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Sonntag, 15. Juni 2003

Das Durchgangszimmer

Die Wohnung, hieß es, gehörte früher reichen Juden, besser gesagt: die Wohnungen. Nach dem Krieg hatte man den gesamten Etagenverbund dreigeteilt. Weil an Unterkünften Mangel herrschte und es keine Juden mehr gab, die dagegen Einspruch erheben konnten.
Alle drei Wohneinheiten, wie man sie jetzt nannte, wurden nach einem nicht immer durchschaubaren Dringlichkeitssystem zugewiesen, nachdem einige vergleichsweise geringe Schäden beseitigt worden waren.
Die größte und komfortabelste Wohnung - auf der linken Seite, mit drei Zimmern, Innentoilette und einem Wintergarten – bezog ein russischer Offizier. Der arbeitete jedoch die meiste Zeit in der „Kommandatur“, einem nahe gelegenen Hotel, wo die neuen Machthaber abends ebenso gut wie die alten zu feiern verstanden.
Das Privileg einer Wohnberechtigung für die zwei Zimmer gegenüber der Offizierswohnung erhielt eine ausgebombte kinderreiche Wäscherin. Denn Wäscherinnen wurden vor allem für Offiziersuniformen gebraucht.
Gleichsam eingeklemmt von diesen beiden Wohnungen, aber mit separatem Zugang, lag die dritte. Im Grunde genommen nur ein einzelner Raum mit einem einzelnen, vorerst notdürftig instandgesetztem Fenster: das ehemalige Bedienstetenzimmer. Obwohl das Wort „Bedienstetenzimmer“ bereits zu herrschaftlich klingt. Es war eine Kammer, in der es weder Herd noch Ofen gab. Eine gewisse Bedeutsamkeit kam diesem Raum höchstens wegen der zwei Durchgangstüren zu, die – nun verschlossen - einmal die Verbindung der beiden anderen Wohnungen darstellte. Und dorthin zog eine etwa vierzigjährige unauffällige Frau, die kaum mehr als ein Eisenbett besaß.
Sie musste sich nicht nur mit der Enge abfinden, sondern auch noch das im Treppenhaus befindliche Außenklo mit der Wäscherin und deren Kindern teilen. Aber man hatte andere Sorgen und Schlimmeres bereits hinter sich.
Woher diese unauffällige Frau kam und wie ihre familiären Verhältnisse einmal ausgesehen hatten, wusste keiner im Haus. Es interessierte auch keinen, wie man sich im Treppenhaus immer wieder flüsternd bestätigte. Man habe ja schließlich mit sich selbst genug zu tun, hieß es. Aber es ging das Gerücht, dass die auffällig unauffällige Frau, die mit ihrem widerlich zur Schau getragenen Leiden hausieren zu gehen schien, Ähnlichkeit mit einem Kindermädchen habe, das vor etlichen Jahren bei den Juden zur Anstellung gekommen war. Natürlich hätte man sie daraufhin ansprechen können, aber unverhohlene Neugier galt als unschicklich und zeigte sich deshalb nur versteckt, wenigstens versteckt vor dieser Frau. Sie sprach von sich aus auch mit niemandem und grüßte, wenn überhaupt, nur so verhalten, dass sie von jedem für unfreundlich erklärt wurde.
So nahm es kein Wunder, dass sich die Gerüchte mehrten.
„Judenliebchen“ sagte man und deutete mit dem Kopf zur 1. Etage, wo früher der Kaufmann und jetzt sie wohnte. Sie habe seiner Familie geholfen unterzutauchen, sagte man, nachdem er abgeholt worden war. „Abgeholt“, so sagte man, und „Judenliebchen“, auch wenn einem „Judenhure“ auf den Lippen lag. Was mit der Familie passiert sei? Wer weiß es und wer will es wissen?
Und als diese Frau, die weder Mann noch Kinder hatte, schwanger wurde, fragte man sich im Treppenhaus natürlich, wer denn dafür in Betracht kommen könne. Die meisten waren sich einig, dass nur der Invalide von vis-á-vis, ein alter Prokurist mit Holzbein, ihr was angehängt haben konnte. Schließlich war diese Frau einmal in der Woche bei ihm putzen. Putzen! Selbst die Rückkehr des Juden wurde von manchem in Erwägung gezogen. Nur die Wäscherin aus der Nachbarwohnung wusste Bescheid. Sie hatte diese Frau eines Nachts, nachdem der Russe lärmend heimgekehrt war, im Nachthemd vor der Außentoilette sitzend vorgefunden, mit versteinertem Gesichtsausdruck und angezogenen Beinen.
Die Wäscherin, die bisher auch keinen großen Kontakt zu ihrer Nachbarin unterhalten hatte, brachte sie in jener Nacht in ihr Zimmer zurück und schob mit ihr das Eisenbett vor die Durchgangstür zur Soldatenwohnung.

II.
Unauffällig wie das Leben dieser rätselhaften Frau verlief auch deren Entbindung. Wäre die Wäscherin nicht als Hebamme zugegen gewesen, hätte sie in ihrer Wohnung davon kaum etwas mitbekommen.
Es war nicht das erste Mal, dass sie so einem kleinen Wurm ins Dasein verhalf. Nur wunderte sie sich, dass dieses Kind, ein Knabe, nicht schreien wollte. Selbst der Klaps auf seinen kleinen Hintern brachte nichts anderes als ein stummes Wimmern zutage.
Nachdem der Knabe bereits laufen gelernt hatte, wurde der russische Offizier in seine Heimat zurückbeordert. Die geräumige, wenn auch verwahrloste Soldatenwohnung durfte daraufhin von der unauffälligen Frau und ihrem Kind bezogen werden, was den Neid der anderen Mieter heftig erregte. Denn obwohl bei ihr, wie jeder einsah, ein weiteres Zimmer und vor allem ein Ofen erforderlich war, schien der Luxus einer Dreizimmerwohnung doch arg übertrieben. Aber der Offizier hatte offenbar an ein paar Fäden gezogen, bevor er für immer in den Weiten Russlands verschwand.
