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Montag, 4. November 1996

Tequila

oder: Seit wann verwandeln sich Würmer in Schmetterlinge?

I.
„Ich denke, hier ist Kostümzwang ...!“, sagte ich zu Robby. Robby strich sich mit der Hand übers Kinn und musterte mich grinsend von oben bis unten.
„Ja“, sagte er, „hatte ich so angekündigt, aber siehst ja. Hab´ mich vorhin auch schnell wieder umgezogen ...“ Er trug eine seiner tausend Bluejeans. Ich zog meine Winterjacke aus, legte sie in die Treppenecke und stand unschlüssig rum.
Sabine und Claudi standen vor einem Zimmer und lachten zu mir rüber, beide ganz in schwarz. Aber so sind sie schon in der Schule rumgelaufen, selbst beim Abi-Ball vor ein paar Monaten. Nur Henne, der gerade aus der Küche wankte und sich an einem Glas festhielt, hatte sich eine rote Pappnase in die Stirn geschoben. Na immerhin. Es war nicht mal zehn, und ich stand da wie ein Vollidiot. Aus zwei Richtungen war Musik zu hören, B52´s und Cure, glaube ich. Dazu mein unpassendes Hippie-Outfit: sandfarbene Schlaghose und lila gemustertes Hemd mit Haifischflossenkragen. Zum Glück hatte ich die Zigeunerperücke meiner Mutter, die sie jedes Jahr zum Betriebsfasching trug, zu Hause gelassen.
„Wo hast du denn die Hose aufgetrieben?“, fragte mich Robby.
„Hat mir meine geizige Westtante letztes Jahr geschenkt. Keine Ahnung, von welchem Dealer sie so was bezieht“, sagte ich.
Robby zog bedauernd beide Augenbrauen hoch, behielt aber dieses dämliche Grinsen bei. „Und für so was ist die Mauer gefallen ...“, sagte er im Ton resignierter Alt-Kommunisten.

„Für die Altkleidersammlung ist sie zu schade, wurde ja kaum getragen ...“ Mit diesen Worten hatte mir Tante Hedwig die Hose an Omas letztem Geburtstag zugemutet. Ich musste meine geliebte Levis vor ihren Augen ausziehen und das Monster von Schlaghose anprobieren. Leider passte das Teil. Als ich mich enttäuscht bedankte, sagte sie selbstgefällig: „Ist schon gut! Gib mir einen Kuss auf die Wange!“ Sie soll es ja früher wie wild mit den Kerlen getrieben haben; jetzt roch sie nur noch nach 4711 und alter Frau, dachte ich da.

„Nun komm erst mal rein!“, sagte Robby und zog mich an Claudi und Sabine vorbei ins dunkle Wohnzimmer seiner Eltern. „Die sind verreist, haben Nachholebadarf.“, hieß es am Telefon. Robbys Vater war als Archäologe viel in Mittelamerika unterwegs, und da nahm er seine Frau häufig mit.
Aus der guten Stube mit den Atztekenmasken an der Wand dröhnte ein gitarrenlastiger Sound. Nicht immer mein Geschmack, aber Robbys Partys waren trotzdem die besten, in der Regel Spontanfeten wie diese hier. Für den harten Kern unserer alten Klasse und ein paar Leute, die zur Clique gehörten. Robby drehte die Musik etwas leiser. Aber irgendwer machte sie dann doch wieder laut.
Vor einem riesigen Bücherregal lümmelten Steffen und Sid auf einer Matratze und sahen sich die Plattensammlung von Robbys Vater an. Alte Stones-Sachen und so. Zwischen den beiden saß Tina. Sie hielt ein Pils in der Hand. Flaschenbier. Das aus der Dose war verpönt.
„Heyyyyy Pan! Bist ja doch noch gekommen!“, schrie mich Tina an, „Siehst heiß aus!“ Ich mochte es, wenn ich Pan genannt wurde, besonders, wenn Tina es tat. Und Pan klang zehnmal besser als Panowsky. Aber das mit dem „Siehst heiß aus!“ machte mich verlegen.
Tina hatte ein schwarzes Tuch als Band über die Stirn gebunden. Es strich ihr dunkelblondes Haar glatt in den Nacken und rahmte ihr blasses Gesicht.
„Ja, ich musste nur ... wegen meiner Oma ... Ich hatte versprochen ...“ Aber da hörte Tina schon nicht mehr zu, weil Sid ihr irgendein Platten-Cover zeigte. Was hätte ich ihr auch sagen sollen? Dass Oma seit dem Morgen im Krankenhaus lag und ich auf meine Schwester aufpassen musste, bis Mama zurück war? Papa hatte Nachtschicht, und da konnte er nicht fehlen, zumal der halben Belegschaft die Kündigung drohte. Aber so was lässt sich nicht zwischen zwei Liedern rüberbringen. Es gab mal eine Zeit, da konnte ich mit Tina über alles reden. Einmal hatte sie mir nach der Schule einen Mann auf der Straße gezeigt, ihren Stiefvater. Er wohne aber nicht mehr zu Hause, weil er sich an ihr und ihrer Schwester vergangen habe. Ich war total entsetzt, aber Tina stand irgendwie drüber; zumindest wirkte sie so. Sie war die Klassenbeste, schmiss jedoch das Abi kurz vor den Prüfungen. Jetzt hing sie immer öfter mit Sid und irgendwelchen Punks zusammen.
Henne hatte sich inzwischen an das Klavier gesetzt, welches unter einem expressionistischen Sonnenuntergangsbild stand und begann bei einem Cure-Song in die Tasten zu greifen. Spielen konnte er natürlich nicht, aber er war so hacke, dass er alle akustisch vergewaltigen wollte. Steffen warf einen Kronkorken nach ihm, aber Henne spielte unbeeindruckt weiter.
Neben dem Klavier ließ sich Carry von Duffy küssen. Ausgerechnet Carry! Wer hätte das gedacht! Sonst machte sie sich nur über Duffys Sprachfehler lustig. Aber beim Küssen störte der offenbar nicht weiter. Duffy musste immer in Momenten der Langeweile herhalten. Steffen zog ihn ständig damit auf, dass er irgendwelche Susi-Sorglos-Sätze bilden sollte. Dabei wurde Steffen wegen seiner schwammigen Figur selbst gehänselt.
„Ist wohl die halbe Klasse da!“, sagte ich durch all den Lärm laut zu Robby.
„Naja, fast, ein paar sind noch im Nachbarzimmer, und sehen sich Bettys Englandfotos an.“, brüllte er mir ins Ohr. „Sieht mal wieder nach einer Extrafete aus.“
„Wollte Mark nicht auch kommen?“, erkundigte ich mich.
Robby grinste: „Weiß nicht, musste mal Betty fragen ...!“
Ich brauchte eine Weile, bis ich die Doppeldeutigkeit erkannte.
„Hä? Ach so, Mensch! Nee, sag mal, isser da?“, fragte ich.
„Klar“, sagte Robby, „er wollte in der Küche Reis mit Eiern machen oder so, ess ich ja eh nicht ... Hier, halt mal! Verdammte Scheiße!“ Robby drückte mir seine halbleere Flasche Bier in die Hand und sprang zum Klavier, weil sich Henne gerade über Carrys Hose erbrach. Ich verzog mich schnell in die Küche, wo es angenehm ruhig zuging.

„Hallo Pan, alter Hippie!“, begrüßte mich Mark mit regloser Miene. Mark war so was wie ein Freund für mich. Er saß mit Sabine und Claudi am Küchentisch und gestikulierte mit einem Löffel in der Hand.
„Ich erkläre gerade diesen zukünftigen Hausfrauen und Müttern“, sagte er mit seiner typisch trockenen Art, „warum Nietzsche dem Mann zur Peitsche riet, sofern das Weib nicht brav hinterm Herd stehen bleibe ... Wie siehst du überhaupt aus?! – Oh, Mist, mein Reis!“ Bevor ich was erwidern konnte, war Mark zum Herd gehüpft, wo der Reistopf knackte und zischte. Er riss ihn von der Flamme und drehte das Gas aus. Dann kratzte er laut fluchend mit seinem Löffel im Topf rum. Die beiden Mädchen kicherten.
„Musste Wasser raufkippen, Nietzsche!“, sagte Claudi.
„Und dann mit deiner Peitsche umrühren!“, meinte Sabine.
Claudi triumphierte: „Das lernt der schon noch.“ Dann gingen die beiden wieder zu den anderen. Glänzender Abgang. Und unzertrennlich wie immer.
Ich lächelte und begann mich zu entspannen.
„Ist hier eigentlich jeder nur auf´m Sprung?“, fragte ich, „Eben schon Robby. Weil Henne auch was von Nihilismus rauswürgte, raus auf Carrys Hose, brühwarm, aber bitter und hoffnungslos grün.“ Ich schüttelte schadenfroh kichernd den Kopf und trank Robbys Bier in einem Zug aus.
„Ihhhh!“, sagte Mark gekünstelt und sah auf: „Aber so ist der nun bei jeder Fete drauf.“ Er warf den Löffel in das Spülbecken und reichte mir eine angebrochene Flasche Tequila.
„Ein guter, von Robbys Vater, ein „Meskal“, so mit Wurm drin.“, sagte er. „Aber Zitrone is´ nich´! Nicht mal mehr Gläser, höchstens Salz ...“
„Nee. Lass mal!“, sagte ich, griff die Flasche und sah mir erst übermütig, dann skeptisch den weißen Wurm an. Als würde er sich gleich bewegen. Er irritierte mich etwas. Merkwürdig, auf was die Mexikaner so kommen. Ich schraubte die Flasche beinahe vorsichtig auf. Ein ganz normaler Verschluss, nicht so ein dämliches Tex-Mex-Hütchen. Obwohl ich das damals noch ganz witzig fand. Ich nahm einen ordentlichen Hieb, bloß darauf bedacht, den Wurm nicht mitzutrinken. Dann reichte ich Mark die Flasche. Die Verschlusskappe behielt ich zurück und spielte damit, drückte die scharfe Kante in die Innenseite meiner Handfläche und dachte nach. Mark sah sich das Etikett mit dem Kaktus darauf an.
„Was ich dich fragen wollte“, begann ich und wurde ernst, „deine Mutter ist doch Ärztin ...“
„Ja, wieso? Biste krank?“, fragte er.
„Nee, aber ich habe heute so ein Schreiben bekommen, von der Bundeswehr. Die wollen mich mustern. Keine Ahnung, warum die sich bei mir erst ein Jahr später melden.“ Mark betrachtete weiterhin mit reglosem Gesicht das Flaschenetikett, wobei er witzelte: „Und meine Mutter? Soll dir schriftlich geben, dass du behindert bist?“
Ich lächelte müde. „Naja, Untauglichkeit wär´ schon nicht verkehrt.“
„Weiß nicht, ob sie das macht, aber ich werd´ sie fragen.“ Er setzte die Flasche an und trank. Der Wurm schaukelte willenlos hin und her.
„Würdest mir einen echten Gefallen tun.“, sagte ich. Mark winkte ab und musste aufstoßen. Dann sagte er:
„Wolltest du damals nicht sogar 3 Jahre machen?“
„Aber auch nur für den Studienplatz“, rechtfertigte ich mich. „Der ist ja nun nicht. Studiert überhaupt jemand von uns außer Betty und dir?“, wollte ich wissen.
„Ich weiß nur noch von Silvy und Heiko“, sagte Mark. „Der Schleimer hat wieder mal seine Beziehungen spielen lassen.“
Ich nickte und merkte, wie der Tequila sich in mir ausbreitete, heiß und weit wie die Sierra Madre in einem grell-bunten 60er-Jahre-Western. Der angebrannte Reis roch nach Kino-Popcorn. Mit der Passivität eines Zuschauers spürte ich, dass auf einmal alles möglich sei. Ein Gefühl von Freiheit beschlich mich.
„Weißt du“, sagte ich nach einer Weile, „all die Jahre war immer irgendwer da, der dir sagte, was du tun oder lassen sollst ... Ich meine, ich bin jetzt volljährig und will endlich anfangen zu leben, will frei sein, reisen, irgendwas Verrücktes tun ... Da werde ich doch nicht zur Army gehen ...“
Mark grinste: „Und ich dachte, das hier ist nur Verkleidung, aber du bist ja ein Hippie aus Überzeugung!“ Ich grinste zurück. Aus dem Wohnzimmer hörte ich, wie Sid ein Lied mitgröhlte: „Should I stay or should I go“ von Clash. Ich liebte diesen Song und bekam Lust zu tanzen, aggressiv und rücksichtslos. Aber etwas ließ mich nicht los:
„Und dann haben sie uns jahrelang erzählt, die von der Bundeswehr, das wären unsere Feinde, und nun? - Nee!“ Ich wurde ernst. „Dafür waren wir nicht auf der Straße damals.“ Damals. Immer öfter verwendeten wir dieses Wort, als wären wir zurückschauende Greise. Und manchmal fühlte ich mich auch so. Mark sagte: „Aber was willste machen! Der Angearschte bist du so oder so, ob mit oder ohne Mauer! Wenigstens gibt es jetzt Tequila ...“ Es sollte ein Scherz sein, verriet aber, wie Mark dachte. Er nahm noch einen Schluck und reichte mir wieder die Flasche. Nein, Mark gehörte nicht zu den „Angearschten“. Einer wie er würde durch alle Zeiten kommen und wüsste immer, was zu tun sei. Er war ein Einzelkämpfer, der sich gesellig gab, aber er brauchte im Grunde niemanden. Manchmal beneidete ich ihn um seine Selbstsicherheit. Schon wie er da an der Spüle stand, immer triumphierend, auch wenn es Missgeschicke wie das mit dem Reis gab. Aber das tiefe Fühlen, ich glaube, das blieb ihm verwehrt. Ich trank in der Hoffnung, der Kaktusschnaps könne meine Lebensgier ein wenig dämpfen, aber das Gegenteil schien der Fall zu sein: ich wurde pathetisch.
„Weißt du“, sagte ich und sah mit zusammengekniffenen Augen in die fast leere Flasche, „ich fühle mich wie dieser Wurm da. Immer kriechen, und immer fressen, was sie einem reichen. Da wiegst du dich als kleine Kaktusmade zwischen all den Stacheln in Sicherheit, aber am Ende kriegen sie dich und du ersäufst in so einem sterilen Teil da.“ Ich nahm einen weiteren Schluck, sah schwarz gerahmte Schnappschüsse der letzten Monate wie Dominosteine kippen und sagte, als das letzte Bild fiel:
„Weißt du, ich glaube, man darf den Augenblick, sich zu verändern, nicht verpassen. Irgendwie fühle ich, dass es nun für mich Zeit ist.“ Ich sah zu Mark, aber der rührte wieder im Reistopf rum. „Ich weiß nicht, wohin mein Weg mich bringt, aber ich weiß, dass ich mich verändern muss ... Der Wurm hat es nicht geschafft, doch ich werde mich verwandeln, bevor es zu spät ist. In einen Schmetterling oder Nachtfalter, verstehst du? Hauptsache fliegen ... Nicht nur einspinnen in einen Kokon, da gibt es zu viele, die ihr Leben lang verpuppt bleiben ...“ Ich redete und redete, voll trunkener Leidenschaft für die eigene Sache. Es fehlte nicht mehr viel und ich wäre mit flammender Zunge auf die Menschenrechte zu sprechen gekommen.
Mark sah mich aus seinen leicht geröteten Augen spöttisch an.
„Seit wann verwandeln sich Würmer in Schmetterlinge?“, fragte er.
„Na dann eben Raupe“, sagte ich, „du weißt, was ich meine.“ Mark nickte und griff sich eine Handvoll Reis aus dem Topf, stopfte sich das warme Zeug in den Mund und sagte kauend:
„Wenn du da mal nicht auf die Fresse fällst! Wie dieser antike Überflieger – Ikarus! - Warum machst du nicht Zivi, wie die meisten von uns?! - Werd ich auch nach dem Studium.“ Ich hörte ihm nur halb zu, wie jemandem, der einen zu wecken versucht. Dann war ich wieder ganz da und überspielte meine naive Offenheit mit Sarkasmus:
„Nee, das kann ich nicht“, sagte ich, „alte Leute windeln, wenn sie das Klo kaum noch von ihrem Fernsehsessel unterscheiden können ... Lass mal gut sein!“
Ich ärgerte mich, weil Mark das, was mir wirklich wichtig war, pragmatisch-kalt abtat und bildete mir ein, nicht verstanden worden zu sein. Unwirsch trank ich den letzten Schluck Tequila aus, mit Made. Beim Absetzen der Flasche gab es diesen angenehm dumpfen Ton. Als fiele ein Stein in einen Brunnenschacht. Ich kam mir selbst wie ein fallender Stein vor. Mit schwerer Zunge befühlte ich die kleine Made am Gaumen. Dabei kam mir dieser Poltergeist-Film in den Sinn, wo sich der Tequila-Wurm im Bauch des Mannes verwandelt und als Dämon wieder erbrochen wird. Ich sah Henne vor mir und hatte das Bedürfnis, den Wurm zu zerbeißen, ließ es aber und schluckte ihn ganz hinunter. Langsam wurde ich richtig betrunken. Die Küche begann zu atmen und ich beäugte sie ungläubig wie Alice im Wunderland. Meine Ohren verblüfften mich: Sie beherrschten den Trick, alle Geräusche wie nach einem satten Joint zu verstärken. Aber Joints machten damals bei uns noch nicht die Runde. Es war wie in einem akustischen Zauberwald. Ich fühlte mich zwischen Sentimentalität und Aufbruchstimmung hin- und hergerissen. Irgendjemand hatte die neuste Cure-Platte aufgelegt. Ich stellte die Flasche auf den Tisch und vertiefte mich in die magische Wirkung der Musik. Ich merkte, wie mich der Rhythmus aufkratzte und die Melodie gleichzeitig beruhigte. Es war der „Lovesong“, der mich an die Hand nahm und zur Sentimentalität rüberzog. Dieses Lied war wie Licht und beleuchtete ein Mädchen, das plötzlich in der Tür stand: Tina! Sie erschien mir als rettender Engel. So überirdisch, dass ich sie lieben musste. Sie war wunderschön!
„Kommt ihr mit rüber?“, fragte sie, „Robby will Flaschendrehen spielen. Er meint, sonst geht hier langsam die Luft raus.“
„Oh ja!“, sagte Mark, „ein Pfänderspiel wie im Ferienlager. Lassen wir voreinander die Hosen runter!“
„Nun hör dir den Studenten an.“, lächelte mein Engel ironisch und sah dann besorgt zu mir rüber.
„Dann nehmen wir gleich die Flasche, da ist genügend Luft drin.“, sagte Mark. Er grinste wie ein Junge, der im Weitpinkeln gewonnen hat und nickte zur Tequilaflasche rüber.
Ich hatte Mühe, mich auf das Gesagte zu konzentrieren und verstand nicht, was Mark mit der Luft in der Flasche meinte. Als wäre Tina der Videoclip zum „Lovesong“ starrte ich sie fasziniert an. Und wie ein Mantra, eine magische Formel, wiederholten sich in mir Marks Worte: genügend Luft, genügend Luft ... Ich stellte mir vor, Tina von Mund zu Mund zu beatmen. Wiederbelebungsversuche. Aber eigentlich war ich es, der nach Leben schnappte wie ein Fisch an Land. Ich glaube, ich war ziemlich hinüber.
„Pan, was ist? Du guckst so komisch, ist dir nicht gut?!“, fragte Tina besorgt.
„Doch, doch. Alles bestens.“, versicherte ich. Zeitlupenworte. Tina nickte. Mark spülte sich seine klebrige Reishand ab. Im Waschbecken rauschte ein Wasserfall.
„Also los!“, sagte Tina und schnappte sich die leere Flasche. Dann schob sie uns aus der Küche. Ich konnte Tina riechen. Und sie roch nicht nach 4711, sie roch nach Unschuld und ewiger Jugend. Ich verspürte den Wunsch, ihr meine Liebe zu gestehen. Und es kam mir vor, als hätte ich noch nie etwas so intensiv wahrgenommen, wie das, was um mich herum geschah. Der Tequila schien für die gewöhnliche Betrachtung der Dinge eine Auszeit zu gewähren, entfaltete aber noch nicht seine teuflische Wirkung. Er lauerte in mir, mitsamt der kleinen Made.
Im Wohnzimmer hatten sich um die 15 Leute eingefunden. Duffy drehte den „Lovesong“ leiser und Robby erklärte denen, die zuhörten, seine Spielregeln. Ich begrüßte Betty mit einem Lächeln, das der gesamten Schöpfung galt. Sabine und Claudi begannen zu tuscheln. Carry hatte eine neue Hose an, eine Bluejeans von Robby. Henne saß blass und immer noch mit Pappnase auf der Couch. Aber er schien sich wieder gefangen zu haben, er blickte teilnahmslos in die Runde. Fast wie damals, als er neu zu uns in die Klasse kam. Da war er zurückhaltend und vorsichtig wie nach einschneidenden Erfahrungen. Man konnte ihn nicht richtig fassen. Es hieß, sein Vater sei bei der Stasi. Dadurch begegneten wir ihm auch immer mit etwas Misstrauen. Nach der Wende begann er exzessiv zu leben, als hätte er Nachholbedarf. Auch er wollte sich verwandeln, aber anders als ich. Er mutierte regelrecht, wollte sich nicht finden, sondern zerstören. Er begann stark zu rauchen und betrank sich bei jeder Gelegenheit. Offenbar experimentierte Henne auch mit Drogen. Er suchte die Gefahr. Wir Jungs bewunderten ihn mit Schrecken für seine furchtlosen Aktionen. Einmal waren er, Mark, Sid und ich auf einem Hochhausdach. Wir sogen die große Stadt in uns ein und philosophierten über Perspektiven. Die Sonne stand tief über dem Dächerdunst in der Ferne. Plötzlich sah Henne uns wie zum Abschied an und sagte: „Ich hör´ auf!“ Er ging zum Ende des Daches und sprang. Wir konnten es nicht fassen, waren wie gelähmt. --- Okay, er hatte uns reingelegt, war auf den obersten Balkon gehüpft und tauchte grinsend wieder auf. Aber da war mehr als dieser Joke. Es war sein entschlossener Blick, und dieses müde Lächeln.

