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Donnerstag, 17. Januar 2002

zeit

verledert uns
die haut
schlägt uns
alte chancen um die ohren
schicksalsschläge
im sekundentakt und
was wir uns selbst verpassten
bleut sie uns ein
kurzatmig andauernd
bis wir hörig fühlen
was wir nicht sehen können
wollten

Samstag, 12. Januar 2002

006 | ***

Bei meinem ersten Element of Crime – Konzert war ich vor 10 Jahren. Aber eben nur "bei", denn vor der Kulturbrauerei standen mir damals zu viele Leute. Das ist heute Abend in der Arena, der hangar-artigen ehemaligen Busmontagehalle (?) kaum anders, im Gegenteil, aber ich habe eine Karte ...
Es gab Zeiten, da konnte ich mir nicht mal eine CD dieser Gruppe leisten, deren Lieder ich in meinem alten Fiat Uno als ein Getriebener laut mitsang. Denn mich konnte keiner hören. Was einerseits gut war. Heute Abend – ich sehe Element also erstmalig live - bin ich den Umstehenden dankbar dafür, dass sie die Songs nicht mitsingen. Jeder konzentriert sich auf den zumeist – im besten Sinne - sentimentalen Sound, kann nachfühlen, neben mir schunkeln. Neue Lieder der "Romantik"-CD und jede Menge guter alter Stücke sorgen dafür.
Vergänglichkeit. Vergänglichkeit ist das Hauptmotiv in Sven Regeners Texten und spielte für mich auch immer eine bedeutsame Rolle. So in der koketten Teenager-Zeit, mehr noch später, als Vergänglichkeit auch Verlust bedeutete.
Regener ist ein singender Dichter, mit einer von Bier und Zigaretten fett gewordenen Stimme, was mich irgendwie an Jim Morrison erinnert. Obwohl es das einzige ist, was diesen Vergleich rechtfertigt. Denn ein Star ist der Frontmann auf keinen Fall, und dafür lieben ihn seine Fans. Neben dem ironischen Unterton höre ich auch eine gewisse Verlegenheit heraus, wenn er zwischen den schnörkellos vorgetragenen Liedern schelmisch grinsend "Vielen Dank!" sagt. Mehr nicht. Den Rest verraten die Texte.
Die Musiker (mit dem Sänger 3 Gitarristen, 1 Bassist,
1 Schlagzeuger) geben alles, Zugaben ohne Ende. Die Stimmung ist gut. Wenn Regener Trompete spielt, fühle ich in mir eine Dankbarkeit, das alles hier zu erleben. Wie heißt es in einem der neuen Lieder? "Wer zu lange in die Sonne schaut, wird blind." Und wer zu lange wie ich ein Schattendasein führte, dem kann nur warm ums Herz werden. Ich weiß, wie blöd das alles für Außenstehende klingen mag, aber wenn man versucht, Gefühle intelligent auszudrücken, entfernt man sich schon wieder und fühlt nicht mehr, wovon man spricht. Und schmerzt das Gefühl? Wehen damit auch die Erinnerungen wie Canabis-Schwaden zu mir herüber? Nicht ein einziges Mal! Ich hatte der Vergangenheit genug nachgetrauert, ich genieße nur das, woran ich mich später gerne erinnern werde, den oft vergeblich glorifizierten Augenblick. Es hat lange gedauert, aber ich bin ihm gegenüber offener geworden. Und deshalb sperre ich mich nur gegen das Geschunkel neben mir. Denn ein Widerspruch bleibt immer. Und das ist nicht das Schlechteste.

Samstag, 5. Januar 2002

Die Nachmieterin

Wat soll ick zu die Juden sagen?!
Da jab et viele hier im Haus.
Die warn man nett, ick konnt nich klagen,
Und ick kam jut mit alle aus.

Selbst mit die Fiedlern ihre Schwester,
Ooch wenn se imma schachern kam.
Man jab ihr Milch und Essensrester,
Und die tat stolz, wenn sie wat nahm.

Die Fiedlers selber wohnten unten,
Die hatten eene Schusterei.
Und winters warn se dann verschwunden.
Der Laden stand paar Jahre frei.
Man fragte und man hörte nüscht
Nur von der alten Zimmermann
Jab´s hin und wieder een Jerüscht.
Na irgendwat is imma dran.