Bald darauf ging auch die Wäscherin mit ihren Kindern fort. Man hatte ihr zwar angeboten, die nun freigewordene Kammer als drittes Zimmer zu nutzen, aber woanders gab es für sie eine Wohnung mit Innentoilette. Und so kam es, dass die unauffällige merkwürdige Frau mit ihrem nicht weniger merkwürdigen Kind vorerst allein auf der ganzen Etage wohnte.
Manchmal entriegelte die Frau die beiden Zugangstüren ihrer alten Behausung und sperrte sie weit auf. Dann nahm sie ihr Kind an die Hand und führte es durch die Räume ohne auch nur ein einziges Wort dabei zu verlieren.
Dem Knaben wurde diese Art von Ausflug alsbald zur lieben Gewohnheit. Obwohl die Zimmer ausgeräumt waren, gab es für ihn noch vieles zu entdecken. Hier ein Bleistiftstummel, da eine zurückgelassene, vertrocknete Topfpflanze oder eine aus dem Wirtschaftsbuch der Wäscherin herausgerissene Seite, welche einseitig beschrieben war. Dann die Schattierungen der Ofenkacheln in dem einen Zimmer und die abgeblätterte Farbe des gusseisernen Waschbeckens in dem anderen.
Der Knabe konnte, wenn er allein war, lange Zeit auf Tätigkeiten verwenden, die kein eigentliches Spielen darstellten. So verfolgte er immer wieder die sich auf einer Linie bewegende Schrift auf der Wirtschaftsbuchseite mit seinem dürren Finger, ohne sie zu begreifen. Er gab sich einfach den Schwüngen und Schnörkeln hin. Die Schrift schienen ständig ihre Richtung ändern zu wollen, als haben sie vor, sich selbst zu entkommen, bevor sie von unsichtbarer Hand weiter in eine Richtung gezwungen wurde.
Mit dem Bleistiftstummel die Rückseite des Blattes zu bekritzeln, fiel dem Knaben nicht ein. Dafür versuchte er immer wieder an einen weißen Knopf zu gelangen, den er hinter der Scheuerleiste entdeckt hatte. Weil das nie klappte, füllte er eines Tages den Spalt mit grauer Erde aus dem Blumentopf aus. Als wollte er den widerspenstigen Knopf zur Strafe lebendig begraben.
Während das Kind so seine mikrokosmische Welt erkundete, stand seine Mutter oft nicht anders als reglos an einem der Fenster und starrte in die Ferne vergangener Tage. Der Knabe lag dann meist von seinen Unternehmungen müde geworden am Boden und überflog den Deckenstuck mit seinem versteinerten Obst und den bleichen Girlanden aus reglosen Blättern, von denen ein paar Spinnwebfäden wie tote Seelen hingen.
Die gesamte Kindheit des Knaben verlief völlig unspektakulär. Er verließ die Wohnung nur, wenn es – wie zum Schulbesuch - unbedingt erforderlich war. Und selbst dann passierte nichts, was erwähnenswert wäre. Freunde hatte er keine. Sonderbarerweise ließen ihn die anderen Kinder stets in Ruhe. Er galt als Außenseiter, dem übel mitzuspielen nicht einmal Spaß machte.
So konnte der Knabe ungestört seinen Tagträumen nachhängen. Am liebsten tat er das in dem Durchgangszimmer, dem Ort seiner Geburt. Hier war sein Fluchtpunkt, das Tor zu einer anderen Welt, die er sich vorstellte und nur zu gerne betreten hätte.
War seine Mutter nachmittags irgendwo eine fremde Wohnung putzen, nahm er sich ein Märchenbuch mit, setzte sich auf die kahlen Dielen und verschwand zwischen den Seiten. Er war wie ein Wartender, den man vor Jahren mit dem Versprechen auf eine baldige Rückkehr hergebracht hatte. Füllte sich die ehemalige Soldatenwohnung allmählich mit notwendigem Hausrat, blieb das Durchgangszimmer unverändert leer. Nur die in grauer Erde vertrocknete Topfpflanze hatte er sich aus der Wäscherinnen-Wohnung herüber geholt, bevor sie von einem der letzten Kriegsheimkehrer vorübergehend bezogen wurde. Vielleicht fühlte er bei dieser toten Pflanze eine Art Verantwortung oder Seelenverwandtschaft. Vielleicht wollte er aber auch nur eine Erinnerung an die schweigsamen Ausflüge mit der Mutter herüberretten.
Als der Heimkehrer wieder ausgezogen war, ging der Knabe nach der Schule allein durch die zwei geräumten Zimmer. Es roch nach kaltem Zigarettendunst und überall gab es die Spuren dieses Eindringlings: gestapelte Zeitungen, leere Konservendosen, einen vollen Ascheeimer vor dem Ofen mit den vertrauten Kacheln.
Der Knabe begann, diese Spuren zu beseitigen, um die ihm bekannte Ursprünglichkeit der leeren Räume wiederherzustellen. Und er wünschte sich mit einer ihm bis dahin kaum vertrauten Leidenschaft, dass nie wieder jemand Fremdes sein Schattenreich, für das er es hielt, betreten werde. Er wünschte sich, dass die Zeit wie im Märchen von Dornröschen anhält, damit alles Vergangene, was er nur noch ahnen durfte, Bestand habe und von ihm geistergleich betrachtet werden könne.
Keine zwei Wochen darauf zog ein altes Ehepaar in seine dunkle Traumwelt. Die beiden Greise hatten, so erzählten sie sofort jedem im Haus, ihr Häuschen am Stadtrand dem Sohn und der Schwiegertochter überschrieben und waren von denen darauf vor die Tür gesetzt worden. Aber das interessierte den Knaben nicht. Statt Mitleid schwelte in ihm Hass gegen die Neumieter, die ihn, den Geist des Schattenreiches, so vertrieben hatten, wie sie selbst vertrieben wurden. Im Treppenhaus ging er ihnen wie allen anderen aus dem Weg. Traf er sie doch einmal, verfluchte er sie. Er betete sogar auf eine intuitive Art und Weise dafür, dass sie ersticken sollten, wenn er mit der vertrockneten Topfpflanze allein im Durchgangszimmer saß und nebenan die alten Leute husteten. Ob nun seine Gebete erhört worden waren oder der nagende Kummer schuld war, fest steht, dass die alte Frau tatsächlich kurz darauf verstarb und ihr Mann in einem Pflegeheim untergebracht werden musste. Warum die Wohnung dann leer blieb, ist schwer zu sagen. Vielleicht wollte sich niemand mit einem Geist anlegen.

