergang am (Müggel-)See mit netter Biergartenatmosphäre verbinden möchte, ist dort genau richtig. Mit Blick aufs Wasser lässt sich die Bratwurst oder das Eisbein mit Sauerkraut genießen und mit frisch Gezapftem oder Berliner Weiße runterspülen, bevor man sich zum Kaffeetrinken auf den Weg zur Gaststätte „Rübezahl“ begibt.

Wer auf Speisen und Getränke verzichten kann, sollte am südöstlichsten Zipfel Berlins auf der Pfaueninsel lustwandeln, weil beides dort nicht erhältlich ist. Für 1,-€ fährt man nach langer Autofahrt und kurzem Fußmarsch mit der Fähre einen Steinwurf weit über die Havel, und schon befindet man sich in einer Art Reha-Park mit Ufa-Kulisse und Rentnern, denen der Starnberger See zu weit war. Haben die Bayern dort noch ihr Neuschwanstein, steht man hier auf der Pfaueninsel vor der preußisch-sparsamen Variante eines Schlösschens mit Ruinenflair. Das erste Fertighaus, möchte man meinen und seine baugeschichtliche Bildung darauf verwetten, dass die grau-weißen Brettertürme nie und nimmer über 200 Jahre alt sind. Und wenn - schon nach der ersten stürmischen Nacht hätte sich das Liebesnest Friedrich Wilhelms III. in eine echte der damals angesagten Ruinen verwandeln müssen ... Aber wer weiß, wie er es mit der Leidenschaft und mit der Treue hielt. Die zu seiner Hochzeit gepflanzte Platane steht schließlich auch noch – am Potsdamer Platz, bei der Staatsbibliothek.

Die restlichen Gebäude und Bäume der Insel können den ersten müden Eindruck genauso wenig revidieren wie die trompetenden Pfauen. Egal, ob Schinkel oder Lenné mit am Werke waren. Und dass selbst hier der Zahn der Zeit in Form der Minier-Mottenbrut am Kastanienlaub nagt, ließ mich ganz desillusionieren. In den Prospekten klingt der Ton natürlich anders: „eines der schönsten Ausflugsziele Berlins“, „bezaubernd“, „romantisch“, „idyllisch“, „preußisches Arkadien“ ... Preußisch auf jeden Fall, wenn ich an die „Wege nicht verlassen!“-Schilder denke. Aber auch hier sollte wohl jeder nach seiner Facon empfinden.

Globaler und deshalb hauptstädtischer ging es sonntags am Blücherplatz zum „Karneval der Kulturen“ zu. Der Umzug war eine Mischung aus Fasching, Love Parade und Christopher Street Day. Während andernorts die südliche Welt bei 34 °C Siesta machte, begann die Fiesta hier schon mittags. Wer in der Hitze Caipis schlürfte, war selbst dran schuld. Die Promoter von „Jägermeister“ ließen an Volljährige orange Sonnenhütchen verteilen. Dabei waren es vor allem Kinder, die welche nötig hatten.

Neben dem offiziellen Umzug machte es Spaß, den Umzug der Besucher zu beobachten. Wie sich alles schwitzend an den Imbiss-Buden vorbeischob! Viele Deutsche waren bunter angezogen als die Exoten auf den Umzugswagen: grüne Streifenbluse über rotbraun karierter Dreiviertelhose, den Rucksack wegen der Diebe vor die Brust geschnallt, und natürlich das orange „Jägermeister“-Hütchen obenauf ... Wie bei „Haderers Wochenschau“, nur als Endlos-Animation. „Stern“-Leser wissen, was ich meine.