Robby sagte, wir sollten uns kreisförmig um die Tequila-Flasche setzen, die ihm Tina gegeben hatte. Er drückte sie aufs helle Parkett, bis jeder saß und erklärte, was derjenige machen müsse, auf den die Flasche zeige. Sid legte noch schnell eine neue Platte auf. Aus den Boxen kam Ska-Musik von Madness, während Robby die Flasche drehte. Gleichzeitig meldete sich der Tequila in mir zurück und drehte das Zimmer; als wäre er noch irgendwie mit der Flasche verbunden. Ich hörte, wie der Wurm in mir dämonisch lachte. Er hatte mich im Griff und ließ in meinem Kopf Phantasie und Wirklichkeit miteinander wahre Hexentänze vollführen. Trotzdem ich mich etwas außerhalb der Runde befand, umkreisten mich die, die ich zu kennen glaubte. Ich sah Carrys gelangweiltes Gesicht. Sie hielt es wie eine der starren Atztekenmasken vor sich. Ich bildete mir ein, Claudi und Sabine seien in schwarzen Kokons versponnen, worin sie die Finsternis ausbrüteten. Meine Blicke suchten Halt bei Tinas lichter Gestalt. Gleichzeitig wollte ich loslassen, weil ich mich immer noch schwer wie ein Stein fühlte, regelrecht „stoned“, und genauso schwer atmete. Und ich wollte mich drehen, wie diese Flasche, nur aus eigenem Antrieb heraus. Mein Wille sollte mich in Bewegung halten, kein Stillstand mehr!
Während ich all das mehr fühlte als dachte, rotierte die Flasche immer noch um ihre eigene Achse. Dabei nahm ich ein Vibrieren wahr. Es verstärkte sich allmählich und schien von der Flasche auszugehen. Etwas galoppierte unter den Dielen des Zimmers. Eine Stimme in mir sagte:
„Sie kommt nicht vom Fleck!“
Ich wiederholte diese Worte wie unter Hypnose: „Aber sie kommt nicht vom Fleck!“ Dabei starrte ich auf die sich drehende Flasche. Um mich erhob sich wieherndes Gelächter. Das Zimmer wurde zu einer Wüstenlandschaft mit riesigen Tequila-Kaktus-Etiketten am Horizont. Aus dem Fußboden tauchten Zirkuspferde auf und zogen an mir vorbei. Sie durchquerte die Sierra Madre. Der Himmel verdunkelte sich vom Staub. Mit ihm legte sich Schweiß auf meine Stirn.
„Ich bin wie diese Flasche!“, rief ich den Pferden hinterher, „Habt ihr gehört?“. Meine Stimme wurde von den Staubwolken geschluckt und kam doch als gebrochenes Echo wieder: „Habt ihr gehört? Pan ist eine Flasche! Eine Flasche!“ Die Pferde kehrten zurück, umringten mich und führten wiehernd Kunststücke vor. Ich sah auf. Dann waren da meine Freunde, die mich auslachten. Ich begriff rein gar nichts, nur dass ich ein Gefangener dieses Kreises war. Tina lachte als Einzige nicht. Sie sah mich an. Ihr Gesicht war beständig, während sich rings im drehenden Raum ein Zeitraffer abspulte: Die Bildersonne über dem Klavier ging pausenlos unter und tauchte wieder auf. Die Flasche trudelte aus und wurde erneut in Bewegung versetzt. Und Tina wartete, wartete worauf? Sie starrte auf die Flasche, schaute weg, dann sah sie mich wieder lange und eindringlich an. - War das die Quintessenz des Lebens - Warten und Hoffen? - die Quintessenz der Liebe, fragte ich mich. Irgendwer stand immer in dieser kreisenden Welt auf, vollführte etwas am Rande der Langenweile und setzte sich wieder hin. Auf und unter. Alles innerhalb fiebriger Sekunden. Wir befanden uns wie auf einem riesigen Plattenteller, und der Irrsinn gab den Ton an. Ich dachte an Oma, Tante Hedwig, Papas bevorstehende Entlassung ...Und die Zirkuspferde machte Kunststücke, wieherten sich Applaus zu. War das Robby, der da ein rohes Ei trank, dass es ihn hob? Robby war doch Vegetarier... Und war es Duffy, der eine Ballade runterlispelte, die mir wie eine Wüstennatter zischend durch den Kopf kroch? Der dicke Steffen stopfte nach Zeit den angebrannten Reis in seinen Mund. So bekam jeder bekam Salz in seine offene Wunde gestreut ... Und nur weil Robby Angst um die elterliche Wohnung hatte, brauchte Henne den Whisky nicht zu trinken, den ihm Claudi in eine Blumenvase kippte. Das Gewieher der Zirkuspferde war die reinste Hölle, als begleiteten sie sich gegenseitig zur Schlachtbank. Aber Tinas Gesicht versprach mir ein Paradies. Und es brachte mich wieder ein wenig runter.
Dann sagte jemand: „Derjenige, auf den die Flasche zeigt, soll sich einen Wunsch erfüllen!“
Kaum waren die magischen Worte ausgesprochen, stand der Raum still. Die Zeit pendelte sich ein und der mich wurmende Tequilazauber war von mir gewichen und hatte den ganzen Zirkus zurück in seine Flasche genommen. Aber dort wirbelte er noch am Boden und zog jeden in seinen Bann. Als wäre die Flasche ein Füllhorn und schleudere gleich alles Erdenkliche heraus. Nur was? Was mochten das für Wünsche sein? Was würde ich mir wünschen? Freiheit? Nicht zur Bundeswehr zu müssen? Derartiges kam mir nicht in den Sinn. Ich war ganz Gefühl und mein bisschen Verstand kreiste einzig um Tina. Ich wusste, dass die Flasche bei mir stehen bleiben würde. Und ich wusste auch, dass eben Tina mein Wunsch war, erhaben über alle anderen Wünsche. Doch wie konnte ich in Worte fassen, was ich wollte? Es war natürlich Quatsch zu sagen, dass Tina sich in mich verlieben solle, aber ich hatte hier die Chance, ihr meine Gefühle mitzuteilen, obwohl ich öffentliche Privatauftritte scheue. War ich nach wie vor betrunken und bildete mir bloß ein, nüchtern zu sein? Oder war ich von der Liebe so berauscht, dass davon die Wirkung des Alkohols aufgehoben wurde? Ich wusste, was zu tun war, das reichte mir als Antwort.

Als die Flasche anhielt, zeigte sie auf Henne. Alle schwiegen. Selbst die Musik hatte ausgespielt. Ich konnte aus der Stille heraus Wünsche platzen hören und Henne, wie er sagte:
„Ich will jetzt ...“ Er machte eine kleine Pause, grinste und fuhr dann fort: „Tina zwanzigmal den nackten Arsch küssen!“. Vorbei. Nicht nur die Ruhe. Oh, wie sie johlten und „Auszieh´n, auszieh´n!“ riefen!
„Hosen runter, hab ich doch gesagt!“, schrie Mark. Mein heimlicher Engel, meine Erlöserin, sie zierte sich einen Blick lang, dann öffnete Tina ihre helle Jeans und streifte sie soweit nach unten, dass ihr süßer, kleiner Po zu sehen war. Sie trug einen schwarzen Slip, den sie auch anbehielt. Mir ging die Sache mit ihrem Stiefvater durch den Kopf. Und die Jungs sahen sie so gierig an, wie mich damals meine Tante, als ich vor ihren Augen die Schlaghose anprobieren musste. Schon drückte Henne Tina den ersten Kuss auf die linke Pobacke. Ich sah weg, mehr ertrug ich nicht. Ich dachte daran, wie Henne vorhin noch Carry vollgekotzt hatte. Nun war es, als würde er Tina abstempeln. Ich begann sie alle zu hassen. Natürlich war das kein Grund, um alle zu hassen, und ich bin auch kein Spielverderber oder irgendwie prüde. Aber ich war dieses Irrenhaus leid, in dem ausschließlich gespielt wurde und den Spaß wie immer Einzelne bezahlten. Bewusstseinserweiternde Ernüchterung trat ein, nach all den Jahren. Das hier war mir einmal eine zweite Heimat gewesen, dachte ich. Dankbar war ich für die gemeinsamen Abende, für ein liebes Wort und ein Lächeln ... Aber nun genügte mir das nicht mehr. Ich wollte, dass sie wirklich für einander da sind und zuhören, wenn etwas nicht stimmt. War das jemals der Fall? Bei Tina am ehesten, vielleicht auch bei Mark, aber der suchte sich aus allen Worten immer öfter Versatzstücke für seine Pointen heraus. Und was ich zu sagen hatte, erreichte ihn kaum. Jeder kümmerte sich verstärkt um sich selbst. Lag es an der Welt da draußen? Herrscht das Dschungelgesetz immer da, wo die Kinderpfade enden? Meine Naivität biss in den sauren Apfel der Erkenntnis, während Henne an Tinas Hintern rummachte. Und ich sah, wie das vermeintliche Paradies unserer Clique zu einer Kleingartenparzelle schrumpfte. Die Sierra Madre passte in eine leere Tequilaflasche. Und die zeigte einmal mehr auf Stillstand. Aber an meinen Schultern begannen es zu jucken, als wüchsen mir Flügel.
Du bist ein Träumer, Pan, hatte Betty einmal gesagt. Ja, sie hatte recht. Doch wenn das ein Vorwurf war, dann mussten alle anderen ihre Träume begraben oder versteckt haben; und die Enttäuschung darüber trieb mich immer weiter in meine Träume hinein, wie in einen fruchtbaren Acker. Keiner ließ sich mehr bei halbwegs ernsten Gesprächen wie damals auf dem Hochhausdach in seine Seele schauen. Und solche Gespräche wurden ohnehin selten. Wenn es doch dazu kam, dann blieben sie an der Oberfläche, abgehoben von der Tiefe, in welche Henne vermeintlich gesprungen war. Abgründe wurden totgeschwiegen, selbst von Mark. Sahen wir uns einfach nur zu selten? In einem Gedicht, das wir einmal im Deutschunterricht lernen mussten, hieß es: „Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen ...“ Ja, der Dichter hatte Recht, aber ich war noch nicht soweit, um ihm zuzustimmen. Ich hing zu sehr am Vergangenen. Doch es nahte die Zeit des Abschieds, das wusste ich. War auch ein Neubeginn noch nicht in Sicht. Abschied also. Nur wie konnte ich da heiter sein?
Ich erhob mich langsam ohne zu schwanken und sah in die Runde. „Es ist Zeit für mich“, sagte ich, „Ich werde gehen!“ Dabei hatte ich ganz klar Hennes Gesicht vor Augen, bevor er vom Hochhausdach sprang, und seine schwarze Clownsmaske, die nichts weggrinsen konnte. Ich wusste, es würde kein Weg zurückführen.
„Willst du nicht noch einen Kaffee trinken?“, fragte Tina, die sich wieder ihre Hose zuknöpfte, „Du siehst ziemlich mitgenommen aus ...“
„Nein. Alles bestens.“, sagte ich.
„Mach´s gut, Pan!“, sagten die anderen. Und spielten weiter.
Ohne mich umzudrehen ging ich in den Flur.
„Ich frage meine Mutter.“, rief mir Mark hinterher.
Ja. Ja, dachte ich und zog mir die Jacke an.
Die Musik setzte wieder ein: „Should I stay or should I go“. Leise verließ ich das Haus. Die Kälte der Nacht brachte mich ins Leben zurück. Als ich zur Haltestelle ging, hörte ich eine Mädchenstimme hinter mir: „Warte, ich komme mit!“ Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Aber es war Sabine. Selbst ihr Mantel war schwarz. Sie wollte mich etwas fragen, ließ es aber sein. Schweigend liefen wir nebeneinander.
An der Haltestelle waren wir die Einzigen, und im Nachtbus saß auch nur einer, der bereits schlief. Ich sah Sabine ernst an, und sie sah ernst zurück. Doch es war ihr peinlich. Sie war schutzlos ohne Claudi und das ewige Gekicher. Eigentlich ist Sabine sehr schön, stellte ich fest. Beim Aussteigen gab ich ihr wortlos einen Kuss auf die Wange. Ich weiß auch nicht, weshalb.