III.
Nach Beendigung der Schulzeit verspürte dieser sonderbare Mensch weder den Wunsch, einen Beruf zu erlernen, noch spielte er mit dem Gedanken, sich sein weiteres Leben aufzubauen. Hier sei sein Platz, glaubte er, hier gehöre er hin. Er wusste es nicht besser.
Das Geld der Mutter, die alle bescheidenen Einkäufe selbst erledigte, reichte für beide. Da seine Mutter außerdem fürchtete, er könne sie eines Tages verlassen, drängte sie ihn nie zu etwas, was seine Eigenständigkeit gefördert hätte. So konnte sich der inzwischen äußerlich zum Mann herangereifte Knabe den zweifelhaften Luxus leisten, das Haus lange Zeit nicht verlassen zu müssen. Er durchstreifte immer wieder das Durchgangszimmer und die zwei Räume, wo die Wäscherin einmal gewohnt hatte, lag auf dem Boden, starrte sich an irgendeinem Punkt fest, lauschte seinem regelmäßigen Atem hinterher, genoss den kühlen Staubgeruch und schlief darüber immer noch ein. Wie ein Toter lag er in seiner unbegrenzt begrenzten Welt, die ihn zu bewachen schien.
Vielleicht wurde er deshalb nicht besonders groß. Es war wie bei einem Aquarienfisch, der auf wundersame Weise klein bleibt, wenn ihn sein Lebensraum dazu zwingt. Und je seltener der kleine Mann seinen Lebensraum verließ, um so feindseliger erschiehn ihm die Welt hinter dem Glas.
Aber war er denn glücklich in seinem Schattenreich? Sein Gesicht war eine einzige Leidensmiene, die blasse Haut wirkte wie das fettige Wachs vergilbter Kirchenkerzen, war aber so pergamentartig dünn, dass sich die blauen Blutgefäße darunter wie Krankheitssymptome abzeichneten. Kurzum, er sah einem Geist allmählich auch ähnlicher als einem Menschen. Und vielleicht empfand er es genauso. Er machte niemanden für sein Scheinmartyrium verantwortlich, wozu auch, er litt ja nicht. Außer Angst und Hass kannte er keine Gefühle. Menschen waren ihm egal. Selbst seine Mutter bedeutete ihm nichts. Nur gehörte sie einfach zum gewohnten Mikrokosmos dazu. Er lebte meistens leidenschaftslos, wie in dem Zustand, den Heilige anstreben, wenn sie sich von irdischen Begehrlichkeiten verabschieden. Auf diesem Gebiet war er ihnen sogar überlegen, da er auch keine Erleuchtung begehrte und sich nach keiner göttlichen Liebe verzehrte. Er befand sich so gesehen schlichtweg im Paradies, wo die Gleichgültigkeit wie Unkraut wuchs und dem Baum der Erkenntnis das Licht nahm. Nur die Schutzbedürftigkeit eines gehäuteten Krebses verlieh ihm im übertragenen Sinne etwas Menschliches.
Aber darüber machte er sich niemals Gedanken, denn Selbstreflexionen waren ihm so fremd wie die Welt da draußen, in der er sich dafür hätte spiegeln müssen, statt wie durchs Fenster durch sie hindurchzusehen. In ihm rosteten die Talente wie Ausbruchswerkzeuge, die weder erkannt, noch gebraucht wurden.
Diese Situation sollte sich erst Jahre später ändern:
Seine Mutter war im Treppenhaus gestürzt. Sie hatte sich ein Handgelenk und zwei Rippen gebrochen. Den Hausmeister, der als einziger ein Telefon besaß, zu bitten, einen Krankenwagen zu rufen, lehnte sie jedoch ab. Sie nahm den Bus und ließ sich von ihrem Sohn begleiten. Obwohl sie starke Schmerzen hatte, klagte sie nicht. Sie biss die Zähne zusammen, wie sie es immer getan hatte, und saß – mit den Augen nach außen und dem Blick nach innen – schweigend da. Wie sie es auch immer getan hatte. Ihr Sohn blinzelte fremd in das Licht.
Als sie aus dem Bus steigen wollten, der direkt vor der Klink hielt, fühlten sich die Beine der Mutter schwer und steif an. Sie hatte Angst, erneut zu fallen und drückte ihre Beine durch, als könnte sie den Boden damit auf Distanz halten. Die Beine anzuwinkeln war kaum und nur unter großer Kraftanstrengung möglich. Nachdem sie geröntgt, der Arm eingegipst und der Brustkorb bandagiert worden war, gab ihr der Arzt für den Heimweg eine Krücke mit, obwohl er, was die Beine anging, nichts feststellen konnte. Auch bei der Nachuntersuchung einige Wochen später nicht. Selbst nachdem die Rippen wieder zusammengewachsen waren und sie die Hand wieder einigermaßen bewegen konnte, blieben die Lähmungserscheinungen in den Beinen. Ein Rätsel für die Ärzte. Diese sonderbare Frau aber beklagte sich nicht und wollte auch nicht wirklich wissen, wie so etwas passieren kann. Es war eben so, und damit fertig. Nicht ein einziges Mal sprach sie mit ihrem Sohn darüber. Sie tauschte nur ihre Krücke gegen einen Gehstock ein, den sie sich nach ihrem letzten Arztbesuch unterwegs gekauft hatte. Und damit bekam ihr Zustand etwas Endgültiges.
Ihr Sohn befand sich nun in einer völlig neuen Situation. Er war genötigt, sich um den Haushalt und seine zum Pflegefall gewordene Mutter zu kümmern. Waschen konnte sie sich, anfangs sogar noch mit Gipsarm, allein. Aber er musste ihren Nachttopf entleeren und ungewohnte Arbeiten wie das Waschen der Kleidung in einer alten Zinkwanne bewerkstelligen.