Nach 4 Stunden war ich geschafft und sehnte mich nach der Reha-Pfaueninsel zurück. Die weitaus bessere Alternative war aber die zur Zeit angesagte „Strandbad-Mitte". Irgendwelche findigen Leute haben hinter dem Hackeschen Markt beim Monbijou-Park feinsten Sand vor das Spreegeländer gekippt, Liege- und Strandkörbe aufgestellt und eine Strandbar für den Umsatz gebaut. Urlaubsfeeling vor der Museumsinsel – optisch ein reizvoller Bruch, und absolut berlintypisch. Selbst als sich abends die Gewitterwolken zusammenschoben, war der Andrang groß. Bis der Sturm losbrach. Und dafür sorgte, dass es am Pfingstmontag keinen „Karneval der Kulturen“ mehr gab: 3 Leute wurden am Blücherplatz von einem umgestürzten Gerüst schwerstverletzt.
Hoffentlich werden sie wieder und können sich bei besserem Wetter erholen. Ich wüsste sogar schon, wo.

Montag, 2. Juni 2003

055 | Angeltour

Letzte Woche Dienstag fuhr ich mit meinem alten Angelfreund Peter zur Mecklenburger Seenplatte. Nach Jahren des Wir-müssten-mal-wieder-angeln-fahren-aber-gerade-passt-es-nicht hatten wir sogar ein Kanu dabei, selbstaufblasbare Iso-Matten und ein Zelt, das sich fast von alleine aufbaut. Wir brauchten uns also nur um die Fische zu kümmern. Bei 10,-€ pro Tag auf legale Weise, wenn man die Preise legal nennen möchte.
An der Einsatzstelle Klenzsee – zwischen Wesen- und Rheinsberg - ließen wir abends gleich das Boot zu Wasser und köderten mit Würmern, Mais und aromatisiertem Teig zwischen halb geöffneten weißen Seerosen. Peters kleine Match-Rute war meiner alten Stippe dabei bei weitem überlegen: Schon als die erste Rotfeder bei mir am Haken zappelte, stukte hinten die Stippe im Wasser. Also griff ich besser auch zur Teleskoprute.
Unter Nichtanglern kursiert immer noch der Irrglaube, Angeln sei deshalb langweilig, weil man stundenlang auf seine Pose stiere. --- Kaum hatten wir die Schnur im Wasser, wurde auch schon angebissen. Plötzen, auch eine Güster, Barsche und eben Rotfedern. Darunter sogar ein paar größere Exemplare, die wir trotzdem allesamt freiließen. Und selbst wenn es mal nicht so gut klappt – langweilig wird es nie. Irgendwann sieht man nach dem Köder, irgendwann verhakt oder verheddert sich was und irgendwann hängt der Erfolg am Haken. Falls nicht, bleibt die Natur als Anti-Stress-Programm. Back to Basics! Wasserläufer auf der glatten Oberfläche, poppende Libellen, ein Buntspecht, Haubentaucher, Blässhühner, kleine Ringelnattern, Bussarde, Graureiher und einmal auch ein Fischadler. Hier kann man sich wieder den Unterschied zwischen Stille und Ruhe bewusst machen, zwischen kennen und wissen.