II.
„Mann, Pan, hast du mich erschreckt!“, schimpfte Munkel, als ich ihm zur Begrüßung hinterrücks auf die Schulter schlug. Er saß mit seinem schmalen Kreuz zum Eingangsbereich der Kneipe und hatte sich verträumt ein gerahmtes Bild von Rommel angesehen, welches ihm gegenüber an den gelackten Paneelen hing. Militärisch ausgerichtet daneben zwei Gruppenfotos von in die Wüste geschickten Landsern. Munkel mochte alles, was mit Waffen zu tun hatte. Vielleicht, weil er wegen seiner Größe selbst nicht besonders gefährlich wirkte. Er war der absolut unscheinbare Typ, und nach einem Jahr Wehrdienst kannte ich noch nicht mal seinen richtigen Namen. Aber er war verlässlich, hatte auch den Stammtisch seines Vaters für unsere Gruppe reserviert. Wir wollten hier am Ende des Sommerurlaubs den Abschiedsabend feiern, natürlich in Zivil. Es war ein schwülwarmer Tag Ende August.
Munkel wischte sich das Bier vom Kinn, das durch meinen Schulterschlag danebengegangen war. Ich setzte mich grinsend.
„Ist wohl noch keiner weiter da?“, fragte ich und sah zum Tresen rüber, hinter dem der Wirt offenbar ein Fass Bier anschloss. In einer Ecke saß ein alter Zocker vor einem Daddelautomaten und zog tief an seiner Zigarette. Er blies den Rauch gegen blinkende Symbole. Eine stupide Melodie trieb seine Gewinnchancen gerade in die Höhe. Im Nachbarraum klackten Billardkugeln.
„Nee, ist doch erst halb fünf. Um war ausgemacht“, sagte Munkel.
„Weiß ja.“, sagte ich.
Munkel trank sein kleines Glas Bier aus und fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Lippen. Dann nahm er eine seiner selbstgedrehten Zigaretten aus einem silbernen Etui und bot mir eine dieser Filterlosen an.
„Nee“, winkte ich ab, „hab im Urlaub aufgehört.“
Munkel guckte skeptisch und zündete sich mit einem alten Sturmfeuerzeug die Kippe wie im Feld hinter vorgehaltener Hand an. Als er den Rauch gelassen zur Seite blies, fragte er mich:
„Sag mal, wo warst du in den drei Wochen eigentlich? Bist braun wie ein Kanake!“
Ich grinste pflichtschuldig: „Tunesien. Bin erst heute nacht zurück.“
Mit spöttischer Bewunderung zog Munkel seine Mundwinkel nach unten und nickte.
„Last Minute“, fügte ich hinzu, „ist gar nicht so teuer. Und du?“
„Ach“, er winkte ab und führte das leere Glas zum Mund, „musste meinem Alten helfen. Ausschachten im Garten. Er will sich da eine Blockhütte hinsetzen.“ Munkel drehte sich nach dem Wirt um. Aber der war nicht zu sehen. Dann sagte er: „Und, wie sieht´s mit Bräuten da unten aus?“
Ich zog die Augenbrauen hoch: „Die meisten haben einfach nur einen fetten Arsch.“ Ich hasste es, wenn ich so sprach. Munkel gefiel´s.
Meine Gedanken waren bei Jenny. Nur konnte ich mit Munkel nicht darüber sprechen. Zumindest wollte ich es nicht. Zwei Monate vor meinem Urlaub hatte ich Jenny kennen gelernt. 16 Jahre jung, blauschwarz gefärbte Haare und unwahrscheinlich schöne Zähne. Ihr Lächeln wirkte unschuldig und frech zugleich. Liebe auf den ersten Blick. Ich rufe dich sofort an, wenn ich zurück bin, hatte ich ihr gesagt. Aber bei ihr war ständig besetzt. Warum sie nicht einfach mit nach Nordafrika käme, hatte ich sie gefragt. Das habe sie mir doch bereits erklärt, meinte sie. Weil schon seit einem halben Jahr eine Frankreichreise geplant sei, mit einigen ihrer alten Freunde. Sie wäre froh, dass sie ihre Eltern dazu überreden konnte. Na ja, ich konnte es schon verstehen. Ein paar Tage vor mir wollte sie zurück sein.
„Willst du auch eins?“, fragte Munkel.
Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch: „Was?“
„Ein Glas Milch, möchtest du Milch trinken?“ Er sah mich wie einen Idioten an und verdrehte die Augen.
„Ach so, ja, ähm ...“, stammelte ich verlegen und unwirrsch.
Der Wirt stand vor uns. Mit Kaiser-Wilhelm-Bart und Schweiß im Gesicht.
„Großes oder kleines?“, fragte er und zwirbelte an seinem Bart.
„Großes.“
„Jawoll“, meinte er, „was ein richtiger Soldat ist, der fängt gar nicht erst bei kleinen Sachen an, nicht wahr!“ Dabei blickte er auf Munkel herab und verzog spöttisch den Mund. „Noch ein kleines?“, fragte er ihn.
„Auch ´n Großes“, knurrte Munkel.
Der Wirt nahm das leere Glas und wandte sich im Gehen noch mal mir zu: „Du bist doch auch von der Wehrmacht, oder? Wegen dem Treffen.“
„Bundeswehr“, verbesserte ich irritiert.
„Mein´ ich ja. Aber ob nun NVA, Wehrmacht oder Bundeswehr, letztlich bleibt es eine deutsche Armee, oder?!“
„Also ...“, sagte ich und war sprachlos. Munkels Augen leuchteten.
„Hätte ja auch gerne gedient, aber meine Gesundheit ließ mich im Stich“, entschuldigte er sich und verschwand in Richtung Tresen.
„Der ist die Härte“, lachte Munkel, „kann die Armeen nicht unterscheiden, aber kann dir die Dienstgrade aller Waffengattungen herbeten, sagt zumindest mein Alter.“
Ich nickte, war aber mit den Gedanken bei Jenny.
„Sag mal, Munkel, ist hier irgendwo ein Telefon? Ich muss mal dringend telefonieren.“
„Äh, ja, im Flur zum Klo“, sagte er und zeigte mir die Richtung.
Ich stand auf ging an dem Zocker vorbei, der gerade wirklich eine Gewinnsträhne zu haben schien. Der Automat zeigte ein paar „Sonderspiele“ an. Doch der Alte verzog dabei keine Miene. Sicher hat er in seinem Leben schon zu viel verloren, als dass er sich noch augenfällig über Gewinne freuen kann, dachte ich. Das Spiel als solches wird es gewesen, das ihn über den Tag brachte, nicht die große Hoffnung auf einen Gewinn. Er war zweifelsohne ein Gewohnheitsspieler, drückte nur die Automatiktaste und ließ den Daddler alleine machen. Er hatte sich ganz dem Schicksal verschrieben und lebte nur von kleinen Hoffnungen. Aber lebte er wirklich? Ich wollte, woran er nicht mehr glaubte - das ganz Große, Heilige, etwas, das bleibt, wenn der Tag geht. Und in Jenny glaubte ich, es gefunden zu haben.
Der schmale Flur war kühl. Neben einem Zigarettenautomaten hing an der Wand ein altes, graues Münztelefon aus Eisen. Ich steckte nervös Geld rein, stellte mir Jennys Gesicht vor und tippte ihrer Nummer wie im Schlaf ein. Es klickte ein paar Mal, dann ertönte das Besetztzeichen. Mist. Ich hängte den Hörer ein. Mein Geld wurde klimpernd freigegeben. Wie bei einem Daddelautomaten, dachte ich. Aber wenn ein Telefon Geld rausrückt, bedeutet das nicht, dass irgend etwas gewonnen ist. Im Gegenteil. Ich steckte die Münzen in die Hosentasche und ging zurück zum Stammtisch. Im Vorübergehen sah mich der alte Spieler an, als kenne er mich. Er drückte seine Zigarette vor dem blinkenden Automaten in einen gläsernen Aschenbecher, während die „Sonderspiele“ weniger wurden.

Skulle und der Wessi saßen neben Munkel. Mit den dreien hatte ich ein Jahr lang ein Sechsmannzimmer bewohnt.
„Da ist er doch!“, begrüßte mich Skulle. Ich gab ihm und dem Wessi die Hand.
„Munkel meinte, du legst gerade auf dem Klo die Kellnerin flach!“, sagte der Wessi.
„Quatsch, hier gibt’s keine Kellnerin ...“ entgegnete ich und merkte, wie gereizt ich war. „Also nahm ich die Klofrau“, sagte ich schnell, um die Kurve zu kriegen. Die drei lachten. Aber mir war nicht nach den üblichen Frotzeleien zu Mute.
Nur gut, dass der Wirt mit dem Bier kam.
„Hab gleich mehr gezapft“, sagte er. Er verteilte Bierdeckel, auf die er Striche machte, und stellte jedem einen halben Liter hin. Dann ging er wieder.
Skulle erhob sein Glas für diesen saublöden Trinkspruch: „So, Prost, Männer, auf die EK´s vom 1. Zug!“ EK´s waren die „Entlassungskandidaten“ im restbeständigen NVA-Jargon.
„Zug um Zug!“ ließen sich Munkel und der Wessi daraufhin laut vernehmen. Ich sagte nichts, ich trank nur. Dem Wessi gefielen diese albernen Bierkellerrituale. Und das wiederum gefiel den Jungs unserer Gruppe. Dennoch wurde dem Wessi oft vorgehalten, dass er trotz seiner Ellenbogengesellschaft in einer verweichlichten Welt aufgewachsen sei. Rechtfertigungen und kernige Sprüche für ein substanzloses Heldenego. Gebell zahnloser Hunde. Gerade wenn Alkohol im Spiel war, stilisierten sich die Jungs zu Survivalexperten einer vergangenen Tristesse. Sie schwärmten mitunter vom rostigen Staatenkäfig, dessen Gittergrenze wir jedoch nie als solche wahrgenommen hatten, weil wir im Grunde zu jung waren. Aber die Jungs identifizierten sich mit der Rolle des heimgekehrten Soldaten, der innerhalb weniger Jahre genug erlebt, dass es für ein Leben reicht. Sie waren Schwätzer, die nie wirklich die Chance hatten, sich als Helden zu beweisen. Unerträglich deutsch wie der Wirt, der nach einer Weile wieder mit vier halben Litern ankam.
Ich ging noch mal zum Telefon. Irgendwann musste Jenny doch merken, dass der Hörer nicht richtig auflag. War sie weggegangen? Aber wir waren doch verabredet ...
Gegen halb sechs war der Stammtisch belegt. Am Nebentisch saßen auch noch welche von uns. Gut über 10 Personen kamen zusammen . Unsere Haare hatten an Länge ordentlich zugelegt. Nur Munkel war kurzgeschoren wie immer.
Je öfter ich das „Auf die EK´s vom 1. Zug!“ hörte und je lauter das „Zug um Zug!“ gegrölt wurde, um so mehr zog ich mich in die „innere Emigration“ zurück und dachte an Jenny. Die „innere Emigration“ ist bei der Armee die einzige Intimsphäre, die man hat. Keiner bemerkte etwas, denn sie kannten mich nicht anders als Pan, den ruhigen, der ab und an einen kucken lässt. Die Jungs mochten mich. Deshalb akzeptierten sie meine von allen als Zeitverschwendung betrachtete Neigung: ich las. Bücher! Die Nahrung eines Schmetterlings, der sich in meinem Herzen wie auf einer Arche befand, wenn der Alltag flutete. Wollte ich nicht in einem Meer aus Dummheit untergehen, so musste ich den Schmetterling jedoch bald ans sichere Land bringen.
Lange vor dem Tunesienurlaub hatte ich von den Jungs und der Armee Abschied genommen, Abschied vom Gehorsamsein und einer dumpfen Kameradenwelt, die nie meine war. Aber ich hatte mich arrangiert, wie eben einer, der mit anderen im selben Boot sitzt. Angepasst, sicher, aber nur bis zu einem gewissen Grad, einer gewissen Grenze, die von dem Schmetterling in mir wachend überflogen wurde. Ich kann nicht sagen, dass ich litt. Aber der Schmetterling in mir wurde unruhig, je häufiger am Ende Land in Sicht war. Er flatterte wild in mir und beschleunigte meinen Herzschlag.
In dieser Zeit lernte ich Jenny kennen. Sie machte gerade ihren Realschulabschluss und erblickte am Horizont das gleiche Land wie ich. Wir begegneten uns zum ersten Mal auf einer Gartenparty. Natürlich bei Robby. Ich hatte es einfach nicht fertig gebracht, mit meinen alten Freunden zu brechen, vor allem in diesem einen Jahr nicht. Und im Grunde gab es auch keine Veranlassung dafür. Aber ich machte mich rar und hielt zu den meisten eine gewisse Distance, was jedoch nicht weiter auffiel. Selbst wenn ich einen Urlaubstag hatte, zog es mich selten zu Mark. Sahen wir uns, war es gut, wenn nicht, war es auch gut. Und das hatte nichts damit zu tun, dass seine Mutter mir keine Dienstuntauglichkeit bescheinigen konnte. Ich ging einfach meinen Weg, nur eben ohne die Türen hinter mir zu schließen.
Jenny war genauso hungrig auf Leben wie ich. Bei Robbys Gartenparty sprachen wir über Woodstock, Musik und Dichter, Diesseits- und Jenseitserfahrungen. Wir rauchten unseren ersten Joint und flogen auf das Dach eines Schuppens. Tanz unter Sternen und erste Küsse bei Kerzenschein. Wir waren die Kinder der Nacht und lebten unsere Lust aus.