Hatte die Mutter früher noch alles zum Trocknen auf den Hof oder den Dachboden gehängt, so nutzte ihr Sohn einzig das nachbarliche Durchgangszimmer dafür. Er schlug große Nägel in die sich gegenüberliegenden Türrahmen und spannte Wäscheleinen dazwischen. Weil er das Fenster oft verschlossen hielt, roch die Wäsche meistens modrig; ein Geruch, der sich auf ihn und seine Mutter übertrug und bald dazu gehörte wie der Rest ihres sonderbaren Lebens. Aber weder das eine noch das andere wurde von ihr oder ihm befremdlich wahrgenommen.
Anfangs schien es, als sollte der junge Mann durch die Hausarbeiten aus seiner Lethargie herausgerissen und in die Alltagswelt gezwungen werden, die er bloß als Geist durchstreifte. Aber statt aus seiner Lethargie zu erwachen, unterwarf er auch die neuen Tätigkeiten seiner traumwandlerischen Routine. Doch seit dem Treppensturz der Mutter war er auch genötigt, ab und an das Haus zu verlassen, um von der Invalidenrente der Mutter die nötigsten Einkäufe zu machen. Allerdings beherrschte er schnell die Kunst, sich in der Sparkasse und den Geschäften, wo man ihn für stumm hielt, wortlos zu verständigen. Denn zu reden war ihm bereits ein furchtbarer Gedanke. Mit jedem Wort, das ihn verlässt, glaubte er, dringe die äußere Welt wie eine Krankheit in ihn.
Im Nachbarhaus gab es einen kleinen Lebensmittelladen, den er aber aus Furcht, erkannt und angesprochen zu werden, mied. Also ging er weiter Richtung Kaufhaus oder zum Wochenmarkt. Lief er erst einmal auf der Straße, kam es nicht so sehr auf die Länge der Strecke an, sofern er diese anonym zurücklegen konnte. Dabei versuchte er, keinem Menschen in die Augen zu blicken. Und wenn er es doch einmal tat, war er froh, dass die meisten durch ihn hindurchschauten.
Er sah nun langhaarig und bärtig aus wie einer der Hippies und Gammler, an deren Anblick man sich mittlerweile gewöhnt hatte, nur kindlicher und greisenhafter zugleich. Sein Blick war starr und oft wie von Drogen nach innen gelenkt. Dass aus seiner Mutter eine alte Frau geworden war, die immer weniger aß und kaum noch ihr Bett verließ, drang selten dorthin. Er wusste nicht wirklich um die Sterblichkeit der Menschen. Ihn beschäftigte jetzt auch etwas ganz anderes: Nach 15 Jahren hatte wieder jemand sein Schattenreich bezogen. Und diesmal war es eine eine junge Frau.

IV.
Das erste Mal begegnete er ihr im Hausflur. Er wollte um die Mittagszeit, wo die wenigsten Leute unterwegs sind, einkaufen gehen. Und genau da stand sie am Briefkasten, klebte ihr Namensschild auf und grüßte mit einem Lächeln. Der Mann wusste genau, zu welcher Wohnung der Briefkasten gehörte, an dem sich die junge Frau zu schaffen machte. Später las er sich mehrmals ihren Namen durch. Aber jetzt erfasste er ausschließlich ihre schlanke Erscheinung und ihr blondes Haar, von dem so ein betörender Duft ausging, dass der Mann unverzüglich seinen Atem anhielt. Er war verwirrt und fühlte sich schutzlos ausgeliefert. Aber sie lächelte ihn an.
Der Mann sah, ohne den lächelnden Gruß zu erwidern, weg und verließ das Haus. Merkwürdig, dachte die junge Frau.
Als der Mann zurück war, stellte er sein volles Einkaufsnetz im Flur ab, betrat leise das Durchgangszimmer und lauschte an der Tür, hinter der die Gegenwart das Zeitlose bezog. Er konnte spüren, wie die vertrauten Schatten durch die Tür in ihn drangen, auf der Flucht vor dem, was die Frau gerade tat. Aber diesmal ging von ihm keine Feindseligkeit aus, sondern bloße Neugier. Wer war diese Frau? Er hörte, wie sie durch die Räume ging, wie sie Nägel in die Wand schlug, wie Geschirr klapperte und wie hin und wieder etwas herunterfiel. Er hörte, wie am anderen Tag Möbel in sein Schattenreich getragen wurden und er hörte, wie sich die Stimme dieser jungen Frau mit der Stimme eines Mannes unterhielt. Darüber hatte er das Einkaufsnetz im Flur vergessen.
In den nächsten Tagen vergaß er, sich und seiner Mutter einige Mahlzeiten zu bereiten, da er weder Hunger noch Durst verspürte. Wenn die junge Frau Besuch bekam, vergaß er sogar die bloße Anwesenheit seiner Mutter, bis sie sich müde in Erinnerung rief und gequält vergessene Hausarbeiten anmahnte.
In der Waschecke der Küche wuchs ein Wäscheberg, auf dem sich bereits einige Stubenfliegen niederließen. Aber das sah der Mann nicht. Er hatte seine Augen geschlossen, während er ein Ohr an die Tür zum Ort seiner Vertreibung presste und Gesprächsfetzen gierig aufschnappte, in denen es um Professoren, Vorlesungen und um eine Feier ging. Er hörte, wie sie lachten, wie sie kicherte. Dieses junge Lachen faszinierte ihn, aber er wünschte gleichzeitig, es würde aufhören. Denn noch nie hatte jemand in diesem Haus etwas zu lachen gehabt. Als es dann unvermittelt still wurde, wünschte der Mann allerdings wieder, sie würde ewig weiterlachen. Er wusste nicht, was er wollte. Er versuchte, sich an den betörenden Geruch dieser jungen Frau zu erinnern. Aber es gelang nicht. In ihm stieg eine Melancholie auf, wie sie Russen kennen, wenn sie fern der Heimat sind. Und sein Blick fiel auf die vertrocknete Topfpflanze, die seit Jahren in der Ecke des Durchgangszimmers stand.