Am nächsten Tag über einen schmalen Zulauf in den Gabenowsee und über den Drosedower Bach in den Rätzsee. An einigen Stellen ist die Natur so üppig mit Farnen bestückt, dass sie sich als prähistorische Kulisse vorstellt. Ringsum mangrovenartiges Unterholz und über einem der miauende Ruf des Bussards. Indian Spirit in MeckPomm!
Dass wir uns bei dem herrlichen Wetter leichte Sonnenbrände zugezogen hatten, bemerkten Peter und ich erst abends am Lagerfeuer, irgendwo an einer menschenleeren wilden Badestelle. Dass vom Paddeln und stundenlangen Sitzen Rücken und Hintern schmerzten, bemerkten wir schon vorher. Doch zur Naturburschenidylle gehört auch das Einsteckenkönnen. Ein lauwarmes Flaschenbier, ein „Westerntopf“ aus der Dose im Liegen und das Leben kann kaum besser sein. Marlboro-Feeling, nur ohne Zigaretten.
In der Nacht - kurz vor dem Einschlafen - dann der Überfall. Nur keine Indianer, die wären leiser gewesen. Rascheln draußen, Rascheln im Vorzelt. Ratten? Im Taschenlampenkegel ein Waschbär. Rotzfrech riss er eine der Verpflegungstüten um und krallte sich die Brotpackung. Später kam ein zweiter Waschbär dazu. Sie fauchten sich an, tobten im Kanu herum und fraßen, was sie dort finden konnten: Müsliriegel, übriggebliebene Haribos und eine Tüte Haferflocken zum Anfüttern.
Etwas unausgeschlafen am nächsten Morgen. Beim heißen Kaffee aus der großen Stahltasse: „Mensch! Alles Gute zum Vatertag!“
Auf den Seen tummelten sich von Stunde zu Stunde immer mehr Leute im Kanu, Paddel- und Faltboot. Die meisten hatten Bierfässchen an Bord, einer sogar eine schwarze Johny-Walker-Fahne am Heck. Bei der Hitze und dem Durst war es nur gut, dass die meisten Gewässer dort für Motorboote gesperrt sind.

Als Abends wieder Ruhe einkehrte, verlegte sich Peter aufs Blinkern und fing prompt zwei Hechte. Einer war maßig und musste dran glauben. Peters & Petri Heil! Weidgerecht erlegt und ausgenommen. Und ich?
An unserem letzten Angelmorgen fing ich an gleicher Stelle einen etwa gleich großen Hecht. Somit war nicht nur Anglerpatron Petrus gerecht, der Fang krönte auch die ohnehin perfekten 3 Tage. Dass Peter zum Schluss aus meinem Unterfangkescher einen Untergangkescher machte, fiel nicht ins Gewicht, nur ins Wasser. Aber ein schöner Grund, um den anderen aufzuziehen.

Vor der Heimfahrt hielten wir noch um zu baden und um Räucherfisch zu kaufen. Den allerdings nicht in Canow, sondern in Rheinsberg, denn das ist Kult. Rauchwarme Maränen! Besser als jede Marlboro-Werbung!

Sonntag, 18. Mai 2003

054 | Tischgespräch

Freitagabend entspannte ich vor dem „Anita Wronski“ (Knaakstraße 26) bei einem Wernesgrüner. Geradeaus der Blick in die Diedenhofer Straße, links - hinter einer üppigen Grünkulisse – der dicke Wasserturm, rechts die ersten Lichterketten-Kneipen vom Kollwitzplatz. Schön. Es kamen gerade so viele Leute vorbei, dass es nicht langweilig wurde oder nervte. Die Stimmung erinnerte mich ein wenig an Van Goghs „Straßencafé“, nur dass es dort bereits Nacht war.
Hinter mir hatte ein Paar Platz genommen, das keines war, er sich aber darum zu bemühen schien. Ich bekam sie kein einziges Mal zu Gesicht, lauschte nur der Stille und ihrem Gespräch. Er - offenbar ein Arzt um die 40 – erzählte zuerst sachlich von krebskranken Kindern, denen nicht mehr zu helfen war.

Er: ... bei dem hatte man einen Tumor festgestellt, der auf die Sehnerven drückte. Es war...
Sie: Hör´ auf!
Er (flüsternd): Es war erschütternd.

Mir wurde einige Schlucke Bier später klar: Er wollte sich nicht nur interessant machen, er wollte auch ihr Herz über ihr Mitleid erobern. Aber Mitleid für das, was hauptsächlich ER durchgemacht hatte. Aber sie war eine angezickte Spröde um die 20, die sich nichts vormachen ließ. Noch ehe sie die Karte überflogen hatten, stand die Kellnerin bei ihnen.
Sie: Ich nehme ein Desperados.
Kellnerin: Haben wir nicht.
Er: Desperado heißt „verzweifeln“, also nimm es lieber nicht.
Sie: Ich KANN es auch nicht nehmen, weil sie keines haben!
Er: Was ist denn ein Desperado?
Kellnerin: Ähm, Bier mit – Tequila. (dabei das „l“ mitsprechend)
Sie (korrigierend): Mhm, mit Tequila. (dabei das „l“ als „j“ aussprechend)
Er: Ja, dann nimm doch ein Bier, das werden sie doch wohl haben.
Kellnerin: Wir haben ...
Sie: Nein, Bier ist mir zu banal.
Er: Oder Obstbrand!
Sie: Nein.

