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Montag, 24. März 2003

050 | Italien

Lange nichts mehr geschrieben. Aber es gab auch kaum Erwähnenswertes. Ich versuchte die Winterzeit wie Unkraut totzuschlagen, besuchte alte Bekannte, die ich fast vergessen hatte, stöberte in meiner vergilbten Briefsammlung rum und hielt geisterhaft sonnige Stunden bereits für den Frühling.
In der letzten Woche beschloss ich, den besseren Tagen entgegenzureisen, nach Italien! Für das innere Hochgefühl eine Schillerbiographie im Gepäck, wenn auch der Schwabe selbst nie im Land der blühenden Zitronen war.
Sonnenaufgänge in den Alpen sind vollkommene Anblicke. Das erste göttliche Morgenlicht leuchtete die schneebedeckten schroffen Spitzen und Kämme der Felsriesen aus. Eine optische Sinfonie! Darunter, im Schatten, standen die braunweißen Gehöfte wie demütige Kirchgänger.
Um Bozen war an einigen Bäumen und Sträuchern erstes Gelbgrün erkennbar. Ein zarter Flaum im Gesicht der Südtiroler Landschaft. Nur die zahlreichen Reben verweigerten sich noch der Sonne. Im Gegensatz zu den Menschen: Jogger und Radfahrer an den Straßenrändern. In der Luft sogar ein Ballon. Poesie am Spätvormittag.
Dann schrumpften die Berge wie Eis, schoben sich vorhangartig zur Seite. Irgendwo dahinter wird mich der Frühling empfangen, dachte ich. Und der Gardasee lag bei Torbole wie ein Ziel vor mir.
Torbole ist ein Surferparadies. Wer den scharfen Frühjahrswind einen halben Tag ertragen musste und sich nicht für den ganztägigen Goetheaufenthalt interessiert, fährt weiter. Vielleicht zum wohl schönsten Ort am Gardasee, nach Malcesine. Alles dort ist malerisch. Das Zeitlose: die orangegelben Häuser, die Zypressen und Olivenbäume, der See, die weißen Felsen dahinter. Die reinsten Bildmotive, aber gemalt wäre es nur kitschig. Die Gegenwart: Aus vielen Fenstern hängen Friedensfahnen – „PACE“ auf Regenbogenstreifen, hier wie überall.
Die Vergangenheit: Goethe wurde 1786 irrtümlicherweise als Spion festgenommen, während Schiller in Weimar auf ihn wartete, um ihn überhaupt erst kennen zu lernen.
Die Zukunft: ein Blick in den Himmel und nach vorn.
Über Torri de Benaco fuhr ich nach Sirmione weiter; ein Ort im Süden, der sich auf einer Landzunge frech in den See rausstreckt. Die Höhlen des Catull sah ich nicht. Seine lokalpatriotischen Verse aus dem Reiseführer fand ich auch ziemlich dürftig: „Mein Sirmio, Juwel du aller Halbinseln ...“ usw. Gähn. Dass er unglücklich in eine skrupellose Frau, die er Lesbia nannte, verliebt war, nicht älter als 30 wurde und auch Spottgedichte und Trinklieder schrieb, machte schon eher Lust, sich mit dem Zeitgenossen Cäsars zu befassen. Die skrupellose Dame hieß übrigens Clodia und war nicht lesbisch. Aber so genau hat man das in der Antike ja nicht genommen. Doch genug damit. Zu viel antiquierte Bildung lässt einen nämlich gern vergessen, dass man selbst noch unter den Lebenden weilt.
In Verona stand ich im drittgrößten Amphietheater Italiens, in der Arena. Die Akustik ist beeindruckend, die Optik soll es bei sommernächtlichen Operaufführungen auch sein. Bloß werden dort bei Tage in bester Gladiatorentradition unzählige Schulklassen auf einen losgelassen, die den wehrlosen Touristen – wie schon vom Hof der Julia aus – in die Flucht schlagen, also in eines der Straßencafés.
Am Piazza Bra fragte ich mich vor meinem Latte Machiato, ob all die Teenager, die in Julias Hof die geheimen Namen ihrer Liebsten wie Bittbriefchen mit Kaugummi an die Graffiti-Wände kleben, ob all die vielen auch an ihr Tun glauben. Julias Bronzestatue steht wie eine Liebesgöttin mit goldig abgegriffener Brust davor. Und betrachtet die merkwürdige Vereinigung heidnischer und katholischer Bräuche. Geheiligte Weltlichkeit und weltliche Gebete.
Kontrastreich war auch mein Aufenthalt in Mailand: Gelbe Flecken vor dem Dom, wie Löwenzahnblüten von weitem. Von nahem entpuppten sie sich als bierbäuchige Borussenfans im XXL-Vereinstrikot. Dortmund spielte – und gewann 1:0 – gegen den AC Mailand. Welch ein Bild: tumbe Deutsche mit Bierbüchsen zwischen smarten Mailändern in Gucci-Anzügen.
Vor dem Dom polizeiliche Taschenkontrollen, auch für mich. Im Dom das Staunen über die gigantischen Auswüchse vergangener Baukunst. Die dicken Säulen fallen als erstes ins Auge, Säulen wie Mammutbaumstämme! Dann der Fußboden – Ornamente aus weißem, schwarzem und rotem Marmor. Und immer wieder tappst auch ein wenig Borussengelb darüber.
Touristisch gefällig schien mir Mailand nicht zu sein, denn ich suchte mittags recht aussichtslos nach einer einfachen Pizzeria. Stattdessen fand ich viele bessere Restaurants oder Caffeteria-Bars. Weil mir die wenigen Pizzerias zu gelblastig waren, entschied ich mich in der Via Santa Maria Segreta für das „Livio Pavese“, einem klitzekleinen Café mit klitzekleinen Tischchen. Daran aß ich aber auch das leckerste getoastete Sandwich seit langem – mit Roastbeef con rucola, pomodorini e grana. Molto bene! nickte ich kauend.
Dieses Sandwich machte auch den merkwürdigen Gang zur Toilette wett, bei dem man erst irgendwo im Keller landet und dann garantiert nur über das Nachbarhaus wieder rauskommt. Dass dort wie fast überall in Italien weder Flüssigseife noch Papierhandtücher auf dem Klo vorrätig sind, verstand sich von selbst.
Nun bin ich zurückgekehrt in die Stadt, in der ich unbedingt den mitgebrachten Frühling erleben möchte, auch wenn der Irak-Krieg sein erstes Opfer in der weltweiten Unbeschwertheit fand und warme Frühlingsgedanken jetzt gerade einer winterlicher Gefühlskälte gleichen.
Beides lässt sich vereinbaren: der Blick in die Nachrichten, der Blick in den Himmel und immer auch nach vorn.