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Sonntag, 18. Mai 2003

054 | Tischgespräch

Freitagabend entspannte ich vor dem „Anita Wronski“ (Knaakstraße 26) bei einem Wernesgrüner. Geradeaus der Blick in die Diedenhofer Straße, links - hinter einer üppigen Grünkulisse – der dicke Wasserturm, rechts die ersten Lichterketten-Kneipen vom Kollwitzplatz. Schön. Es kamen gerade so viele Leute vorbei, dass es nicht langweilig wurde oder nervte. Die Stimmung erinnerte mich ein wenig an Van Goghs „Straßencafé“, nur dass es dort bereits Nacht war.
Hinter mir hatte ein Paar Platz genommen, das keines war, er sich aber darum zu bemühen schien. Ich bekam sie kein einziges Mal zu Gesicht, lauschte nur der Stille und ihrem Gespräch. Er - offenbar ein Arzt um die 40 – erzählte zuerst sachlich von krebskranken Kindern, denen nicht mehr zu helfen war.

Er: ... bei dem hatte man einen Tumor festgestellt, der auf die Sehnerven drückte. Es war...
Sie: Hör´ auf!
Er (flüsternd): Es war erschütternd.

Mir wurde einige Schlucke Bier später klar: Er wollte sich nicht nur interessant machen, er wollte auch ihr Herz über ihr Mitleid erobern. Aber Mitleid für das, was hauptsächlich ER durchgemacht hatte. Aber sie war eine angezickte Spröde um die 20, die sich nichts vormachen ließ. Noch ehe sie die Karte überflogen hatten, stand die Kellnerin bei ihnen.
Sie: Ich nehme ein Desperados.
Kellnerin: Haben wir nicht.
Er: Desperado heißt „verzweifeln“, also nimm es lieber nicht.
Sie: Ich KANN es auch nicht nehmen, weil sie keines haben!
Er: Was ist denn ein Desperado?
Kellnerin: Ähm, Bier mit – Tequila. (dabei das „l“ mitsprechend)
Sie (korrigierend): Mhm, mit Tequila. (dabei das „l“ als „j“ aussprechend)
Er: Ja, dann nimm doch ein Bier, das werden sie doch wohl haben.
Kellnerin: Wir haben ...
Sie: Nein, Bier ist mir zu banal.
Er: Oder Obstbrand!
Sie: Nein.

Die Kellnerin entfernte sich vorerst auf Wunsch, weil die beiden nun doch gründlicher in die Karte sehen wollten.
Sie (maulend): Ich will, dass sie da haben, was ich trinken möchte! (lachte etwas, um nicht als die verwöhnte Göre zu erscheinen, die sie offenbar ist) In jeder Kneipe gibt es heutzutage Desperados!
Minuten später – sie hatte sich vorerst für KiBa entschieden und gab sich gut gelaunt – mokierten sie sich über einige ihnen bekannte Personen und bezeichneten sie als „Schmock“, was im Jiddischen „Idiot“ bedeutet. Weil wohl einer dieser Schmocks stottert, versuchte er sich ihr neben der wissenden auch noch von der humorigen Seite zu nähern:

Er: Wusstest du, dass Moishe beim Auszug aus Ägypten eigentlich nach Kanada wollte?
Sie: Was?
Er: Ja, Moische war ein Stotterer. Er sagte: Folgt mir nach Kann... – nach Kanaa... – nach Kanaan... --- Und alles lief nach Kanaan!
Sie: Hm.

Offenbar waren er oder beide Juden. Denn er wünschte einem Freund, den er über das Handy anrief, noch einen guten Shabbes. Schließlich sprachen sie über einen, der nicht stottert. Und er fand – und bog das Gespräch in eine gewünschte Richtung -, dass dieser Typ zu ihr passen könnte.