Die Kellnerin entfernte sich vorerst auf Wunsch, weil die beiden nun doch gründlicher in die Karte sehen wollten.
Sie (maulend): Ich will, dass sie da haben, was ich trinken möchte! (lachte etwas, um nicht als die verwöhnte Göre zu erscheinen, die sie offenbar ist) In jeder Kneipe gibt es heutzutage Desperados!
Minuten später – sie hatte sich vorerst für KiBa entschieden und gab sich gut gelaunt – mokierten sie sich über einige ihnen bekannte Personen und bezeichneten sie als „Schmock“, was im Jiddischen „Idiot“ bedeutet. Weil wohl einer dieser Schmocks stottert, versuchte er sich ihr neben der wissenden auch noch von der humorigen Seite zu nähern:

Er: Wusstest du, dass Moishe beim Auszug aus Ägypten eigentlich nach Kanada wollte?
Sie: Was?
Er: Ja, Moische war ein Stotterer. Er sagte: Folgt mir nach Kann... – nach Kanaa... – nach Kanaan... --- Und alles lief nach Kanaan!
Sie: Hm.

Offenbar waren er oder beide Juden. Denn er wünschte einem Freund, den er über das Handy anrief, noch einen guten Shabbes. Schließlich sprachen sie über einen, der nicht stottert. Und er fand – und bog das Gespräch in eine gewünschte Richtung -, dass dieser Typ zu ihr passen könnte.

Er: Wie alt wird er sein?
Sie: Etwa 30. Aber der ist bestimmt verheiratet oder sonst irgendwie scheiße.
Jetzt bot sich ihm die Gelegenheit in die Offensive zu gehen.
Er: Einige sagen, WIR würden ganz gut zusammenpassen.
Sie: Hör auf!
Er (um Objektivität bemüht, als würde er zwei Einzeller mikroskopisch analysieren): Ich meine SYMBIOTISCH.
Sie (es zur Rettung ins Lächerliche ziehend): Du meinst, meine Beine und dein Bauch?!
Er: Wir verstehen uns doch ausgezeichnet.
Sie: Also ich finde meine Beine hässlich.
Er: Du hast sehr schöne Beine.
Sie: Nun hör´ aber endlich auf.
Er: Nein, im Ernst. Dass Frauen immer was an sich auszusetzen haben ... Selbst Claudia Schiffer. Also nicht, dass ich Claudia Schiffer gut finden würde, aber schlecht sieht sie auch nicht aus; und so wie die in einem Interview gesagt hat, was ihr an ihr selbst nicht gefällt, hätte man glauben müssen, da spricht eine Hexe.
Sie: Ich müsste mit meiner Freundin so eine Symbiose eingehen. Sie findet sich zu groß und zu dürr, und ich bin zu klein. Außerdem ist mein Hintern zu dick.
Er: Du bist nicht zu klein, und dein Hintern ist genau richtig.
Sie (den Fluchtweg betretend): Ich werd´ sie mal anrufen. Vielleicht hat sie ja Zeit und kann mit herkommen.
Er (den Entspannten mimend): Gute Idee!
Sie: Aber erst mal muss ich für kleine Schicks.
Er: Lass uns am besten gleich reingehen. Hier draußen wird es schon ziemlich kühl.

Und weg waren sie.
Ich bestellte noch ein Wernesgrüner, schlug meinen Strickjackenkragen hoch und sah zu den Lichterketten-Kneipen rüber.