„Pan? Wo bist du denn gerade?!“ Eine Stimme war auf der Suche nach mir.
Verständnislos sah ich der Stimme ins Gesicht: „Ja? Was?“
„Dein Bier wird ja schal!“, sagte die Stimme; es war Arni. Er prostete mir zu. Arni. Nach Arnold Schwarzenegger. Auch wenn Arni nicht wie Arnold aussah, aber er hatte nach Dienstschluss im Kraftraum immer Hanteln gestemmt, während die anderen sich nur Schwarzenegger-Filme ansahen.
„Ja, nee, ich muss erst mal was essen“, sagte ich. Es war kurz vor acht. „Ich geh vor, was bestellen. Bratkartoffeln mit Spiegelei oder so. Will noch jemand was?!“
„Der muss bestimmt wieder telefonieren“, meinte Munkel.
„Schon wieder?!“, fragte der Wessi.
„Ja“, lachte Munkel, „garantiert schon das sechste Mal!“
„He, Pan“, rief Skulle, „wenn du deine Mami angerufen hast, dann schick doch mal den Wirt her mit der Karte! Ich will ein Schnitzel. Und bestell gleich ´ne neue Runde!“
„Mach ich“, sagte ich.
Am Tresen war inzwischen jeder Barhocker besetzt. Ein Deckenventilator verquirlte die dicke Luft mit CCR-Songs und dem üblichen Stimmgewirr. Der Wirt hatte alle Hände voll zu tun. Ich teilte ihm trotzdem mit, dass wir was essen wollten. Und eben Bier trinken. Er nickte gestresst. Aus dem Billardzimmer kam heiseres Lachen.

Natürlich war bei Jenny immer noch besetzt. Ich legte auf und wählte noch mal. Besetzt. Immer nur besetzt. In mir stieg Wut hoch, gesellte sich zur Angst, dass etwas passiert sein könnte. Sie müsste doch schon seit ein paar Tagen zurück sein aus Frankreich. Sollte sie nicht auf ihren kleinen Bruder aufpassen, weil ihre Eltern selbst verreist waren? Ich ging aufs Klo und zog mir anschließend eine Schachtel Luckys aus dem Zigarettenautomaten. Skulle stand am Daddler und drückte mit verzögerter Reaktion die aufleuchtenden Knöpfe. Der Wessi stand daneben und versuchte ihn zu überzeugen, dass man da immer Miese mache. Ich dachte an den alten Zocker, der schon längst verschwunden war.
Am Stammtisch nahm der Wirt seine Bestellung auf.
„Pan, noch ein Frisches?“, fragte Arni und zeigte auf mein abgestandenes Bier. Ich überlegte kurz und entschied:
„Nein, ich ... ich nehme einen Tequila.“
„Tequila?“, fragte Arni ungläubig langsam und kniff die Augen zusammen. „Seit wann trinkst du so was?!“
„Na ja“, sagte ich, „nicht oft, aber jetzt ist mir irgendwie danach.“
Arni nickte und meinte dann grinsend: „Ok, dann probier ich das auch mal.“
„Und einmal Bratkartoffeln mit Ei!“, sagte ich zum Wirt, der nun keine Zeit mehr hatte, sich den Bart zu zwirbeln. Dafür schwitzte er noch mehr als am Nachmittag.
Ich riss das Zigarettenpäckchen auf und zündete mir mit einem herumliegenden Feuerzeug eine Lucky an.
„Ich fass es nicht!“, sagte Munkel, „Pan raucht wieder!“
Ich lächelte müde.
Zehn Minuten später standen zwei Branntweingläser mit Tequila vor uns auf einem kleinen Tablett. Obenauf eine halbe Zitronenscheibe, daneben ein Salzstreuer. Ich ließ ein wenig Salz auf die Daumenseite meiner linken Faust rieseln. Arni tat es mir nach. Die Jungs machten ihre Witze. Dann schleckten Arni und ich das Salz weg, bissen in die Zitrone und kippten den Tequila.
„Pah! Ist ja widerlich!“, meinte Arni und trank mit säuerlichem Gesicht schnell einen Schluck Bier nach. Ich musste lachen.
„Solltest mal Milch probieren, Arni!“, sagte einer. Am Nachbartisch ging ein Glas zu Bruch.
Irgendwie hatten nun alle Appetit auf Schnaps bekommen und orderten zumeist Weinbrand, als das Essen gebracht wurde. Ich blieb als einziger bei Tequila.
Mit Heißhunger verschlang ich nach drei weiteren Gläsern die Bratkartoffeln. Als ich fertiggegessen hatte, stand ich auf. Ich war angetrunken und unruhig.
„Hier, Munkel“, sagte ich und legte ihm einen 50,-Mark-Schein hin, „mach bitte meine Rechnung klar, ich hab noch was zu erledigen ...“
Munkel sah mich verwundert aus geröteten Augen an.
„Willst du schon gehen, Pan?“, fragte Arni.
„Ja, tut mir leid“, sagte ich, „ist was Wichtiges.“
Arni nickte. „Aber sei morgen früh pünktlich! Weißt ja: Um acht Uniformabgabe und so.“
„Ja, alles klar, macht´s gut, Jungs, bis morgen!“
Ich schnappte mir meine Zigaretten und ging nach draußen. Die Stadt erwachte im Dämmerlicht und brachte überall neues Leben hervor. Autos auf der Suche nach einem Parkplatz, ein Irrer auf der Suche nach dem Herrn ...
„Gott, wo hast du dich versteckt?!“, rief er und sah in einen Müllcontainer. Ich blieb stehen, wollte eine rauchen, fragte ihn, ob er Feuer habe. Doch er hielt mich für Satan, hob beschwörend eine Hand und sagte theatralisch: „Weiche zurück in deine Hölle, da hast du Feuer genug!“
„Gibt kein Höllenfeuer mehr, ist alles aus“, erwiderte ich, „ist alles ins Wasser gefallen.“ Verdrossen steckte ich die Luckys ein und lief wankend weiter, wobei ich mir einbildete, über eben dieses Wasser zu gehen.
In Straßencafés saßen Studenten und Künstler bei entspannten Gesprächen. Ich liebte diese verrückte Stadt. Manchmal erschien sie mir jedoch so groß, dass ich Platzangst bekommen konnte. Im Zwielicht sah ich einsame Seelen die Häuserzeilen entlangschlichen. Ich befand mich wie in einem Spiegelkabinett. Und ich sah Liebende, überall Liebende. Selbst im Bus. Ich stand ganz hinten und starrte aus dem Fenster, war zu unruhig, um mich zu setzen.

„Panowsky! Was machst du denn hier?!“
Ich sah in den Gang wie einer, der ohne Brille zu erkennen versucht. Vor mir stand Heiko, der Schleimer aus meiner Abiklasse. Ich hatte ihn schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen und ihn ehrlich gesagt auch nie vermisst.
„Oh ... äh ... hallo Heiko“, sagte ich und versuchte ein freundliches Gesicht hinzukriegen.
„Mensch, Panowsky, dass ich dich hier treffe! Hast du getrunken? Was machst du gerade so?!“, fragte er widerlich gut gelaunt.
„Och ...“, hauchte ich viel- oder nichtssagend.
„Studierst du? Oder bist du Zivi?“, hakte er unerbittlich nach.
„Ähm ... ja ... Zivi ...“, sagte ich umständlich langsam und wich Heikos Blick aus. Aber seine penetranten Fragen verfolgten mich:
„Dachte ich mir. Und? Wie isses? Muss ja auch nach dem Studium ...“
Er machte eine kleine Pause und erwartete offenbar, dass ich nach seinem Studium fragte. Aber den Gefallen tat ich ihm nicht. Dann sagte er:
„Na ja, wie ist es als Zivi ...?“
Ich überlegte. Dann sah ich ihn mit so einem christlichen Blick an: „Es macht mir einfach Freude, anderen zu helfen. Den hilflosen Alten, weißt du ...“
Heiko nickte ernst und voller Verständnis, sah dann aber ohne weiteres Interesse für meine aufopferungsvolle Tätigkeit auf seine Uhr.
Wäre ich nicht so betrunken gewesen, ich hätte große Lust gehabt, diesem Kerl ohne Rückgrat weiter die Taschen vollzuhauen, bis er umsinkt. Aber ich kam mir selbst charakterlos genug vor, da ich als einziger von der alten Garde den Weg zur Armee gegangen war. Heute sehe ich das gelassener, aber damals musste ich vielen als der letzte Spießer erschienen sein. Und die Blöße wollte ich mir vor Heiko nicht auch noch geben. Doch dieser oberflächlichste aller Menschen bohrte nun zu meinem Leidwesen doch noch weiter:
„Und wo arbeitest du da?“, fragte er.
„Im ... äh ... Krankenhaus ...“, sagte ich.
Er lächelte nachsichtig: „Und in welchem?“
Zum Glück fiel mir noch rechtzeitig der Name des Krankenhauses ein, in dem meine Großmutter verstorben war.
„Sankt Marien.“, brachte ich es mit Mühe heraus.
Heiko nickte und gab sich mit dieser Antwort zufrieden. Er sah durch das dunkle Fenster, als der Bus die nächste Haltestelle anfuhr.
„Ja, ich muss hier raus“, sagte er, „vielleicht sehen wir uns bald mal wieder.“
Hoffentlich nicht, dachte ich und sagte: „Ja, wär´ schön!“
Dann stieg er aus.

Als ich ankam, war die Nacht hereingebrochen und bat um Einlass in mein Herz. Sie umschlich es wie eine Schlange, auf der Suche nach einem Opfer. Ich musste mir ein Auge zuhalten, um die Namensschilder am Hauseingang lesen zu können. Hier war ich noch nie gewesen, ich kannte nur die Adresse, Jennys Adresse. Vorsichtig drückte ich die Klingel. Was, wenn sie nicht da ist? Mein Herz raste.
„Ja?!“, fragte mich die Sprechanlage. Es war Jenny! Ich konzentrierte mich darauf, nicht betrunken zu klingen:
„Ich bin´s, Pan“, sagte ich mit der gespielten Routine eines Postboten.
„Pan!“, wiederholte sie und schien zu überlegen. Die Sprechanlage brummte leise. „Komm rauf!“
„Sind deine Eltern da?“, wollte ich noch wissen.
„Nein“, war ihr kurze Antwort.
Jenny betätigte den Summer und ich drückte die Tür auf.
Gut, ich war betrunken, aber nicht betrunken genug, um zu überhören, dass irgendwas nicht stimmte. Ich musste mich festhalten, als ich die Treppen hochstieg, hatte das Gefühl, dass mich etwas wieder runterziehen wollte.
Jennys Empfang war also nicht gerade der, den ich mir wochenlang ausgemalt hatte. Ein hingehauchter Kuss und ausweichende Blicke. Ich ernüchterte in meiner Trunkenheit. Jenny öffnete mir im Flur die Schuhe, was mich beschämte; aber ich war dazu wohl nicht mehr in der Lage.
„Ich hatte dich immerzu angerufen, es war ständig besetzt ...“, sagte ich und hoffte, nicht allzu vorwurfsvoll zu klingen.
„Ich weiß.“, sagte Jenny mit entschuldigendem Unterton.
Was meint sie mit diesem „Ich weiß“, fragte ich mich. Plötzlich stand ihr kleiner Bruder vor mir, elf Jahre alt ungefähr.
„Hey“, sagte ich, um die Situation zu entspannen, „kleiner Bruder von Jenny, ich hab auch eine kleine Schwester. Ihr würdet zusammen ein gutes Paar abgeben ...!“
„Fick dich!“, zischte er und verschwand irgendwo.
„Mach endlich, dass du ins Bett kommst!“, rief ihm Jenny ärgerlich hinterher. Dann wandte sie sich wieder mir zu, fast liebevoll: „Vergiss ihn, er ist total verzogen.“
Wir gingen ins Wohnzimmer ihrer Eltern und schwiegen eine ganze Weile. Nur der Fernseher lief, ohne Ton. Eine Liebeskomödie wurde gezeigt, glaube ich. Was braucht´s da Worte! Ich setzte mich schwer in einen Sessel. Jenny setzte sich auf die Couch. Auf dem Tisch stand eine angebrochene Flasche Rotwein.
„Möchtest du ein Glas?“, fragte sie. Mir fiel Sokrates ein, der mit einem Giftbecher zum Selbstmord gezwungen wurde.
„Ja“, sagte ich.
Schweigend goss sie mir etwas in ihr Glas.
Dann fragte sie mich, ob ich eine Zigarette wolle. Ich wollte. Ich hätte alles genommen, was sie mir hingehalten hätte. Strohhalme oder Giftbecher, es war mir egal. Jenny zündete sich und mir eine Styvesant an.
Ich wusste genau, was los war, nahm die Zigarette und inhalierte so tief ich konnte. Comes together stand auf der Schachtel. Ich schmeckte die Bitterkeit dieser Ironie. Dann trank ich das Glas Wein in einem Zug leer und goss mir noch eines ein.
Mark hatte bei Robbys Gartenparty gesagt, ich solle mir nicht zu viel von Jenny erhoffen. Er habe das Gefühl, sie wolle sich nur Eintritt in neue Kreise verschaffen. Und sie sei noch so verdammt jung. Du spinnst, hatte ich ihm geantwortet. Und auch heute glaube ich nicht, dass er recht hatte. Nur mit einem: Jenny war noch so verdammt jung. Und damit meine ich nicht ihr Alter.

„Ich kann dir gar nicht in die Augen sehen ...“, flüsterte Jenny und sah mich an. Ich trank das zweite Glas Wein halb leer. Wir rauchten unsere Zigaretten zu Ende und schwiegen weiter. Nach einer Weile kam sie rüber und setzte sich auf meinen Schoß. Wahrscheinlich hätte ich mit ihr über alles geredet, wenn ich dazu noch in der Lage gewesen wäre. So blieb ich stumm und kämpfte gegen einen leichten Brechreiz an. Das Fernsehbild sah ich doppelt. Jenny brannte sich eine neue Zigarette an und glitt von meinem Schoß herunter. Sie saß mit dem Rücken zu mir zwischen meinen Beinen und sah fern. Ich streichelte leicht über ihr blauschwarzes Haar. Zu gerne hätte ich daran gerochen. Es war so kühl und seidig. Dann nickte ich ein paar Mal ab.
„Kann ich hier ein paar Stunden schlafen?“, fragte ich schließlich.
„Ja, natürlich“, sagte Jenny, „Macht es dir was aus, im Bett meiner Eltern zu schlafen?“
Es machte mir nichts aus. Ich wollte mich nur hinlegen, der Teppich wäre mir genauso recht gewesen.
Ich zündete mir noch eine Zigarette an und legte mich im Schlafzimmer ihrer Eltern auf ein altmodisch abgedecktes Ehebett. Jenny brachte mir eine Couchdecke und einen Aschenbecher. Dann nahm sie den Wecker:
„Wann musst du aufstehen?“
„Um ... äh ... acht, nein, um sechs!“, gab ich zur Antwort.
Jenny stellte den Wecker auf den Nachttisch und wartete so lange, bis ich aufgeraucht hatte. Sie fürchtete offenbar, die Wohnung könnte abbrennen. Ich drückte die Zigarette aus und gab ihr den Aschenbecher. Sie küsste mich auf die Wange, machte das Licht aus und ging raus. Wie ihr kleiner Bruder kam ich mir vor. Ich starrte in die Dunkelheit.