Er: Wie alt wird er sein?
Sie: Etwa 30. Aber der ist bestimmt verheiratet oder sonst irgendwie scheiße.
Jetzt bot sich ihm die Gelegenheit in die Offensive zu gehen.
Er: Einige sagen, WIR würden ganz gut zusammenpassen.
Sie: Hör auf!
Er (um Objektivität bemüht, als würde er zwei Einzeller mikroskopisch analysieren): Ich meine SYMBIOTISCH.
Sie (es zur Rettung ins Lächerliche ziehend): Du meinst, meine Beine und dein Bauch?!
Er: Wir verstehen uns doch ausgezeichnet.
Sie: Also ich finde meine Beine hässlich.
Er: Du hast sehr schöne Beine.
Sie: Nun hör´ aber endlich auf.
Er: Nein, im Ernst. Dass Frauen immer was an sich auszusetzen haben ... Selbst Claudia Schiffer. Also nicht, dass ich Claudia Schiffer gut finden würde, aber schlecht sieht sie auch nicht aus; und so wie die in einem Interview gesagt hat, was ihr an ihr selbst nicht gefällt, hätte man glauben müssen, da spricht eine Hexe.
Sie: Ich müsste mit meiner Freundin so eine Symbiose eingehen. Sie findet sich zu groß und zu dürr, und ich bin zu klein. Außerdem ist mein Hintern zu dick.
Er: Du bist nicht zu klein, und dein Hintern ist genau richtig.
Sie (den Fluchtweg betretend): Ich werd´ sie mal anrufen. Vielleicht hat sie ja Zeit und kann mit herkommen.
Er (den Entspannten mimend): Gute Idee!
Sie: Aber erst mal muss ich für kleine Schicks.
Er: Lass uns am besten gleich reingehen. Hier draußen wird es schon ziemlich kühl.

Und weg waren sie.
Ich bestellte noch ein Wernesgrüner, schlug meinen Strickjackenkragen hoch und sah zu den Lichterketten-Kneipen rüber.

Mittwoch, 14. Mai 2003

Irritation

Der Geruch frischer Waldpilze
An einem Frühjahrsmorgen in einer Stadt
Wonach ich mich drehe
An einer Ampelkreuzung
Zwei Menschen / Ein Gegenüber
Ein Warten darauf
In der Richtung des anderen
Zu verschwinden und zu erinnern
Was ausbleiben wird.