Es war ja Krieg, man sah nur zu,
Wo man mit seine Blagen blieb.
Und drückte irgendwo der Schuh
Dann half et, wenn man drüber rieb.

Ja, und die Löwes ausm dritten –
Ick höre noch die Kinder schrein –
Ach Jott, wat hab ick mitjelitten.
Die waren doch noch viel zu klein.

Ick gloobe, Pepi hieß der Kleene.
Wat war dit für ne süße Maus!
Er rief mich imma: "Tante Lene!",
Sah ick aus meinem Fenster raus.

Der Vater stammte noch aus Polen,
Den ham se vorher rausjepickt.
Und als se kamen, ihn zu holen,
Da dacht´ ick, er wird heimjeschickt.

Die Löwin sprach ja ooch mit keinen;
Trug nur den jelben Unglücksstern.
Fast wollt ick damals meinen,
Die tat dit selbstmitleidig jern.

Dann war ick ausjebombt vom Britten
Und zog in ihre Wohnung rein
Und dachte mir: wat heißt jelitten -
Die hatten es hier richtig fein!

Die Zimmer hell und riesengroß -
Und alle Spuren wegjefecht.
Dit heißt, in´ Ofen waren bloß
Noch letzte Fotos rinjelecht.

Mit so´nem traurigen Jesichte
Sahn sie mir an, wie wenn se fragen ...
Nu is´ dit ooch schon längst Jeschichte.
Wat soll ick zu die Juden sagen?!

Dienstag, 1. Januar 2002

005 | ***

Es gibt immer Gründe, warum man gerade Weihnachten mit dem Zug das Weite sucht. Dass es am kaputten Auto liegt, ist nur einer. So saß ich am 2. Feiertag morgens allein in einem 2.-Klasse-Abteil, fröstelte ein wenig und blinzelte in die märkische Sonne. Ich redete mir ein, froh zu sein, der Völlerei zu entkommen, dem Fernseher und der Langenweile. Aber so recht klappte es nicht, denn irgendwie bleibt die Reiselust bei der Deutschen Bahn immer auf der Strecke. Zum Beispiel kommen gerade dann die Schaffnerin und überlauten Durchsagen, wenn man unmittelbar in seinen Schlaf zurückgefunden hat. Also las ich mir die Zeit mit Stuckrad-Barres "Remix" tot. Genau das Richtige für eine Fahrt. Und irgendwann kam tatsächlich so etwas wie weihnachtliche "Besinnlichkeit" auf (Stuckrad-Barre hasst dieses Wort, im Grunde zu recht): wechselnde Schneelandschaften draußen, wohlige Wärme drinnen, einlullende Fahrtgeräusche, schummriges Vormittagslicht, ein Bahnhof, einzelne Zusteiger, die mich aber nicht weiter kümmerten. Bis "Familie Flodder" vor meiner Abteiltür stehen blieb! Erst "der Große" (etwa 13, fett, Igelfrisur, grüne Bomberjacke, debiler Gesichtsausdruck), dann "der Kleine" (etwa 8 und nichtssagend) und – hüftgeschädigt hinterherhinkend - Mutter Flodder (auf jeden Fall älter aussehend, rausgewachsene Dauerwelle, und natürlich auch fett).
Der Große (kurzer Blick auf mich, dümmlich näselnd, unsicher die Hand am Türgriff): "Hier?! Hier ist noch was frei ..."
Die Mutter schweigt.
Der Kleine glotzt mich an wie den Weihnachtsmann. Ich gucke grimmig zurück, als seien von mir keine Geschenke zu erwarten und wende mich – wissend, was kommt, und in Gedanken schon die Flucht ergreifend – dem Fenster zu. Vogel-Strauß-Taktik.
Da geschah das Weihnachtswunder! Mutter Flodder hatte die lange kurze Zeit über das Reservierungstäfelchen (Reservierung / Location / Prenotazione / Reservations), das leere (!!!) Reservierungstäfelchen studiert und sagte: "Wir müssen weiter ... Hier steht Re-ser-vie-rung." Und weg war der Spuk! Ich konnte mein Glück nicht fassen. Welch eine Bescherung!
Am nächsten Bahnhof setzte sich einzig eine junge Frau zu mir. Dagegen lässt sich natürlich nichts sagen.