Noch bevor der Wecker klingelte, wachte ich mit Kopfschmerzen und üblem Geschmack im Mund auf. Ich hatte unruhig geschlafen und versuchte, mir bewusst zu machen, wo ich mich befand und was geschehen war. Die Sachen, die ich noch vom Vortag anhatte, beengten mich. Ich ging duschen und hörte Jenny in der Küche klappern. Ihr Bruder schlief noch.
Beim Frühstück fragte ich: „Willst du reden?“
Sie sah mich an: „Noch nicht.“
„Aber rede bitte, bevor es zu spät ist“, mahnte ich an. Ich wusste genau, dass es zu spät war. Jenny sah zu, wie ich mir ein Marmeladenbrötchen zurecht machte.
„Hast du ihn in Frankreich kennen gelernt?“, fragte ich unvermittelt ohne aufzusehen.
„Ja ... nein.“ Obwohl Jenny sicherlich schon tagelang dieses Gespräch vor Augen hatte, wusste sie nicht, wie sie es sagen sollte. Was zu sagen war, stand jedoch fest: „Ich ... es war mein Exfreund, er ist mitgefahren.“
Ich nickte und biss ohne Appetit in das Brötchen, kaute und schluckte.
„Wir sahen uns dort jeden Tag“, rechtfertigte sie sich, „und am Anfang habe mich noch dagegen gewehrt; denn ich musste immer an dich denken ... Ich war hin- und hergerissen ...“ Sie sah mich an mit diesem Bitte-versteh-mich-Blick und mir platzte fast der Kopf vor Schmerzen. Ich trank einen Schluck Kaffee und sagte:
„ ... aber du musst wissen, was du willst.“
Ich kam mir vor wie mein eigener Vater. Und sie war erst sechzehn. Mein Gott, sechzehn! Jeder Verliebte ist sechzehn. Nur der unglücklich Liebende nicht, der ist uralt.
„Hast du dich entschieden?“, fragte ich.
Jenny schlug ihre Augen nieder. Sie aß keinen Bissen und ihr Kaffee wurde kalt.
„Entscheide dich bitte rechtzeitig, sonst tu ich es“, sagte ich hart.
„Ich möchte dich nicht verlieren, Pan ...“, entgegnete sie mit schwacher Stimme.
„Entscheide dich!“, wiederholte ich und wusste, dass sie sich längst entschieden hatte.
„Ich rufe dich an, diese Woche, ja?!“ Sie gab ihren Worten etwas Zuversichtliches.
„In Ordnung“, sagte ich, „muss jetzt los.“

Ich zog im Flur schnell meine Schuhe an. Dann standen wir uns wieder stumm gegenüber. Jenny umarmte mich zum Abschied und öffnete die Tür. Ohne ein Wort ging ich die Treppen runter.
Nach den ersten Stufen rief sie meinen Namen: „Pan?!“
Ich drehte mich um und blieb stehen. Traurig lächelte sie mich an. Sie stand nur mit einem T-Shirt bekleidet da, unschuldig wie ein Kind, und wollte mir noch etwas Nettes sagen.
„Ja?“, fragte ich.
„Wie war es eigentlich in Tunesien?“
Ich lächelte zurück: „Es gibt dort jede Menge Schmetterlinge ...“ Jenny wusste, was ich meinte. „Und ich traf dieses süße Mädchen, eine Spanierin ... Sie sagte mir auf englisch, dass ich ihr gefalle ...“
„Und?“ Jenny sah mich neugierig an.
„Und ich sagte ihr, dass zu Hause meine große Liebe wartet.“
Ich blickte Jenny ein letztes Mal in die Augen. Ein allerletztes Mal. Dann ging ich zur Straße runter, zerrte die zerknautschte Lucky-Schachtel aus der Hosentasche und warf sie in hohem Bogen in ein Gebüsch.

Tequila

oder: Seit wann verwandeln sich Würmer in Schmetterlinge?

I.
„Ich denke, hier ist Kostümzwang ...!“, sagte ich zu Robby. Robby strich sich mit der Hand übers Kinn und musterte mich grinsend von oben bis unten.
„Ja“, sagte er, „hatte ich so angekündigt, aber siehst ja. Hab´ mich vorhin auch schnell wieder umgezogen ...“ Er trug eine seiner tausend Bluejeans. Ich zog meine Winterjacke aus, legte sie in die Treppenecke und stand unschlüssig rum.
Sabine und Claudi standen vor einem Zimmer und lachten zu mir rüber, beide ganz in schwarz. Aber so sind sie schon in der Schule rumgelaufen, selbst beim Abi-Ball vor ein paar Monaten. Nur Henne, der gerade aus der Küche wankte und sich an einem Glas festhielt, hatte sich eine rote Pappnase in die Stirn geschoben. Na immerhin. Es war nicht mal zehn, und ich stand da wie ein Vollidiot. Aus zwei Richtungen war Musik zu hören, B52´s und Cure, glaube ich. Dazu mein unpassendes Hippie-Outfit: sandfarbene Schlaghose und lila gemustertes Hemd mit Haifischflossenkragen. Zum Glück hatte ich die Zigeunerperücke meiner Mutter, die sie jedes Jahr zum Betriebsfasching trug, zu Hause gelassen.
„Wo hast du denn die Hose aufgetrieben?“, fragte mich Robby.
„Hat mir meine geizige Westtante letztes Jahr geschenkt. Keine Ahnung, von welchem Dealer sie so was bezieht“, sagte ich.
Robby zog bedauernd beide Augenbrauen hoch, behielt aber dieses dämliche Grinsen bei. „Und für so was ist die Mauer gefallen ...“, sagte er im Ton resignierter Alt-Kommunisten.

„Für die Altkleidersammlung ist sie zu schade, wurde ja kaum getragen ...“ Mit diesen Worten hatte mir Tante Hedwig die Hose an Omas letztem Geburtstag zugemutet. Ich musste meine geliebte Levis vor ihren Augen ausziehen und das Monster von Schlaghose anprobieren. Leider passte das Teil. Als ich mich enttäuscht bedankte, sagte sie selbstgefällig: „Ist schon gut! Gib mir einen Kuss auf die Wange!“ Sie soll es ja früher wie wild mit den Kerlen getrieben haben; jetzt roch sie nur noch nach 4711 und alter Frau, dachte ich da.

„Nun komm erst mal rein!“, sagte Robby und zog mich an Claudi und Sabine vorbei ins dunkle Wohnzimmer seiner Eltern. „Die sind verreist, haben Nachholebadarf.“, hieß es am Telefon. Robbys Vater war als Archäologe viel in Mittelamerika unterwegs, und da nahm er seine Frau häufig mit.
Aus der guten Stube mit den Atztekenmasken an der Wand dröhnte ein gitarrenlastiger Sound. Nicht immer mein Geschmack, aber Robbys Partys waren trotzdem die besten, in der Regel Spontanfeten wie diese hier. Für den harten Kern unserer alten Klasse und ein paar Leute, die zur Clique gehörten. Robby drehte die Musik etwas leiser. Aber irgendwer machte sie dann doch wieder laut.
Vor einem riesigen Bücherregal lümmelten Steffen und Sid auf einer Matratze und sahen sich die Plattensammlung von Robbys Vater an. Alte Stones-Sachen und so. Zwischen den beiden saß Tina. Sie hielt ein Pils in der Hand. Flaschenbier. Das aus der Dose war verpönt.
„Heyyyyy Pan! Bist ja doch noch gekommen!“, schrie mich Tina an, „Siehst heiß aus!“ Ich mochte es, wenn ich Pan genannt wurde, besonders, wenn Tina es tat. Und Pan klang zehnmal besser als Panowsky. Aber das mit dem „Siehst heiß aus!“ machte mich verlegen.
Tina hatte ein schwarzes Tuch als Band über die Stirn gebunden. Es strich ihr dunkelblondes Haar glatt in den Nacken und rahmte ihr blasses Gesicht.
„Ja, ich musste nur ... wegen meiner Oma ... Ich hatte versprochen ...“ Aber da hörte Tina schon nicht mehr zu, weil Sid ihr irgendein Platten-Cover zeigte. Was hätte ich ihr auch sagen sollen? Dass Oma seit dem Morgen im Krankenhaus lag und ich auf meine Schwester aufpassen musste, bis Mama zurück war? Papa hatte Nachtschicht, und da konnte er nicht fehlen, zumal der halben Belegschaft die Kündigung drohte. Aber so was lässt sich nicht zwischen zwei Liedern rüberbringen. Es gab mal eine Zeit, da konnte ich mit Tina über alles reden. Einmal hatte sie mir nach der Schule einen Mann auf der Straße gezeigt, ihren Stiefvater. Er wohne aber nicht mehr zu Hause, weil er sich an ihr und ihrer Schwester vergangen habe. Ich war total entsetzt, aber Tina stand irgendwie drüber; zumindest wirkte sie so. Sie war die Klassenbeste, schmiss jedoch das Abi kurz vor den Prüfungen. Jetzt hing sie immer öfter mit Sid und irgendwelchen Punks zusammen.
Henne hatte sich inzwischen an das Klavier gesetzt, welches unter einem expressionistischen Sonnenuntergangsbild stand und begann bei einem Cure-Song in die Tasten zu greifen. Spielen konnte er natürlich nicht, aber er war so hacke, dass er alle akustisch vergewaltigen wollte. Steffen warf einen Kronkorken nach ihm, aber Henne spielte unbeeindruckt weiter.
Neben dem Klavier ließ sich Carry von Duffy küssen. Ausgerechnet Carry! Wer hätte das gedacht! Sonst machte sie sich nur über Duffys Sprachfehler lustig. Aber beim Küssen störte der offenbar nicht weiter. Duffy musste immer in Momenten der Langeweile herhalten. Steffen zog ihn ständig damit auf, dass er irgendwelche Susi-Sorglos-Sätze bilden sollte. Dabei wurde Steffen wegen seiner schwammigen Figur selbst gehänselt.
„Ist wohl die halbe Klasse da!“, sagte ich durch all den Lärm laut zu Robby.
„Naja, fast, ein paar sind noch im Nachbarzimmer, und sehen sich Bettys Englandfotos an.“, brüllte er mir ins Ohr. „Sieht mal wieder nach einer Extrafete aus.“
„Wollte Mark nicht auch kommen?“, erkundigte ich mich.
Robby grinste: „Weiß nicht, musste mal Betty fragen ...!“
Ich brauchte eine Weile, bis ich die Doppeldeutigkeit erkannte.
„Hä? Ach so, Mensch! Nee, sag mal, isser da?“, fragte ich.
„Klar“, sagte Robby, „er wollte in der Küche Reis mit Eiern machen oder so, ess ich ja eh nicht ... Hier, halt mal! Verdammte Scheiße!“ Robby drückte mir seine halbleere Flasche Bier in die Hand und sprang zum Klavier, weil sich Henne gerade über Carrys Hose erbrach. Ich verzog mich schnell in die Küche, wo es angenehm ruhig zuging.