Der Wunsch, diese Frau zu riechen wurde bald so übermächtig, dass der Mann beschloss, ihre Wohnung zu betreten, die sie fast immer zur gleichen Zeit verließ. Er beobachtete, nachdem sie ihre Wohnungstür abgeschlossen hatte, einige Minuten vom Wintergartenfenster aus die Straße. Draußen war Frühling. Unter dem zarten Grün einer Kastanie erschien die junge Nachbarin und überquerte eilig die Straße. Sie trug eine hellblaue Jeans mit Blumenstickereien und über einer weißen Bluse eine hellbraune Weste. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem einfachen Zopf nach hinten gebunden. Sie bewegte sich trotz ihrer schweren Clogs mit mädchenhafter Anmut. Von der Schulter hing ein Stoffbeutel, der die Leichtigkeit ihres Lebens zu enthalten schien.
Der Mann wandte sich vom Fenster ab und nahm beim Verlassen des Zimmers das Frühstück seiner Mutter mit, die nichts angerührt hatte. Nur eine schwarze Fliege hatte das Butterbrot und die Apfelstücke untersucht und flog auch beim Raustragen nicht auf. Die Mutter lag mit offenem Mund und totem Blick, der irgendwo in die Zimmerdecke gegraben war, auf dem Sofa. Seit einiger Zeit lag sie auch nachts dort. Denn sie glaubte, der Tod würde vor dem Schlafzimmerbett auf sie warten.
Ihr Sohn wartete im Durchgangszimmer, bis er ganz sicher war, dass sich niemand mehr in der Nachbarwohnung aufhielt. Dann drehte er vorsichtig den Messinggriff herum und schob die Tür langsam auf. Er hatte damit gerechnet, dass ihm eine Kiste oder ein Schrank den Weg versperren würde, aber nicht mal ein verräterisches Knarren war zu hören.
Es roch nach frischer Farbe, alles war in den beiden Räumen weiß gestrichen, die Wände und Decken mit den elektrischen Leitungen, die sich wie Adern unter der Tapete abhoben. Dadurch erhielt das spärliche Mobiliar eine Bedeutung, wie sie Ausstellungsgegenständen zukommt. Selbst die Türen und Fensterrahmen glänzten weiß vom Lack.
Aber unter dem intensiven Farbgeruch, der gleichsam die Nase blendete, lag der betörende Duft dieser schlanken Frau. Noch bevor sich der Mann in Ruhe umsah, ergriff er die über einen Stuhl gehängte Strickjacke und presste sie gegen sein Gesicht, um sich dieses Duftes zu vergewissern. Er schloss die Augen und sah ihr blondes Haar, sah wie sie über die Straße ging, sah, wie sie ihre Lippen vor den Briefkästen bewegte. Mit diesem Duft glaubte er weitaus mehr als ihre Schönheit einzuatmen. Die ganze Frau, ihr Wesen, ihre Seele wollte er in sich aufnehmen. Er meinte sogar ihre Gefühle zu riechen und die Ängste, welche sie mit der Kindheit abgelegt zu haben glaubte. Aber sie waren noch da. Und keiner verstand sich darauf so gut wie dieser Mann.
Vorsichtig, als könnte er etwas verletzen, hängte er die Jacke wieder über den Stuhl, der in dem sonst noch recht kahlen Raum vor einem angeklappten Fenster stand. Nur einige Bücherkisten, ein Plattenspieler und eine dem Ofen gegenüberstehende alte Anrichte deuteten auf ein zukünftiges Wohnzimmer. Im Nachbarraum gab es weitere Bücherkisten, außerdem einen kleinen Wäscheschrank. Den meisten Platz beanspruchte eine Bettstelle aus zwei zusammengeschobenen Matratzen, über die sich ein weißes Laken faltig spannte. Weiß bezogen war auch die Bettwäsche: ein Kissen und eine nur zur Seite geschobene Decke. Neben dem gusseisernen Waschbecken stand der einzige Tisch der Wohnung, darunter ein Heizstrahler. Auf dem Tisch trocknete abgewaschenes Geschirr. Über eine kleinen Leine waren zwei Handtücher und ein Lappen gehängt. Und in der Ecke neben dem Waschbecken stand ein Eimer voller Pinsel neben einer großen Emailleschüssel, in der sich die Frau offenbar wusch.
Der Mann hatte alles schnell erfasst und sah nicht nur das Leben dieser Frau, er glaubte es zu wissen.
Er wusste, wie sie sich morgens Wasser für Tee und nicht für Kaffee aufsetzte, wie sie das restliche Wasser zum Waschen nutzte, wie sie am Ende nackt in der Emailleschüssel stand und nach einem Handtuch von der Leine griff.
Der Mann roch an dem großen, feuchten Handtuch. Aber der Geruch enttäuschte. Vielversprechender war ihm ihr Schlaflager. Zuerst schob er auf der Suche nach einem Nachthemd seine Hand unter die Decke. Als er aber nichts dergleichen fand, beugte er sich beinahe zärtlich über ihr Kissen, das mit ihrem Geruch parfümiert war. Er sah aus, als wollte er eine schlafende Unsichtbare küssen, dann schien er sich mit diesem Kissen ersticken zu wollen.
Zu gern hätte er sich unter die Decke gelegt und in völliger Entspanntheit alles auf sich wirken lassen. Aber er war in seinem Sinnestaumels beherrscht genug, um alles, was er vorfand, nicht zu verändern. Einer Verlockung konnte er allerdings nicht widerstehen: Er prägte sich genau die Lage und den Faltenwurf der Decke ein und schob sie in der Mitte leicht zur Seite. Dann hielt er seine Nase auf die Stelle des Lakens, an der er nachts ihren Schoß vermutete.