Sonntag, 4. Mai 2003

053 | Szenenwechsel

Noch von meinem kurzen Mallorca-Urlaub angetan ging ich am letzten Apriltag ins Berliner „Yosoy“, einer Tapas-Bar in der Rosenthaler Straße 37. Obwohl ich die Rosenthaler ziemlich oft langschlendere, war ich vorher noch nie dort. Wohl weil es meistens sehr voll ist und – von den Zigarren á la Carte – ziemlich verraucht. Nicht so am Mittwochabend. Durch die offene Tür schien noch eine beinahe spanische Sonne und an den Tischen saßen ebenso interessante Leute wie im „L´Oriente“ Capdeperas. Wer die Homepage (www.yosoy.de )öffnet, kann sich neben den aufgelisteten Speisen einige Fotos ansehen und das Flair denken. Alles ist liebe- und stilvoll eingerichtet. Hinter dem dunklen Tresen ein Wandmosaik im maurischen Stil, darüber ein Arte-noven-Leuchter und schwere Deckenventilatoren gegen den Rauch der Puros.
Die „nach Geheimrezept“ eingelegten Oliven sind so gut, wie ich sie auf der Baleareninsel nie bekam, und die frittierten Kartoffelstücke mit Alioli – köstlich! Dazu ein junger Rioja und alles wird gut!
Am nächsten Tag Kontrastprogramm ganz in der Nähe: „Mia“ gaben ein Konzert am Rosa-Luxemburg-Platz. Neopunk in bester „Ideal“-Manier. Der Soundtrack zur Mai-Demo. Früher spielten „Ton Steine Scherben“ zum klassenpolitischen Tanz auf, aber sonst hat sich bekanntermaßen nicht viel geändert: Polizisten durchsuchten die potentiellen Chaoten, es wurden Flyer verteilt und man sammelte sich äußerlich und innerlich vor dem langen Marsch gegen das Establishment und gegen rechts.
Der Inhalt der Flyer ist auch noch der gleiche. Da wird nachvollziehbar gegen Sozialabbau, Ausgrenzung, staatliche Gewalt und die Räumung besetzter Häuser zum Widerstand aufgerufen („rigaer94 bleibt!“), da wird aber auch offen Anarchie proklamiert: „Gegen Sparmaßnahmen hilft die direkte Aneignung. Nehmt euch, was ihr benötigt: im Supermarkt, in der U-Bahn, im Kino, im Restaurant, im Schwimmbad.“ Während ich noch darüber nachdachte, wie das mit dem Schwimmbad gemeint sein könnte, zerknüllte jemand vor mir bereits seinen Zettel.
Es sahen übrigens nicht alle nach Straßenkämpfern aus, viele eher wie Szenetouristen. Irgendwie passend zum Litfaßsäulenplakat von Madonna, die mit Che-Guevara-Revoluzzerblick auf alle herabsah. Da gab es zwar noch die Gymnasiasten mit den Mao-Aufnähern und den „Nazis raus!“-Ansteckern auf ihren Gasmaskentaschen, aber eben auch hippe Girls mit Sony-Handy und Calvin-Klein-Sonnenbrille. Also doch: The Times they are a-changin´.
Stunden vorher ein Picknick mit Freunden im Volkspark Friedrichshain. Wasser & Wein, Kuchen & Quiche. Von überall her kamen junge Leute und ließen sich in kleinen Grüppchen nieder. Mit Bällen, Frisbeescheiben, Trommeln, Minigrills, Bierkästen und auch schon mal einem Zelt. Wegen des angekündigten „vereinzelten Regens“. Der kam, kurz, aber heftig. Also Flucht nach Hause und später eben zu „Mia“.
Nach Festnahmen im Mauerpark und gelöschten Autos in Kreuzberg - jede Menge Flaschenscherben auf den Bürgersteigen am Freitagmorgen. Und Pflastersteine am Straßenrand der Skalitzer, vom Schlesischen zum Hallischen Tor. „Deutschland halt´s Maul!“-Aufkleber von der Antifa an Haltestellen. Das zum Thema Dialog, Präventivmaßnahmen und Steuergelder.
Freitagabend mit Freunden wieder unter ganz anderem Publikum: unter Designern. Das Vitra Design Museum hatte versteckt zur Party geladen, weil vom 3. bis zum 18. der „Designmai Berlin“ stattfindet (www.designmai.de) . In der Kopenhagener Straße 58, Nähe S- und U-Bahnhof Schönhauser Straße, wurde in dem alten Abspannwerk nicht nur die Berliner Architekten- und Designerszene vorgestellt, es gab auch Freidrinks wie in besten Multimediazeiten.
„Designing Berlin“ heißt die Ausstellung und zeigt Möbelentwürfe, Großwandbilder von ausgebauten Fabriketagen und so merkwürdige Dinge wie eine Art Astronautenliege, die sich bei fehlendem Balkon über einen Eisenträger aus dem Fenster schieben lässt. Um unliebsame Gäste loszuwerden, dachte ich. Ähnlich die Kinderrutsche ohne Seitenbegrenzungen. Hier kann sich der Zwerg offenbar aussuchen, ob er nach links oder rechts runterfallen möchte.
Vor den zwei Toiletten im dunklen Backsteinbau dichter Andrang wie auf jeder überladenen Party. Im Hof standen zwar Dixi-Klos, aber wer benutzt schon sowas! Vor den Haustoiletten kommt man wenigstens ins Gespräch, sieht Augen und Schweißtropfen rollen und overdressede Damen auf dem Herren-WC verschwinden. Anarchie gibt es eben nur in tatsächlichen Notzeiten.
Gestern ließ ich die kurzweilige Woche in einer Prenzlauer Berger Kneipe mit subversiv-gemütlicher Wohnzimmeratmosphäre austrudeln. Bei Afri-Cola und Passivrauchen.
Und heute geht’s ab ins Grüne. Blühende Kastanien genießen, bevor die Miniermotte wieder zuschlägt und einem schon jetzt den Herbst vorgaukelt.

Freitag, 2. Mai 2003

Besucherin einer Ausstellung

Sie geht
Mit der Anmut eines Mädchens,
Das sich in den Mai hinausträumt.
Zärtliche Schritte. Voll Liebe
Das Auferstehungsauge
Für den toten Künstler,

Der zeigt, was sie fühlt,
Was sie sah, damals
als Mädchen, damals danach.

Sie geht.
Weiter
Irren Schülerinnen
Durch die Gänge, sieht ein Wachmann
Auf die Uhr. Im Foyer
Schreit ein Baby.