„Hallo Pan, alter Hippie!“, begrüßte mich Mark mit regloser Miene. Mark war so was wie ein Freund für mich. Er saß mit Sabine und Claudi am Küchentisch und gestikulierte mit einem Löffel in der Hand.
„Ich erkläre gerade diesen zukünftigen Hausfrauen und Müttern“, sagte er mit seiner typisch trockenen Art, „warum Nietzsche dem Mann zur Peitsche riet, sofern das Weib nicht brav hinterm Herd stehen bleibe ... Wie siehst du überhaupt aus?! – Oh, Mist, mein Reis!“ Bevor ich was erwidern konnte, war Mark zum Herd gehüpft, wo der Reistopf knackte und zischte. Er riss ihn von der Flamme und drehte das Gas aus. Dann kratzte er laut fluchend mit seinem Löffel im Topf rum. Die beiden Mädchen kicherten.
„Musste Wasser raufkippen, Nietzsche!“, sagte Claudi.
„Und dann mit deiner Peitsche umrühren!“, meinte Sabine.
Claudi triumphierte: „Das lernt der schon noch.“ Dann gingen die beiden wieder zu den anderen. Glänzender Abgang. Und unzertrennlich wie immer.
Ich lächelte und begann mich zu entspannen.
„Ist hier eigentlich jeder nur auf´m Sprung?“, fragte ich, „Eben schon Robby. Weil Henne auch was von Nihilismus rauswürgte, raus auf Carrys Hose, brühwarm, aber bitter und hoffnungslos grün.“ Ich schüttelte schadenfroh kichernd den Kopf und trank Robbys Bier in einem Zug aus.
„Ihhhh!“, sagte Mark gekünstelt und sah auf: „Aber so ist der nun bei jeder Fete drauf.“ Er warf den Löffel in das Spülbecken und reichte mir eine angebrochene Flasche Tequila.
„Ein guter, von Robbys Vater, ein „Meskal“, so mit Wurm drin.“, sagte er. „Aber Zitrone is´ nich´! Nicht mal mehr Gläser, höchstens Salz ...“
„Nee. Lass mal!“, sagte ich, griff die Flasche und sah mir erst übermütig, dann skeptisch den weißen Wurm an. Als würde er sich gleich bewegen. Er irritierte mich etwas. Merkwürdig, auf was die Mexikaner so kommen. Ich schraubte die Flasche beinahe vorsichtig auf. Ein ganz normaler Verschluss, nicht so ein dämliches Tex-Mex-Hütchen. Obwohl ich das damals noch ganz witzig fand. Ich nahm einen ordentlichen Hieb, bloß darauf bedacht, den Wurm nicht mitzutrinken. Dann reichte ich Mark die Flasche. Die Verschlusskappe behielt ich zurück und spielte damit, drückte die scharfe Kante in die Innenseite meiner Handfläche und dachte nach. Mark sah sich das Etikett mit dem Kaktus darauf an.
„Was ich dich fragen wollte“, begann ich und wurde ernst, „deine Mutter ist doch Ärztin ...“
„Ja, wieso? Biste krank?“, fragte er.
„Nee, aber ich habe heute so ein Schreiben bekommen, von der Bundeswehr. Die wollen mich mustern. Keine Ahnung, warum die sich bei mir erst ein Jahr später melden.“ Mark betrachtete weiterhin mit reglosem Gesicht das Flaschenetikett, wobei er witzelte: „Und meine Mutter? Soll dir schriftlich geben, dass du behindert bist?“
Ich lächelte müde. „Naja, Untauglichkeit wär´ schon nicht verkehrt.“
„Weiß nicht, ob sie das macht, aber ich werd´ sie fragen.“ Er setzte die Flasche an und trank. Der Wurm schaukelte willenlos hin und her.
„Würdest mir einen echten Gefallen tun.“, sagte ich. Mark winkte ab und musste aufstoßen. Dann sagte er:
„Wolltest du damals nicht sogar 3 Jahre machen?“
„Aber auch nur für den Studienplatz“, rechtfertigte ich mich. „Der ist ja nun nicht. Studiert überhaupt jemand von uns außer Betty und dir?“, wollte ich wissen.
„Ich weiß nur noch von Silvy und Heiko“, sagte Mark. „Der Schleimer hat wieder mal seine Beziehungen spielen lassen.“
Ich nickte und merkte, wie der Tequila sich in mir ausbreitete, heiß und weit wie die Sierra Madre in einem grell-bunten 60er-Jahre-Western. Der angebrannte Reis roch nach Kino-Popcorn. Mit der Passivität eines Zuschauers spürte ich, dass auf einmal alles möglich sei. Ein Gefühl von Freiheit beschlich mich.
„Weißt du“, sagte ich nach einer Weile, „all die Jahre war immer irgendwer da, der dir sagte, was du tun oder lassen sollst ... Ich meine, ich bin jetzt volljährig und will endlich anfangen zu leben, will frei sein, reisen, irgendwas Verrücktes tun ... Da werde ich doch nicht zur Army gehen ...“
Mark grinste: „Und ich dachte, das hier ist nur Verkleidung, aber du bist ja ein Hippie aus Überzeugung!“ Ich grinste zurück. Aus dem Wohnzimmer hörte ich, wie Sid ein Lied mitgröhlte: „Should I stay or should I go“ von Clash. Ich liebte diesen Song und bekam Lust zu tanzen, aggressiv und rücksichtslos. Aber etwas ließ mich nicht los:
„Und dann haben sie uns jahrelang erzählt, die von der Bundeswehr, das wären unsere Feinde, und nun? - Nee!“ Ich wurde ernst. „Dafür waren wir nicht auf der Straße damals.“ Damals. Immer öfter verwendeten wir dieses Wort, als wären wir zurückschauende Greise. Und manchmal fühlte ich mich auch so. Mark sagte: „Aber was willste machen! Der Angearschte bist du so oder so, ob mit oder ohne Mauer! Wenigstens gibt es jetzt Tequila ...“ Es sollte ein Scherz sein, verriet aber, wie Mark dachte. Er nahm noch einen Schluck und reichte mir wieder die Flasche. Nein, Mark gehörte nicht zu den „Angearschten“. Einer wie er würde durch alle Zeiten kommen und wüsste immer, was zu tun sei. Er war ein Einzelkämpfer, der sich gesellig gab, aber er brauchte im Grunde niemanden. Manchmal beneidete ich ihn um seine Selbstsicherheit. Schon wie er da an der Spüle stand, immer triumphierend, auch wenn es Missgeschicke wie das mit dem Reis gab. Aber das tiefe Fühlen, ich glaube, das blieb ihm verwehrt. Ich trank in der Hoffnung, der Kaktusschnaps könne meine Lebensgier ein wenig dämpfen, aber das Gegenteil schien der Fall zu sein: ich wurde pathetisch.
„Weißt du“, sagte ich und sah mit zusammengekniffenen Augen in die fast leere Flasche, „ich fühle mich wie dieser Wurm da. Immer kriechen, und immer fressen, was sie einem reichen. Da wiegst du dich als kleine Kaktusmade zwischen all den Stacheln in Sicherheit, aber am Ende kriegen sie dich und du ersäufst in so einem sterilen Teil da.“ Ich nahm einen weiteren Schluck, sah schwarz gerahmte Schnappschüsse der letzten Monate wie Dominosteine kippen und sagte, als das letzte Bild fiel:
„Weißt du, ich glaube, man darf den Augenblick, sich zu verändern, nicht verpassen. Irgendwie fühle ich, dass es nun für mich Zeit ist.“ Ich sah zu Mark, aber der rührte wieder im Reistopf rum. „Ich weiß nicht, wohin mein Weg mich bringt, aber ich weiß, dass ich mich verändern muss ... Der Wurm hat es nicht geschafft, doch ich werde mich verwandeln, bevor es zu spät ist. In einen Schmetterling oder Nachtfalter, verstehst du? Hauptsache fliegen ... Nicht nur einspinnen in einen Kokon, da gibt es zu viele, die ihr Leben lang verpuppt bleiben ...“ Ich redete und redete, voll trunkener Leidenschaft für die eigene Sache. Es fehlte nicht mehr viel und ich wäre mit flammender Zunge auf die Menschenrechte zu sprechen gekommen.
Mark sah mich aus seinen leicht geröteten Augen spöttisch an.
„Seit wann verwandeln sich Würmer in Schmetterlinge?“, fragte er.
„Na dann eben Raupe“, sagte ich, „du weißt, was ich meine.“ Mark nickte und griff sich eine Handvoll Reis aus dem Topf, stopfte sich das warme Zeug in den Mund und sagte kauend:
„Wenn du da mal nicht auf die Fresse fällst! Wie dieser antike Überflieger – Ikarus! - Warum machst du nicht Zivi, wie die meisten von uns?! - Werd ich auch nach dem Studium.“ Ich hörte ihm nur halb zu, wie jemandem, der einen zu wecken versucht. Dann war ich wieder ganz da und überspielte meine naive Offenheit mit Sarkasmus:
„Nee, das kann ich nicht“, sagte ich, „alte Leute windeln, wenn sie das Klo kaum noch von ihrem Fernsehsessel unterscheiden können ... Lass mal gut sein!“
Ich ärgerte mich, weil Mark das, was mir wirklich wichtig war, pragmatisch-kalt abtat und bildete mir ein, nicht verstanden worden zu sein. Unwirsch trank ich den letzten Schluck Tequila aus, mit Made. Beim Absetzen der Flasche gab es diesen angenehm dumpfen Ton. Als fiele ein Stein in einen Brunnenschacht. Ich kam mir selbst wie ein fallender Stein vor. Mit schwerer Zunge befühlte ich die kleine Made am Gaumen. Dabei kam mir dieser Poltergeist-Film in den Sinn, wo sich der Tequila-Wurm im Bauch des Mannes verwandelt und als Dämon wieder erbrochen wird. Ich sah Henne vor mir und hatte das Bedürfnis, den Wurm zu zerbeißen, ließ es aber und schluckte ihn ganz hinunter. Langsam wurde ich richtig betrunken. Die Küche begann zu atmen und ich beäugte sie ungläubig wie Alice im Wunderland. Meine Ohren verblüfften mich: Sie beherrschten den Trick, alle Geräusche wie nach einem satten Joint zu verstärken. Aber Joints machten damals bei uns noch nicht die Runde. Es war wie in einem akustischen Zauberwald. Ich fühlte mich zwischen Sentimentalität und Aufbruchstimmung hin- und hergerissen. Irgendjemand hatte die neuste Cure-Platte aufgelegt. Ich stellte die Flasche auf den Tisch und vertiefte mich in die magische Wirkung der Musik. Ich merkte, wie mich der Rhythmus aufkratzte und die Melodie gleichzeitig beruhigte. Es war der „Lovesong“, der mich an die Hand nahm und zur Sentimentalität rüberzog. Dieses Lied war wie Licht und beleuchtete ein Mädchen, das plötzlich in der Tür stand: Tina! Sie erschien mir als rettender Engel. So überirdisch, dass ich sie lieben musste. Sie war wunderschön!
„Kommt ihr mit rüber?“, fragte sie, „Robby will Flaschendrehen spielen. Er meint, sonst geht hier langsam die Luft raus.“
„Oh ja!“, sagte Mark, „ein Pfänderspiel wie im Ferienlager. Lassen wir voreinander die Hosen runter!“
„Nun hör dir den Studenten an.“, lächelte mein Engel ironisch und sah dann besorgt zu mir rüber.
„Dann nehmen wir gleich die Flasche, da ist genügend Luft drin.“, sagte Mark. Er grinste wie ein Junge, der im Weitpinkeln gewonnen hat und nickte zur Tequilaflasche rüber.
Ich hatte Mühe, mich auf das Gesagte zu konzentrieren und verstand nicht, was Mark mit der Luft in der Flasche meinte. Als wäre Tina der Videoclip zum „Lovesong“ starrte ich sie fasziniert an. Und wie ein Mantra, eine magische Formel, wiederholten sich in mir Marks Worte: genügend Luft, genügend Luft ... Ich stellte mir vor, Tina von Mund zu Mund zu beatmen. Wiederbelebungsversuche. Aber eigentlich war ich es, der nach Leben schnappte wie ein Fisch an Land. Ich glaube, ich war ziemlich hinüber.
„Pan, was ist? Du guckst so komisch, ist dir nicht gut?!“, fragte Tina besorgt.
„Doch, doch. Alles bestens.“, versicherte ich. Zeitlupenworte. Tina nickte. Mark spülte sich seine klebrige Reishand ab. Im Waschbecken rauschte ein Wasserfall.
„Also los!“, sagte Tina und schnappte sich die leere Flasche. Dann schob sie uns aus der Küche. Ich konnte Tina riechen. Und sie roch nicht nach 4711, sie roch nach Unschuld und ewiger Jugend. Ich verspürte den Wunsch, ihr meine Liebe zu gestehen. Und es kam mir vor, als hätte ich noch nie etwas so intensiv wahrgenommen, wie das, was um mich herum geschah. Der Tequila schien für die gewöhnliche Betrachtung der Dinge eine Auszeit zu gewähren, entfaltete aber noch nicht seine teuflische Wirkung. Er lauerte in mir, mitsamt der kleinen Made.
Im Wohnzimmer hatten sich um die 15 Leute eingefunden. Duffy drehte den „Lovesong“ leiser und Robby erklärte denen, die zuhörten, seine Spielregeln. Ich begrüßte Betty mit einem Lächeln, das der gesamten Schöpfung galt. Sabine und Claudi begannen zu tuscheln. Carry hatte eine neue Hose an, eine Bluejeans von Robby. Henne saß blass und immer noch mit Pappnase auf der Couch. Aber er schien sich wieder gefangen zu haben, er blickte teilnahmslos in die Runde. Fast wie damals, als er neu zu uns in die Klasse kam. Da war er zurückhaltend und vorsichtig wie nach einschneidenden Erfahrungen. Man konnte ihn nicht richtig fassen. Es hieß, sein Vater sei bei der Stasi. Dadurch begegneten wir ihm auch immer mit etwas Misstrauen. Nach der Wende begann er exzessiv zu leben, als hätte er Nachholbedarf. Auch er wollte sich verwandeln, aber anders als ich. Er mutierte regelrecht, wollte sich nicht finden, sondern zerstören. Er begann stark zu rauchen und betrank sich bei jeder Gelegenheit. Offenbar experimentierte Henne auch mit Drogen. Er suchte die Gefahr. Wir Jungs bewunderten ihn mit Schrecken für seine furchtlosen Aktionen. Einmal waren er, Mark, Sid und ich auf einem Hochhausdach. Wir sogen die große Stadt in uns ein und philosophierten über Perspektiven. Die Sonne stand tief über dem Dächerdunst in der Ferne. Plötzlich sah Henne uns wie zum Abschied an und sagte: „Ich hör´ auf!“ Er ging zum Ende des Daches und sprang. Wir konnten es nicht fassen, waren wie gelähmt. --- Okay, er hatte uns reingelegt, war auf den obersten Balkon gehüpft und tauchte grinsend wieder auf. Aber da war mehr als dieser Joke. Es war sein entschlossener Blick, und dieses müde Lächeln.

Robby sagte, wir sollten uns kreisförmig um die Tequila-Flasche setzen, die ihm Tina gegeben hatte. Er drückte sie aufs helle Parkett, bis jeder saß und erklärte, was derjenige machen müsse, auf den die Flasche zeige. Sid legte noch schnell eine neue Platte auf. Aus den Boxen kam Ska-Musik von Madness, während Robby die Flasche drehte. Gleichzeitig meldete sich der Tequila in mir zurück und drehte das Zimmer; als wäre er noch irgendwie mit der Flasche verbunden. Ich hörte, wie der Wurm in mir dämonisch lachte. Er hatte mich im Griff und ließ in meinem Kopf Phantasie und Wirklichkeit miteinander wahre Hexentänze vollführen. Trotzdem ich mich etwas außerhalb der Runde befand, umkreisten mich die, die ich zu kennen glaubte. Ich sah Carrys gelangweiltes Gesicht. Sie hielt es wie eine der starren Atztekenmasken vor sich. Ich bildete mir ein, Claudi und Sabine seien in schwarzen Kokons versponnen, worin sie die Finsternis ausbrüteten. Meine Blicke suchten Halt bei Tinas lichter Gestalt. Gleichzeitig wollte ich loslassen, weil ich mich immer noch schwer wie ein Stein fühlte, regelrecht „stoned“, und genauso schwer atmete. Und ich wollte mich drehen, wie diese Flasche, nur aus eigenem Antrieb heraus. Mein Wille sollte mich in Bewegung halten, kein Stillstand mehr!
Während ich all das mehr fühlte als dachte, rotierte die Flasche immer noch um ihre eigene Achse. Dabei nahm ich ein Vibrieren wahr. Es verstärkte sich allmählich und schien von der Flasche auszugehen. Etwas galoppierte unter den Dielen des Zimmers. Eine Stimme in mir sagte:
„Sie kommt nicht vom Fleck!“
Ich wiederholte diese Worte wie unter Hypnose: „Aber sie kommt nicht vom Fleck!“ Dabei starrte ich auf die sich drehende Flasche. Um mich erhob sich wieherndes Gelächter. Das Zimmer wurde zu einer Wüstenlandschaft mit riesigen Tequila-Kaktus-Etiketten am Horizont. Aus dem Fußboden tauchten Zirkuspferde auf und zogen an mir vorbei. Sie durchquerte die Sierra Madre. Der Himmel verdunkelte sich vom Staub. Mit ihm legte sich Schweiß auf meine Stirn.
„Ich bin wie diese Flasche!“, rief ich den Pferden hinterher, „Habt ihr gehört?“. Meine Stimme wurde von den Staubwolken geschluckt und kam doch als gebrochenes Echo wieder: „Habt ihr gehört? Pan ist eine Flasche! Eine Flasche!“ Die Pferde kehrten zurück, umringten mich und führten wiehernd Kunststücke vor. Ich sah auf. Dann waren da meine Freunde, die mich auslachten. Ich begriff rein gar nichts, nur dass ich ein Gefangener dieses Kreises war. Tina lachte als Einzige nicht. Sie sah mich an. Ihr Gesicht war beständig, während sich rings im drehenden Raum ein Zeitraffer abspulte: Die Bildersonne über dem Klavier ging pausenlos unter und tauchte wieder auf. Die Flasche trudelte aus und wurde erneut in Bewegung versetzt. Und Tina wartete, wartete worauf? Sie starrte auf die Flasche, schaute weg, dann sah sie mich wieder lange und eindringlich an. - War das die Quintessenz des Lebens - Warten und Hoffen? - die Quintessenz der Liebe, fragte ich mich. Irgendwer stand immer in dieser kreisenden Welt auf, vollführte etwas am Rande der Langenweile und setzte sich wieder hin. Auf und unter. Alles innerhalb fiebriger Sekunden. Wir befanden uns wie auf einem riesigen Plattenteller, und der Irrsinn gab den Ton an. Ich dachte an Oma, Tante Hedwig, Papas bevorstehende Entlassung ...Und die Zirkuspferde machte Kunststücke, wieherten sich Applaus zu. War das Robby, der da ein rohes Ei trank, dass es ihn hob? Robby war doch Vegetarier... Und war es Duffy, der eine Ballade runterlispelte, die mir wie eine Wüstennatter zischend durch den Kopf kroch? Der dicke Steffen stopfte nach Zeit den angebrannten Reis in seinen Mund. So bekam jeder bekam Salz in seine offene Wunde gestreut ... Und nur weil Robby Angst um die elterliche Wohnung hatte, brauchte Henne den Whisky nicht zu trinken, den ihm Claudi in eine Blumenvase kippte. Das Gewieher der Zirkuspferde war die reinste Hölle, als begleiteten sie sich gegenseitig zur Schlachtbank. Aber Tinas Gesicht versprach mir ein Paradies. Und es brachte mich wieder ein wenig runter.
Dann sagte jemand: „Derjenige, auf den die Flasche zeigt, soll sich einen Wunsch erfüllen!“
Kaum waren die magischen Worte ausgesprochen, stand der Raum still. Die Zeit pendelte sich ein und der mich wurmende Tequilazauber war von mir gewichen und hatte den ganzen Zirkus zurück in seine Flasche genommen. Aber dort wirbelte er noch am Boden und zog jeden in seinen Bann. Als wäre die Flasche ein Füllhorn und schleudere gleich alles Erdenkliche heraus. Nur was? Was mochten das für Wünsche sein? Was würde ich mir wünschen? Freiheit? Nicht zur Bundeswehr zu müssen? Derartiges kam mir nicht in den Sinn. Ich war ganz Gefühl und mein bisschen Verstand kreiste einzig um Tina. Ich wusste, dass die Flasche bei mir stehen bleiben würde. Und ich wusste auch, dass eben Tina mein Wunsch war, erhaben über alle anderen Wünsche. Doch wie konnte ich in Worte fassen, was ich wollte? Es war natürlich Quatsch zu sagen, dass Tina sich in mich verlieben solle, aber ich hatte hier die Chance, ihr meine Gefühle mitzuteilen, obwohl ich öffentliche Privatauftritte scheue. War ich nach wie vor betrunken und bildete mir bloß ein, nüchtern zu sein? Oder war ich von der Liebe so berauscht, dass davon die Wirkung des Alkohols aufgehoben wurde? Ich wusste, was zu tun war, das reichte mir als Antwort.