Seine Nase kostete von dem schwach konzentrierten Duft aus Nachtschweiß, Scheidensekret, Urin und parfümierter Seife. Jetzt hatte er die junge Frau mit all ihren Facetten in sich aufgenommen, wie er glaubte, mit ihrer Einsamkeit, Sehnsucht und Lust, mit all ihren Träumen und Nachtseiten, die er spürte, die er roch. Und auch jetzt wusste er mehr als er sah: wie sie sich ganz auszog, sich hinlegte und zudeckte, wie ihr Atem leise im Schlaf ging und wie sie sich doch unter dem festen Griff ihrer Träume unruhig und leicht schwitzend wand.
Es war wie eine Sucht. In den nächsten Tagen, ja Wochen schlich sich der Mann immer wieder in die Wohnung der jungen Frau, sobald sie das Haus verlassen hatte. Jedes Mal sog er ihren Duft mit einer Intensität in sich, als könnte schon beim nächsten heimlichen Besuch die Durchgangstür für immer verstellt sein. Sämtliche Gerüche nahm er mit der Präzision eines Spürhundes wahr. Bald glaubte er sogar, ihre Befindlichkeit riechen. Er wusste, wann sie entspannt und wann gestresst war, wusste wann sie ein körperliches Unwohlsein verspürte, wann sie sich selbst nicht leiden konnte und wann sie voller Lust steckte. Wenn ihm auch der Zyklus einer Frau nicht vertraut war, so konnte er ihn doch riechen. Er entwickelte mehr Einfühlungsvermögen, als sich Frauen jemals von Männern wünschen würden.

V.
Hatte er sich mit dem intimsten Geruch dieser Frau innerlich befriedigt, untersuchte er neugierig einige Gegenstände, um das Bild, das er sich von ihr gemacht hatte, zu komplettieren. Mal war es ein Schuh, den er sich an die Nase hielt und auf Abnutzungserscheinungen hin untersuchte, mal ein Buch, in dem ein Busfahrschein als Lesezeichen klemmte und worin sich sandkorngroße Kekskrümel und eines ihrer blonden Haare befanden. Nie kam er aber auf die Idee, irgendetwas mitzunehmen, nicht mal ein einzelnes Haar.
Auch wenn er die Wohnung der Nachbarin nicht betreten konnte, drehte sich sein ganzes Denken um diese Frau und ihre betörende Welt, die einmal sein Schattenreich war. Aber begegnen, begegnen wollte der Mann ihr nicht, konnte er nicht. Selbst als sie eines Tages an der Tür klingelte – und er roch, dass sie es war – öffnete er nicht. Warum sie geklingelt hatte, blieb ihm rätselhaft.
Ohne dass er es merkte oder merken wollte, vernachlässigte er seine inzwischen bettlägerig gewordene Mutter von Tag zu Tag. Zwar stellte er ihr nach wie vor einfache Mahlzeiten hin, die sie jedoch immer seltener zu sich nahm, setzte sie auf den Nachttopf und wusch sie in unregelmäßigen Abständen. Aber wenn sie wieder mal auf das Sofa uriniert hatte, ließ er sie in der Nässe liegen. Und dass sie am Rücken wundgelegen war, registrierte der Mann erst, als die Wunden übel zu riechen begannen.
Doch so wie er ständig mit seinen Gedanken woanders war, war seine Mutter es auch. Seit Monaten hatte sie nicht mehr gesprochen und ihre Augen blickten leer aus einer zerfallenden Hülle.
Die Wohnung der jungen Nachbarin heimlich aufzusuchen wurde für den Mann zu einer Sucht. Es berauschte ihn. War ihm der Zugang verwehrt, litt er wie ein Drogenabhängiger unter Entzug.
So auch in der Nacht, als die junge Frau spät und in Begleitung heimgekehrt war. Sie lachte im Treppenhaus. Aber diesmal lachte sie anders, leiser, zärtlicher. Und sie flüsterte.
Bereits seit Stunden saß der Mann vor der Durchgangstür und stierte wie vom zwielichtigen Schein der Straßenlaternen hypnotisiert auf das schwarze Fensterkreuz. Nur wenn unten ein Auto um die Ecke fuhr, sah er an der Zimmerdecke. Dort befand sich das abgeklemmte Rohrstück einer alten Gasleitung und ein Haken für die fehlende Lampenaufhängung. Das Rohrstück sah wie ein Giftstachel aus, der vom Scheinwerferlicht der Autos tiefer in die Decke gedreht wird. Und der Haken erinnerte an die Armprothese eines Piraten, die dem Mann als kalte Handreichung entgegengestreckt wird, immer wenn es nebenan kicherte, wenn dort eine Flasche Wein entkorkt wurde, leise Musik und immer wieder ihre Stimme zu hören war, die er nicht verstand. Die drei Türen umgaben ihn wie versperrte Möglichkeiten.
Als mit der Musik nebenan die Geräusche verstummten, hallte das Gehörte im Inneren des Mannes noch lange nach.
Am Spätvormittag des nächsten Tages verließ die junge Frau in Begleitung das Haus. Kurz darauf betrat der Mann ihre Wohnung. Die Luft roch fremd. Neben der Matratze standen zwei Gläser und eine leere Flasche Wein. Vorsichtig schlug der Mann die Bettdecke zurück und stand einige Sekunden bewegungslos davor, dann verließ er die Wohnung, ohne sich für weiteres zu interessieren.

VI.
In der folgenden Nacht schlief die junge Frau allein. Sie träumte unruhig. Ihr war, als hörte sie Dielen knarren und glaubte im Halbschlaf einen etwas modrigen Geruch wahrzunehmen. Noch im Schlaf fühlte sie sich beobachtet.
Am anderen Morgen war sie unausgeschlafen und versuchte sich vergeblich daran zu erinnern, was sie in der Nacht beunruhigt hatte. Aber dann dachte sie an etwas anderes und lächelte. Sie setzte einen Teekessel mit Wasser auf und ging zum Fenster. Das Laub der Kastanie vor ihrem Fenster war von einer Blattkrankheit verdorrt und fiel herbstlich braun herab. An einigen Stellen konnte die junge Frau bereits durch das Geäst auf das gegenüber liegende Haus sehen. Dort saß eine Krähe und starrte herüber. Die Krähe nickte mehrmals mit dem Kopf, als wolle sie jemanden grüßen oder sich darin bestärken, endlich loszufliegen. Die junge Frau fröstelte ein wenig. Nachdem das Wasser gekocht hatte, machte sie sich eine Tasse Tee zurecht und kippte das restliche Wasser in die Emailleschüssel, um sich zu waschen, bis der Tee durchgezogen war.
