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Sonntag, 4. Mai 2003

053 | Szenenwechsel

Noch von meinem kurzen Mallorca-Urlaub angetan ging ich am letzten Apriltag ins Berliner „Yosoy“, einer Tapas-Bar in der Rosenthaler Straße 37. Obwohl ich die Rosenthaler ziemlich oft langschlendere, war ich vorher noch nie dort. Wohl weil es meistens sehr voll ist und – von den Zigarren á la Carte – ziemlich verraucht. Nicht so am Mittwochabend. Durch die offene Tür schien noch eine beinahe spanische Sonne und an den Tischen saßen ebenso interessante Leute wie im „L´Oriente“ Capdeperas. Wer die Homepage (www.yosoy.de )öffnet, kann sich neben den aufgelisteten Speisen einige Fotos ansehen und das Flair denken. Alles ist liebe- und stilvoll eingerichtet. Hinter dem dunklen Tresen ein Wandmosaik im maurischen Stil, darüber ein Arte-noven-Leuchter und schwere Deckenventilatoren gegen den Rauch der Puros.
Die „nach Geheimrezept“ eingelegten Oliven sind so gut, wie ich sie auf der Baleareninsel nie bekam, und die frittierten Kartoffelstücke mit Alioli – köstlich! Dazu ein junger Rioja und alles wird gut!
Am nächsten Tag Kontrastprogramm ganz in der Nähe: „Mia“ gaben ein Konzert am Rosa-Luxemburg-Platz. Neopunk in bester „Ideal“-Manier. Der Soundtrack zur Mai-Demo. Früher spielten „Ton Steine Scherben“ zum klassenpolitischen Tanz auf, aber sonst hat sich bekanntermaßen nicht viel geändert: Polizisten durchsuchten die potentiellen Chaoten, es wurden Flyer verteilt und man sammelte sich äußerlich und innerlich vor dem langen Marsch gegen das Establishment und gegen rechts.
Der Inhalt der Flyer ist auch noch der gleiche. Da wird nachvollziehbar gegen Sozialabbau, Ausgrenzung, staatliche Gewalt und die Räumung besetzter Häuser zum Widerstand aufgerufen („rigaer94 bleibt!“), da wird aber auch offen Anarchie proklamiert: „Gegen Sparmaßnahmen hilft die direkte Aneignung. Nehmt euch, was ihr benötigt: im Supermarkt, in der U-Bahn, im Kino, im Restaurant, im Schwimmbad.“ Während ich noch darüber nachdachte, wie das mit dem Schwimmbad gemeint sein könnte, zerknüllte jemand vor mir bereits seinen Zettel.
Es sahen übrigens nicht alle nach Straßenkämpfern aus, viele eher wie Szenetouristen. Irgendwie passend zum Litfaßsäulenplakat von Madonna, die mit Che-Guevara-Revoluzzerblick auf alle herabsah. Da gab es zwar noch die Gymnasiasten mit den Mao-Aufnähern und den „Nazis raus!“-Ansteckern auf ihren Gasmaskentaschen, aber eben auch hippe Girls mit Sony-Handy und Calvin-Klein-Sonnenbrille. Also doch: The Times they are a-changin´.
Stunden vorher ein Picknick mit Freunden im Volkspark Friedrichshain. Wasser & Wein, Kuchen & Quiche. Von überall her kamen junge Leute und ließen sich in kleinen Grüppchen nieder. Mit Bällen, Frisbeescheiben, Trommeln, Minigrills, Bierkästen und auch schon mal einem Zelt. Wegen des angekündigten „vereinzelten Regens“. Der kam, kurz, aber heftig. Also Flucht nach Hause und später eben zu „Mia“.
Nach Festnahmen im Mauerpark und gelöschten Autos in Kreuzberg - jede Menge Flaschenscherben auf den Bürgersteigen am Freitagmorgen. Und Pflastersteine am Straßenrand der Skalitzer, vom Schlesischen zum Hallischen Tor. „Deutschland halt´s Maul!“-Aufkleber von der Antifa an Haltestellen. Das zum Thema Dialog, Präventivmaßnahmen und Steuergelder.
Freitagabend mit Freunden wieder unter ganz anderem Publikum: unter Designern. Das Vitra Design Museum hatte versteckt zur Party geladen, weil vom 3. bis zum 18. der „Designmai Berlin“ stattfindet (www.designmai.de) . In der Kopenhagener Straße 58, Nähe S- und U-Bahnhof Schönhauser Straße, wurde in dem alten Abspannwerk nicht nur die Berliner Architekten- und Designerszene vorgestellt, es gab auch Freidrinks wie in besten Multimediazeiten.
„Designing Berlin“ heißt die Ausstellung und zeigt Möbelentwürfe, Großwandbilder von ausgebauten Fabriketagen und so merkwürdige Dinge wie eine Art Astronautenliege, die sich bei fehlendem Balkon über einen Eisenträger aus dem Fenster schieben lässt. Um unliebsame Gäste loszuwerden, dachte ich. Ähnlich die Kinderrutsche ohne Seitenbegrenzungen. Hier kann sich der Zwerg offenbar aussuchen, ob er nach links oder rechts runterfallen möchte.
Vor den zwei Toiletten im dunklen Backsteinbau dichter Andrang wie auf jeder überladenen Party. Im Hof standen zwar Dixi-Klos, aber wer benutzt schon sowas! Vor den Haustoiletten kommt man wenigstens ins Gespräch, sieht Augen und Schweißtropfen rollen und overdressede Damen auf dem Herren-WC verschwinden. Anarchie gibt es eben nur in tatsächlichen Notzeiten.
Gestern ließ ich die kurzweilige Woche in einer Prenzlauer Berger Kneipe mit subversiv-gemütlicher Wohnzimmeratmosphäre austrudeln. Bei Afri-Cola und Passivrauchen.
Und heute geht’s ab ins Grüne. Blühende Kastanien genießen, bevor die Miniermotte wieder zuschlägt und einem schon jetzt den Herbst vorgaukelt.

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