Als die Flasche anhielt, zeigte sie auf Henne. Alle schwiegen. Selbst die Musik hatte ausgespielt. Ich konnte aus der Stille heraus Wünsche platzen hören und Henne, wie er sagte:
„Ich will jetzt ...“ Er machte eine kleine Pause, grinste und fuhr dann fort: „Tina zwanzigmal den nackten Arsch küssen!“. Vorbei. Nicht nur die Ruhe. Oh, wie sie johlten und „Auszieh´n, auszieh´n!“ riefen!
„Hosen runter, hab ich doch gesagt!“, schrie Mark. Mein heimlicher Engel, meine Erlöserin, sie zierte sich einen Blick lang, dann öffnete Tina ihre helle Jeans und streifte sie soweit nach unten, dass ihr süßer, kleiner Po zu sehen war. Sie trug einen schwarzen Slip, den sie auch anbehielt. Mir ging die Sache mit ihrem Stiefvater durch den Kopf. Und die Jungs sahen sie so gierig an, wie mich damals meine Tante, als ich vor ihren Augen die Schlaghose anprobieren musste. Schon drückte Henne Tina den ersten Kuss auf die linke Pobacke. Ich sah weg, mehr ertrug ich nicht. Ich dachte daran, wie Henne vorhin noch Carry vollgekotzt hatte. Nun war es, als würde er Tina abstempeln. Ich begann sie alle zu hassen. Natürlich war das kein Grund, um alle zu hassen, und ich bin auch kein Spielverderber oder irgendwie prüde. Aber ich war dieses Irrenhaus leid, in dem ausschließlich gespielt wurde und den Spaß wie immer Einzelne bezahlten. Bewusstseinserweiternde Ernüchterung trat ein, nach all den Jahren. Das hier war mir einmal eine zweite Heimat gewesen, dachte ich. Dankbar war ich für die gemeinsamen Abende, für ein liebes Wort und ein Lächeln ... Aber nun genügte mir das nicht mehr. Ich wollte, dass sie wirklich für einander da sind und zuhören, wenn etwas nicht stimmt. War das jemals der Fall? Bei Tina am ehesten, vielleicht auch bei Mark, aber der suchte sich aus allen Worten immer öfter Versatzstücke für seine Pointen heraus. Und was ich zu sagen hatte, erreichte ihn kaum. Jeder kümmerte sich verstärkt um sich selbst. Lag es an der Welt da draußen? Herrscht das Dschungelgesetz immer da, wo die Kinderpfade enden? Meine Naivität biss in den sauren Apfel der Erkenntnis, während Henne an Tinas Hintern rummachte. Und ich sah, wie das vermeintliche Paradies unserer Clique zu einer Kleingartenparzelle schrumpfte. Die Sierra Madre passte in eine leere Tequilaflasche. Und die zeigte einmal mehr auf Stillstand. Aber an meinen Schultern begannen es zu jucken, als wüchsen mir Flügel.
Du bist ein Träumer, Pan, hatte Betty einmal gesagt. Ja, sie hatte recht. Doch wenn das ein Vorwurf war, dann mussten alle anderen ihre Träume begraben oder versteckt haben; und die Enttäuschung darüber trieb mich immer weiter in meine Träume hinein, wie in einen fruchtbaren Acker. Keiner ließ sich mehr bei halbwegs ernsten Gesprächen wie damals auf dem Hochhausdach in seine Seele schauen. Und solche Gespräche wurden ohnehin selten. Wenn es doch dazu kam, dann blieben sie an der Oberfläche, abgehoben von der Tiefe, in welche Henne vermeintlich gesprungen war. Abgründe wurden totgeschwiegen, selbst von Mark. Sahen wir uns einfach nur zu selten? In einem Gedicht, das wir einmal im Deutschunterricht lernen mussten, hieß es: „Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen ...“ Ja, der Dichter hatte Recht, aber ich war noch nicht soweit, um ihm zuzustimmen. Ich hing zu sehr am Vergangenen. Doch es nahte die Zeit des Abschieds, das wusste ich. War auch ein Neubeginn noch nicht in Sicht. Abschied also. Nur wie konnte ich da heiter sein?
Ich erhob mich langsam ohne zu schwanken und sah in die Runde. „Es ist Zeit für mich“, sagte ich, „Ich werde gehen!“ Dabei hatte ich ganz klar Hennes Gesicht vor Augen, bevor er vom Hochhausdach sprang, und seine schwarze Clownsmaske, die nichts weggrinsen konnte. Ich wusste, es würde kein Weg zurückführen.
„Willst du nicht noch einen Kaffee trinken?“, fragte Tina, die sich wieder ihre Hose zuknöpfte, „Du siehst ziemlich mitgenommen aus ...“
„Nein. Alles bestens.“, sagte ich.
„Mach´s gut, Pan!“, sagten die anderen. Und spielten weiter.
Ohne mich umzudrehen ging ich in den Flur.
„Ich frage meine Mutter.“, rief mir Mark hinterher.
Ja. Ja, dachte ich und zog mir die Jacke an.
Die Musik setzte wieder ein: „Should I stay or should I go“. Leise verließ ich das Haus. Die Kälte der Nacht brachte mich ins Leben zurück. Als ich zur Haltestelle ging, hörte ich eine Mädchenstimme hinter mir: „Warte, ich komme mit!“ Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Aber es war Sabine. Selbst ihr Mantel war schwarz. Sie wollte mich etwas fragen, ließ es aber sein. Schweigend liefen wir nebeneinander.
An der Haltestelle waren wir die Einzigen, und im Nachtbus saß auch nur einer, der bereits schlief. Ich sah Sabine ernst an, und sie sah ernst zurück. Doch es war ihr peinlich. Sie war schutzlos ohne Claudi und das ewige Gekicher. Eigentlich ist Sabine sehr schön, stellte ich fest. Beim Aussteigen gab ich ihr wortlos einen Kuss auf die Wange. Ich weiß auch nicht, weshalb.















II.
„Mann, Pan, hast du mich erschreckt!“, schimpfte Munkel, als ich ihm zur Begrüßung hinterrücks auf die Schulter schlug. Er saß mit seinem schmalen Kreuz zum Eingangsbereich der Kneipe und hatte sich verträumt ein gerahmtes Bild von Rommel angesehen, welches ihm gegenüber an den gelackten Paneelen hing. Militärisch ausgerichtet daneben zwei Gruppenfotos von in die Wüste geschickten Landsern. Munkel mochte alles, was mit Waffen zu tun hatte. Vielleicht, weil er wegen seiner Größe selbst nicht besonders gefährlich wirkte. Er war der absolut unscheinbare Typ, und nach einem Jahr Wehrdienst kannte ich noch nicht mal seinen richtigen Namen. Aber er war verlässlich, hatte auch den Stammtisch seines Vaters für unsere Gruppe reserviert. Wir wollten hier am Ende des Sommerurlaubs den Abschiedsabend feiern, natürlich in Zivil. Es war ein schwülwarmer Tag Ende August.
Munkel wischte sich das Bier vom Kinn, das durch meinen Schulterschlag danebengegangen war. Ich setzte mich grinsend.
„Ist wohl noch keiner weiter da?“, fragte ich und sah zum Tresen rüber, hinter dem der Wirt offenbar ein Fass Bier anschloss. In einer Ecke saß ein alter Zocker vor einem Daddelautomaten und zog tief an seiner Zigarette. Er blies den Rauch gegen blinkende Symbole. Eine stupide Melodie trieb seine Gewinnchancen gerade in die Höhe. Im Nachbarraum klackten Billardkugeln.
„Nee, ist doch erst halb fünf. Um war ausgemacht“, sagte Munkel.
„Weiß ja.“, sagte ich.
Munkel trank sein kleines Glas Bier aus und fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Lippen. Dann nahm er eine seiner selbstgedrehten Zigaretten aus einem silbernen Etui und bot mir eine dieser Filterlosen an.
„Nee“, winkte ich ab, „hab im Urlaub aufgehört.“
Munkel guckte skeptisch und zündete sich mit einem alten Sturmfeuerzeug die Kippe wie im Feld hinter vorgehaltener Hand an. Als er den Rauch gelassen zur Seite blies, fragte er mich:
„Sag mal, wo warst du in den drei Wochen eigentlich? Bist braun wie ein Kanake!“
Ich grinste pflichtschuldig: „Tunesien. Bin erst heute nacht zurück.“
Mit spöttischer Bewunderung zog Munkel seine Mundwinkel nach unten und nickte.
„Last Minute“, fügte ich hinzu, „ist gar nicht so teuer. Und du?“
„Ach“, er winkte ab und führte das leere Glas zum Mund, „musste meinem Alten helfen. Ausschachten im Garten. Er will sich da eine Blockhütte hinsetzen.“ Munkel drehte sich nach dem Wirt um. Aber der war nicht zu sehen. Dann sagte er: „Und, wie sieht´s mit Bräuten da unten aus?“
Ich zog die Augenbrauen hoch: „Die meisten haben einfach nur einen fetten Arsch.“ Ich hasste es, wenn ich so sprach. Munkel gefiel´s.
Meine Gedanken waren bei Jenny. Nur konnte ich mit Munkel nicht darüber sprechen. Zumindest wollte ich es nicht. Zwei Monate vor meinem Urlaub hatte ich Jenny kennen gelernt. 16 Jahre jung, blauschwarz gefärbte Haare und unwahrscheinlich schöne Zähne. Ihr Lächeln wirkte unschuldig und frech zugleich. Liebe auf den ersten Blick. Ich rufe dich sofort an, wenn ich zurück bin, hatte ich ihr gesagt. Aber bei ihr war ständig besetzt. Warum sie nicht einfach mit nach Nordafrika käme, hatte ich sie gefragt. Das habe sie mir doch bereits erklärt, meinte sie. Weil schon seit einem halben Jahr eine Frankreichreise geplant sei, mit einigen ihrer alten Freunde. Sie wäre froh, dass sie ihre Eltern dazu überreden konnte. Na ja, ich konnte es schon verstehen. Ein paar Tage vor mir wollte sie zurück sein.
„Willst du auch eins?“, fragte Munkel.
Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch: „Was?“
„Ein Glas Milch, möchtest du Milch trinken?“ Er sah mich wie einen Idioten an und verdrehte die Augen.
„Ach so, ja, ähm ...“, stammelte ich verlegen und unwirrsch.
Der Wirt stand vor uns. Mit Kaiser-Wilhelm-Bart und Schweiß im Gesicht.
„Großes oder kleines?“, fragte er und zwirbelte an seinem Bart.
„Großes.“
„Jawoll“, meinte er, „was ein richtiger Soldat ist, der fängt gar nicht erst bei kleinen Sachen an, nicht wahr!“ Dabei blickte er auf Munkel herab und verzog spöttisch den Mund. „Noch ein kleines?“, fragte er ihn.
„Auch ´n Großes“, knurrte Munkel.
Der Wirt nahm das leere Glas und wandte sich im Gehen noch mal mir zu: „Du bist doch auch von der Wehrmacht, oder? Wegen dem Treffen.“
„Bundeswehr“, verbesserte ich irritiert.
„Mein´ ich ja. Aber ob nun NVA, Wehrmacht oder Bundeswehr, letztlich bleibt es eine deutsche Armee, oder?!“
„Also ...“, sagte ich und war sprachlos. Munkels Augen leuchteten.
„Hätte ja auch gerne gedient, aber meine Gesundheit ließ mich im Stich“, entschuldigte er sich und verschwand in Richtung Tresen.
„Der ist die Härte“, lachte Munkel, „kann die Armeen nicht unterscheiden, aber kann dir die Dienstgrade aller Waffengattungen herbeten, sagt zumindest mein Alter.“
Ich nickte, war aber mit den Gedanken bei Jenny.
„Sag mal, Munkel, ist hier irgendwo ein Telefon? Ich muss mal dringend telefonieren.“
„Äh, ja, im Flur zum Klo“, sagte er und zeigte mir die Richtung.
Ich stand auf ging an dem Zocker vorbei, der gerade wirklich eine Gewinnsträhne zu haben schien. Der Automat zeigte ein paar „Sonderspiele“ an. Doch der Alte verzog dabei keine Miene. Sicher hat er in seinem Leben schon zu viel verloren, als dass er sich noch augenfällig über Gewinne freuen kann, dachte ich. Das Spiel als solches wird es gewesen, das ihn über den Tag brachte, nicht die große Hoffnung auf einen Gewinn. Er war zweifelsohne ein Gewohnheitsspieler, drückte nur die Automatiktaste und ließ den Daddler alleine machen. Er hatte sich ganz dem Schicksal verschrieben und lebte nur von kleinen Hoffnungen. Aber lebte er wirklich? Ich wollte, woran er nicht mehr glaubte - das ganz Große, Heilige, etwas, das bleibt, wenn der Tag geht. Und in Jenny glaubte ich, es gefunden zu haben.
Der schmale Flur war kühl. Neben einem Zigarettenautomaten hing an der Wand ein altes, graues Münztelefon aus Eisen. Ich steckte nervös Geld rein, stellte mir Jennys Gesicht vor und tippte ihrer Nummer wie im Schlaf ein. Es klickte ein paar Mal, dann ertönte das Besetztzeichen. Mist. Ich hängte den Hörer ein. Mein Geld wurde klimpernd freigegeben. Wie bei einem Daddelautomaten, dachte ich. Aber wenn ein Telefon Geld rausrückt, bedeutet das nicht, dass irgend etwas gewonnen ist. Im Gegenteil. Ich steckte die Münzen in die Hosentasche und ging zurück zum Stammtisch. Im Vorübergehen sah mich der alte Spieler an, als kenne er mich. Er drückte seine Zigarette vor dem blinkenden Automaten in einen gläsernen Aschenbecher, während die „Sonderspiele“ weniger wurden.