Nach dem Waschen und Anziehen packte sie ihre Seminaraufzeichnungen zusammen und sah auf die Uhr. Es war noch Zeit. Der Tee hatte am Tassenrand einen öligen Schmutzfilm hinterlassen. Sie ging mit der Tasse wieder zum Fenster und trank den Tee dort mit kleinen Schlucken, als wenn er noch heiß wäre. Essen konnte sie so früh am Tag noch nichts.
Die Krähe war mittlerweile verschwunden. Dafür stand ein rabenschwarzes Auto vor dem Haus. Als sie sich Minuten später auf den Weg zur Universität machen wollte und ihre Tür abschloss, traten zwei dunkel gekleidete Männer, die einen Sarg trugen, aus der gegenüber liegenden Wohnung. Ihr war es unheimlich, obwohl oder weil die junge Frau nicht wusste, wer dort gewohnt hatte.
„Nach Ihnen!“, sagte einer der dunklen Männer und zwinkerte dem anderen zu, während die junge Frau eilig an ihm vorbeiging.
In den folgenden Tagen hielt sie sich nur noch ungern in ihrer Wohnung auf. Sie war erleichtert, wenn ihr Freund bei ihr übernachtete. Sie besuchten die gleichen Seminare, er hatte ihr beim Umzug geholfen und nun waren die beiden so etwas wie ein Paar, ohne daraus Ansprüche auf die Freiheit des anderen abzuleiten. Ein kompliziertes Thema, worüber sie jedoch einhelliger Meinung waren und sich dafür im Bett belohnten. Das wollten sie sie allerdings nicht zur Gewohnheit werden lassen, weil jede Gewohnheit die Freiheit töte. So sagten sie.
Wenn ihr Freund gegangen war, schien die junge Frau bei aller abgemachten Leichtigkeit über ihre neue, unstete Situation nachzudenken, dass sie davon immer zerstreuter wurde. Mal fand sie ein Buch nicht wieder, das sie irgendwohin gelegt hatte, mal vermisste sie ein Wäschestück, wenn sie zum Waschsalon wollte. Als ob ein Geist sein Unwesen triebe. Und diese Vorkommnisse schienen sich zu häufen. Einmal kam sie um die Mittagszeit nach Hause, weil eine Vorlesung ausgefallen war und sie mit ihren Kommilitonen zum See fahren wollte. Als sie fast verzweifelte, weil sich ihr Badeanzug nicht im Wäscheschrank finden ließ, bemerkte sie die selbst für einen Junitag ungewöhnliche Wärme. Sie rührte vom Heizstrahler, den sie aus Versehen angestellt haben musste.
Als sie abends vom See zurück war, hatte sie das mit dem Elektro-Ofen schon wieder fast vergessen und begann, ihr feuchten Sachen über die Leine zu hängen. Dabei löste sich einer der Haken aus der Wand und die Wäsche lag auf dem Boden. Das war zwar nicht weiter tragisch, aber irgendwie kam eines zum anderen. Zu allem Überfluss entdeckte die junge Frau noch eine Kakerlake in ihrem Waschbecken, die dort gefangen saß. Sie hatte keine Vorstellung, wie sie dort reingekommen sein sollte, denn für den Abfluss war sie zu groß. Nachdem die junge Frau ihren Ekel bezwungen hatte, überbrühte sie das Tier mit heißem Wasser und bedauerte zum ersten Mal aufrichtig, dass sie allein lebte. Aber je öfter sie ihren Freund trotz der Gewohnheits-Freiheits-Diskussionen bei sich übernachten ließ, dem sie von all dem nichts erzählte, um so mehr häuften sich diese unheimlichen Vorfälle: Der Plattenspieler ging kaputt, große Spinnen hielten Einzug in die Wohnung. Und fand sich ein vermisstes Höschen wieder an, zum Beispiel hinter dem Wäscheschrank, war es garantiert von Mottenl zerfressen. Einmal lag sogar eine tote Maus vor ihrer Wohnung, die von einer Katze dorthin gelegt worden sein musste.
Aber der Sommer tröstete die junge Frau, lenkte sie ab. Bis spät in die Nacht konnte sie mit anderen Studenten auf dem Campus sitzen, die Ferienzeit genießen, von fernen Musik-Festivals träumen und dem Bluesgesang eines Gitarrespielers zuhören. Vielleicht wurde sie von ihrer unterschwelligen Furcht überredet, einen Trip einzuwerfen. Haschisch war inzwischen nichts Außergewöhnliches, aber zu LSD gehörte Mut.
Sie wusste nicht, ob sie allein nach Hause gegangen war oder ob man sie gebracht hatte. Sie wusste nicht, wie lange sie im Dunklen vor ihrer Wohnungstür gestanden hatte, sie wusste nicht einmal genau, wo sie stand. Irgendwann wollte sie zu dem Außenklo, obwohl sie gar nicht musste. Sie war wie ferngesteuert. Wäre ihr der Keller eingefallen, hätte sie sich wahrscheinlich auf den Weg nach unten gemacht. Aber so trugen sie die Treppenstufen des unbeleuchteten Treppenhauses als schwarze Wellen einen Schritt hoch und zwei zurück oder umgedreht. Wie Schritte übers Wasser, nur bergauf.
Nachdem sie es bis in die enge Kammer geschafft hatte und auf dem Deckel des Klobeckens saß, ohne sich die Hose runtergezogen zu haben, sah sie sich erneut um. Durch das winzige Fenster drang kaum Licht vom Hof. Die junge Frau bildete sich ein, in einem Sarg zu sitzen. Einem Sarg mit Klo, wie praktisch, dachte sie kichernd. Dann versuchte sie sich zu entsinnen, wann sie gestorben sei, denn dass sie tot sein musste, stand für sie fest. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und hörte das Ächzen einer Frau. Als sie erschrocken aufsah, stand sie wieder unten im Treppenhaus vor der Wohnung. Ihre Augen hatten sich an die Finsternis gewöhnt. Aber immer noch ferngesteuert versuchte sie der Bewegung des Schlüssels zu folgen, der sich am Schloss zu schaffen machte. Da öffnete sich die Tür wie von Geisterhand. Ein kleiner Mann mit Bart erschien und machte Licht im Treppenhaus. Was sucht der in meiner Wohnung, dachte die junge Frau und überlegte, wo sie ihn schon einmal gesehen habe. Als sie erkannte, dass sie die Wohnungen verwechselt hatte, ließ sie sich von ihm wortlos den Schlüssel abnehmen und aufschließen.
Dabei musterte sie ihn, sah ihn aus geweiteten Pupillen an, diesen bärtigen Kind-Mann in seinen altertümlichen Sachen. Sein blasses Gesicht drückte den Überdruss eines vertanen Lebens, aber auch die Bereitschaft zum Neuanfang aus. Er schien auf etwas zu warten. Vielleicht ein erlösendes Lächeln, ein Wort des Dankes, ein Wort überhaupt. Vielleicht war es die absurde Mischung von Tragik und Komik, die dort vor ihr stand, vielleicht war es aber auch nur die Wirkung der Droge, auf jeden Fall begann die junge Frau – statt etwas zu sagen – in ein immer stärker werdendes Gelächter auszubrechen. Wie ein reißender Fluss brach es sich aus ihrem Inneren Bahn und schall durchs ganze Haus. Es stieg ihr als Tränen in die geröteten Augen, dass sie sich festhalten musste, um nicht fortgerissen zu werden.
Dann ebbte ihr Gelächter wieder ab. Sie wischte sich, vom Lachen noch etwas nachbebend, die Augen und sah in das dunkle Treppenhaus, aus dem der kleine Mann wie ein eingebildeter Spuk verschwunden war.

VII.
In den nächsten Tagen und Wochen geschah nichts, was man als merkwürdig bezeichnen könnte. Nichts ging kaputt oder ängstete. Einzig der Hochsommer machte der jungen Frau zu schaffen und die Fliegen, die sich vor den Schwalben in ihre Wohnung geflüchtet hatten.
Tagsüber fuhr sie mit den Freunden, die noch in der Stadt waren, an den See, abends ging sie zu einer dieser WG-Partys. Und manchmal lag sie einfach so mit ihrem Freund auf der Matratze, aß einen Apfel, ließ sich etwas vorlesen oder lauschte dem gleichförmigen Sommerregen, der wie um Einlass ans Fenster klopfte. Dabei waren nur die Fliegen lästig, die sich nicht verjagen ließen, die sich auf dem Kopfkissen landeten, auf dem Buch, selbst auf dem Apfel. Eine hatte sich sogar in ihrem langen, blonden Haar wie in einem Netz verfangen und summte dort wütend herum.
„Fleischfliegen!“, sagte ihr Freund. Und es schienen davon immer mehr zu werden. Vielleicht lag ja irgendwo ein vergessenes Stück Wurst. Denn einen Kühlschrank gab es hier nicht. Der Mann machte sich auf die Suche nach der Ursache dieser Fliegenplage, die aus dem Wohnzimmer zu kommen schien. Denn die „Schlafküche“, wie seine Freundin sagte, hatte er schon abgesucht.
Als er die Wohnzimmertür öffnete, fiel der Lichtschein auf die gegenüber, neben dem Eingang befindliche weiß lackierte Tür, die früher einmal ein Durchgang gewesen sein musste. Die Tür war schwarz übersät von unzähligen Fliegen, von denen sich etliche - vom Lichtschein aufgeschreckt – erhoben und wie ein Schwarm Bienen im Zimmer zu lärmen begannen. Unten, am Türspalt, krochen Maden hervor.
Noch nie hatte der Mann so viele Fliegen auf einmal gesehen. Schnell machte er die Tür wieder zu.
„Tausende von Fliegen!“, sagte er zu der jungen Frau, die sich mit großen Augen im Bett aufgesetzt hatte. „Sie kommen aus diesem Raum da!“
Die beiden beschlossen, die Nacht in der Studentenunterkunft des Mannes zu schlafen, zogen sich schnell an und verließen eilig die Wohnung.
Am anderen Tag kamen sie zurück, um den Hausmeister zu informieren.
Der wollte nicht glauben, dass aus dem kleinen Durchgangszimmer Fliegen kommen sollten.
„Das ist leer!“, sagte er. Höchstens, wenn unter den Dielen mal eine tote Maus liege, aber die gäbe es hier nicht in seinem Haus. Nach dem Krieg habe da die kürzlich verstorbene Frau gelebt, sagte er den jungen Leuten. Aber die sei dann in die andere Wohnung gezogen. Er deutete auf die Nachbartür, während er aus einem mitgenommenen Schuhkarton nach dem richtigen Schlüssel kramte. Jetzt wohne nur noch ihr Sohn da, sagte er. Ein sonderbarer Mensch, fügte er leise hinzu und sah vorsichtig zur Seite.
„Es heißt ...“, flüsterte er weiter, unterbrach sich dann aber, als er den passenden Schlüssel gefunden hatte.
Die Tür wollte erst nicht aufgehen, gab dann aber knarrend nach.
Fliegen! Auch hier war alles voller Fliegen. Sie saßen am staubigen, halb offenen Fenster und auf der alten Tapete. Und sie umflogen laut einen kleinen, in der Mitte des Zimmers hängenden Leichnam, dessen Kopf von wimmelnden Maden unkenntlich gemacht worden war und von dem trotz des halb offenen Fensters ein faulig-süßer Geruch ausging. Auf dem Fußboden lag ein aufgeschlagenes Buch, über das eine Made kroch, die keiner sah, und in der Ecke stand eine verdorrte Topfpflanze, die einige grüne Blätter trieb. Mehr war nicht zu erkennen.

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