Skulle und der Wessi saßen neben Munkel. Mit den dreien hatte ich ein Jahr lang ein Sechsmannzimmer bewohnt.
„Da ist er doch!“, begrüßte mich Skulle. Ich gab ihm und dem Wessi die Hand.
„Munkel meinte, du legst gerade auf dem Klo die Kellnerin flach!“, sagte der Wessi.
„Quatsch, hier gibt’s keine Kellnerin ...“ entgegnete ich und merkte, wie gereizt ich war. „Also nahm ich die Klofrau“, sagte ich schnell, um die Kurve zu kriegen. Die drei lachten. Aber mir war nicht nach den üblichen Frotzeleien zu Mute.
Nur gut, dass der Wirt mit dem Bier kam.
„Hab gleich mehr gezapft“, sagte er. Er verteilte Bierdeckel, auf die er Striche machte, und stellte jedem einen halben Liter hin. Dann ging er wieder.
Skulle erhob sein Glas für diesen saublöden Trinkspruch: „So, Prost, Männer, auf die EK´s vom 1. Zug!“ EK´s waren die „Entlassungskandidaten“ im restbeständigen NVA-Jargon.
„Zug um Zug!“ ließen sich Munkel und der Wessi daraufhin laut vernehmen. Ich sagte nichts, ich trank nur. Dem Wessi gefielen diese albernen Bierkellerrituale. Und das wiederum gefiel den Jungs unserer Gruppe. Dennoch wurde dem Wessi oft vorgehalten, dass er trotz seiner Ellenbogengesellschaft in einer verweichlichten Welt aufgewachsen sei. Rechtfertigungen und kernige Sprüche für ein substanzloses Heldenego. Gebell zahnloser Hunde. Gerade wenn Alkohol im Spiel war, stilisierten sich die Jungs zu Survivalexperten einer vergangenen Tristesse. Sie schwärmten mitunter vom rostigen Staatenkäfig, dessen Gittergrenze wir jedoch nie als solche wahrgenommen hatten, weil wir im Grunde zu jung waren. Aber die Jungs identifizierten sich mit der Rolle des heimgekehrten Soldaten, der innerhalb weniger Jahre genug erlebt, dass es für ein Leben reicht. Sie waren Schwätzer, die nie wirklich die Chance hatten, sich als Helden zu beweisen. Unerträglich deutsch wie der Wirt, der nach einer Weile wieder mit vier halben Litern ankam.
Ich ging noch mal zum Telefon. Irgendwann musste Jenny doch merken, dass der Hörer nicht richtig auflag. War sie weggegangen? Aber wir waren doch verabredet ...
Gegen halb sechs war der Stammtisch belegt. Am Nebentisch saßen auch noch welche von uns. Gut über 10 Personen kamen zusammen . Unsere Haare hatten an Länge ordentlich zugelegt. Nur Munkel war kurzgeschoren wie immer.
Je öfter ich das „Auf die EK´s vom 1. Zug!“ hörte und je lauter das „Zug um Zug!“ gegrölt wurde, um so mehr zog ich mich in die „innere Emigration“ zurück und dachte an Jenny. Die „innere Emigration“ ist bei der Armee die einzige Intimsphäre, die man hat. Keiner bemerkte etwas, denn sie kannten mich nicht anders als Pan, den ruhigen, der ab und an einen kucken lässt. Die Jungs mochten mich. Deshalb akzeptierten sie meine von allen als Zeitverschwendung betrachtete Neigung: ich las. Bücher! Die Nahrung eines Schmetterlings, der sich in meinem Herzen wie auf einer Arche befand, wenn der Alltag flutete. Wollte ich nicht in einem Meer aus Dummheit untergehen, so musste ich den Schmetterling jedoch bald ans sichere Land bringen.
Lange vor dem Tunesienurlaub hatte ich von den Jungs und der Armee Abschied genommen, Abschied vom Gehorsamsein und einer dumpfen Kameradenwelt, die nie meine war. Aber ich hatte mich arrangiert, wie eben einer, der mit anderen im selben Boot sitzt. Angepasst, sicher, aber nur bis zu einem gewissen Grad, einer gewissen Grenze, die von dem Schmetterling in mir wachend überflogen wurde. Ich kann nicht sagen, dass ich litt. Aber der Schmetterling in mir wurde unruhig, je häufiger am Ende Land in Sicht war. Er flatterte wild in mir und beschleunigte meinen Herzschlag.
In dieser Zeit lernte ich Jenny kennen. Sie machte gerade ihren Realschulabschluss und erblickte am Horizont das gleiche Land wie ich. Wir begegneten uns zum ersten Mal auf einer Gartenparty. Natürlich bei Robby. Ich hatte es einfach nicht fertig gebracht, mit meinen alten Freunden zu brechen, vor allem in diesem einen Jahr nicht. Und im Grunde gab es auch keine Veranlassung dafür. Aber ich machte mich rar und hielt zu den meisten eine gewisse Distance, was jedoch nicht weiter auffiel. Selbst wenn ich einen Urlaubstag hatte, zog es mich selten zu Mark. Sahen wir uns, war es gut, wenn nicht, war es auch gut. Und das hatte nichts damit zu tun, dass seine Mutter mir keine Dienstuntauglichkeit bescheinigen konnte. Ich ging einfach meinen Weg, nur eben ohne die Türen hinter mir zu schließen.
Jenny war genauso hungrig auf Leben wie ich. Bei Robbys Gartenparty sprachen wir über Woodstock, Musik und Dichter, Diesseits- und Jenseitserfahrungen. Wir rauchten unseren ersten Joint und flogen auf das Dach eines Schuppens. Tanz unter Sternen und erste Küsse bei Kerzenschein. Wir waren die Kinder der Nacht und lebten unsere Lust aus.

„Pan? Wo bist du denn gerade?!“ Eine Stimme war auf der Suche nach mir.
Verständnislos sah ich der Stimme ins Gesicht: „Ja? Was?“
„Dein Bier wird ja schal!“, sagte die Stimme; es war Arni. Er prostete mir zu. Arni. Nach Arnold Schwarzenegger. Auch wenn Arni nicht wie Arnold aussah, aber er hatte nach Dienstschluss im Kraftraum immer Hanteln gestemmt, während die anderen sich nur Schwarzenegger-Filme ansahen.
„Ja, nee, ich muss erst mal was essen“, sagte ich. Es war kurz vor acht. „Ich geh vor, was bestellen. Bratkartoffeln mit Spiegelei oder so. Will noch jemand was?!“
„Der muss bestimmt wieder telefonieren“, meinte Munkel.
„Schon wieder?!“, fragte der Wessi.
„Ja“, lachte Munkel, „garantiert schon das sechste Mal!“
„He, Pan“, rief Skulle, „wenn du deine Mami angerufen hast, dann schick doch mal den Wirt her mit der Karte! Ich will ein Schnitzel. Und bestell gleich ´ne neue Runde!“
„Mach ich“, sagte ich.
Am Tresen war inzwischen jeder Barhocker besetzt. Ein Deckenventilator verquirlte die dicke Luft mit CCR-Songs und dem üblichen Stimmgewirr. Der Wirt hatte alle Hände voll zu tun. Ich teilte ihm trotzdem mit, dass wir was essen wollten. Und eben Bier trinken. Er nickte gestresst. Aus dem Billardzimmer kam heiseres Lachen.

Natürlich war bei Jenny immer noch besetzt. Ich legte auf und wählte noch mal. Besetzt. Immer nur besetzt. In mir stieg Wut hoch, gesellte sich zur Angst, dass etwas passiert sein könnte. Sie müsste doch schon seit ein paar Tagen zurück sein aus Frankreich. Sollte sie nicht auf ihren kleinen Bruder aufpassen, weil ihre Eltern selbst verreist waren? Ich ging aufs Klo und zog mir anschließend eine Schachtel Luckys aus dem Zigarettenautomaten. Skulle stand am Daddler und drückte mit verzögerter Reaktion die aufleuchtenden Knöpfe. Der Wessi stand daneben und versuchte ihn zu überzeugen, dass man da immer Miese mache. Ich dachte an den alten Zocker, der schon längst verschwunden war.
Am Stammtisch nahm der Wirt seine Bestellung auf.
„Pan, noch ein Frisches?“, fragte Arni und zeigte auf mein abgestandenes Bier. Ich überlegte kurz und entschied:
„Nein, ich ... ich nehme einen Tequila.“
„Tequila?“, fragte Arni ungläubig langsam und kniff die Augen zusammen. „Seit wann trinkst du so was?!“
„Na ja“, sagte ich, „nicht oft, aber jetzt ist mir irgendwie danach.“
Arni nickte und meinte dann grinsend: „Ok, dann probier ich das auch mal.“
„Und einmal Bratkartoffeln mit Ei!“, sagte ich zum Wirt, der nun keine Zeit mehr hatte, sich den Bart zu zwirbeln. Dafür schwitzte er noch mehr als am Nachmittag.
Ich riss das Zigarettenpäckchen auf und zündete mir mit einem herumliegenden Feuerzeug eine Lucky an.
„Ich fass es nicht!“, sagte Munkel, „Pan raucht wieder!“
Ich lächelte müde.
Zehn Minuten später standen zwei Branntweingläser mit Tequila vor uns auf einem kleinen Tablett. Obenauf eine halbe Zitronenscheibe, daneben ein Salzstreuer. Ich ließ ein wenig Salz auf die Daumenseite meiner linken Faust rieseln. Arni tat es mir nach. Die Jungs machten ihre Witze. Dann schleckten Arni und ich das Salz weg, bissen in die Zitrone und kippten den Tequila.
„Pah! Ist ja widerlich!“, meinte Arni und trank mit säuerlichem Gesicht schnell einen Schluck Bier nach. Ich musste lachen.
„Solltest mal Milch probieren, Arni!“, sagte einer. Am Nachbartisch ging ein Glas zu Bruch.
Irgendwie hatten nun alle Appetit auf Schnaps bekommen und orderten zumeist Weinbrand, als das Essen gebracht wurde. Ich blieb als einziger bei Tequila.
Mit Heißhunger verschlang ich nach drei weiteren Gläsern die Bratkartoffeln. Als ich fertiggegessen hatte, stand ich auf. Ich war angetrunken und unruhig.
„Hier, Munkel“, sagte ich und legte ihm einen 50,-Mark-Schein hin, „mach bitte meine Rechnung klar, ich hab noch was zu erledigen ...“
Munkel sah mich verwundert aus geröteten Augen an.
„Willst du schon gehen, Pan?“, fragte Arni.
„Ja, tut mir leid“, sagte ich, „ist was Wichtiges.“
Arni nickte. „Aber sei morgen früh pünktlich! Weißt ja: Um acht Uniformabgabe und so.“
„Ja, alles klar, macht´s gut, Jungs, bis morgen!“
Ich schnappte mir meine Zigaretten und ging nach draußen. Die Stadt erwachte im Dämmerlicht und brachte überall neues Leben hervor. Autos auf der Suche nach einem Parkplatz, ein Irrer auf der Suche nach dem Herrn ...
„Gott, wo hast du dich versteckt?!“, rief er und sah in einen Müllcontainer. Ich blieb stehen, wollte eine rauchen, fragte ihn, ob er Feuer habe. Doch er hielt mich für Satan, hob beschwörend eine Hand und sagte theatralisch: „Weiche zurück in deine Hölle, da hast du Feuer genug!“
„Gibt kein Höllenfeuer mehr, ist alles aus“, erwiderte ich, „ist alles ins Wasser gefallen.“ Verdrossen steckte ich die Luckys ein und lief wankend weiter, wobei ich mir einbildete, über eben dieses Wasser zu gehen.
In Straßencafés saßen Studenten und Künstler bei entspannten Gesprächen. Ich liebte diese verrückte Stadt. Manchmal erschien sie mir jedoch so groß, dass ich Platzangst bekommen konnte. Im Zwielicht sah ich einsame Seelen die Häuserzeilen entlangschlichen. Ich befand mich wie in einem Spiegelkabinett. Und ich sah Liebende, überall Liebende. Selbst im Bus. Ich stand ganz hinten und starrte aus dem Fenster, war zu unruhig, um mich zu setzen.

„Panowsky! Was machst du denn hier?!“
Ich sah in den Gang wie einer, der ohne Brille zu erkennen versucht. Vor mir stand Heiko, der Schleimer aus meiner Abiklasse. Ich hatte ihn schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen und ihn ehrlich gesagt auch nie vermisst.
„Oh ... äh ... hallo Heiko“, sagte ich und versuchte ein freundliches Gesicht hinzukriegen.
„Mensch, Panowsky, dass ich dich hier treffe! Hast du getrunken? Was machst du gerade so?!“, fragte er widerlich gut gelaunt.
„Och ...“, hauchte ich viel- oder nichtssagend.
„Studierst du? Oder bist du Zivi?“, hakte er unerbittlich nach.
„Ähm ... ja ... Zivi ...“, sagte ich umständlich langsam und wich Heikos Blick aus. Aber seine penetranten Fragen verfolgten mich:
„Dachte ich mir. Und? Wie isses? Muss ja auch nach dem Studium ...“
Er machte eine kleine Pause und erwartete offenbar, dass ich nach seinem Studium fragte. Aber den Gefallen tat ich ihm nicht. Dann sagte er:
„Na ja, wie ist es als Zivi ...?“
Ich überlegte. Dann sah ich ihn mit so einem christlichen Blick an: „Es macht mir einfach Freude, anderen zu helfen. Den hilflosen Alten, weißt du ...“
Heiko nickte ernst und voller Verständnis, sah dann aber ohne weiteres Interesse für meine aufopferungsvolle Tätigkeit auf seine Uhr.
Wäre ich nicht so betrunken gewesen, ich hätte große Lust gehabt, diesem Kerl ohne Rückgrat weiter die Taschen vollzuhauen, bis er umsinkt. Aber ich kam mir selbst charakterlos genug vor, da ich als einziger von der alten Garde den Weg zur Armee gegangen war. Heute sehe ich das gelassener, aber damals musste ich vielen als der letzte Spießer erschienen sein. Und die Blöße wollte ich mir vor Heiko nicht auch noch geben. Doch dieser oberflächlichste aller Menschen bohrte nun zu meinem Leidwesen doch noch weiter:
„Und wo arbeitest du da?“, fragte er.
„Im ... äh ... Krankenhaus ...“, sagte ich.
Er lächelte nachsichtig: „Und in welchem?“
Zum Glück fiel mir noch rechtzeitig der Name des Krankenhauses ein, in dem meine Großmutter verstorben war.
„Sankt Marien.“, brachte ich es mit Mühe heraus.
Heiko nickte und gab sich mit dieser Antwort zufrieden. Er sah durch das dunkle Fenster, als der Bus die nächste Haltestelle anfuhr.
„Ja, ich muss hier raus“, sagte er, „vielleicht sehen wir uns bald mal wieder.“
Hoffentlich nicht, dachte ich und sagte: „Ja, wär´ schön!“
Dann stieg er aus.

Als ich ankam, war die Nacht hereingebrochen und bat um Einlass in mein Herz. Sie umschlich es wie eine Schlange, auf der Suche nach einem Opfer. Ich musste mir ein Auge zuhalten, um die Namensschilder am Hauseingang lesen zu können. Hier war ich noch nie gewesen, ich kannte nur die Adresse, Jennys Adresse. Vorsichtig drückte ich die Klingel. Was, wenn sie nicht da ist? Mein Herz raste.
„Ja?!“, fragte mich die Sprechanlage. Es war Jenny! Ich konzentrierte mich darauf, nicht betrunken zu klingen:
„Ich bin´s, Pan“, sagte ich mit der gespielten Routine eines Postboten.
„Pan!“, wiederholte sie und schien zu überlegen. Die Sprechanlage brummte leise. „Komm rauf!“
„Sind deine Eltern da?“, wollte ich noch wissen.
„Nein“, war ihr kurze Antwort.
Jenny betätigte den Summer und ich drückte die Tür auf.
Gut, ich war betrunken, aber nicht betrunken genug, um zu überhören, dass irgendwas nicht stimmte. Ich musste mich festhalten, als ich die Treppen hochstieg, hatte das Gefühl, dass mich etwas wieder runterziehen wollte.
Jennys Empfang war also nicht gerade der, den ich mir wochenlang ausgemalt hatte. Ein hingehauchter Kuss und ausweichende Blicke. Ich ernüchterte in meiner Trunkenheit. Jenny öffnete mir im Flur die Schuhe, was mich beschämte; aber ich war dazu wohl nicht mehr in der Lage.
„Ich hatte dich immerzu angerufen, es war ständig besetzt ...“, sagte ich und hoffte, nicht allzu vorwurfsvoll zu klingen.
„Ich weiß.“, sagte Jenny mit entschuldigendem Unterton.
Was meint sie mit diesem „Ich weiß“, fragte ich mich. Plötzlich stand ihr kleiner Bruder vor mir, elf Jahre alt ungefähr.
„Hey“, sagte ich, um die Situation zu entspannen, „kleiner Bruder von Jenny, ich hab auch eine kleine Schwester. Ihr würdet zusammen ein gutes Paar abgeben ...!“
„Fick dich!“, zischte er und verschwand irgendwo.
„Mach endlich, dass du ins Bett kommst!“, rief ihm Jenny ärgerlich hinterher. Dann wandte sie sich wieder mir zu, fast liebevoll: „Vergiss ihn, er ist total verzogen.“
Wir gingen ins Wohnzimmer ihrer Eltern und schwiegen eine ganze Weile. Nur der Fernseher lief, ohne Ton. Eine Liebeskomödie wurde gezeigt, glaube ich. Was braucht´s da Worte! Ich setzte mich schwer in einen Sessel. Jenny setzte sich auf die Couch. Auf dem Tisch stand eine angebrochene Flasche Rotwein.
„Möchtest du ein Glas?“, fragte sie. Mir fiel Sokrates ein, der mit einem Giftbecher zum Selbstmord gezwungen wurde.
„Ja“, sagte ich.
Schweigend goss sie mir etwas in ihr Glas.
Dann fragte sie mich, ob ich eine Zigarette wolle. Ich wollte. Ich hätte alles genommen, was sie mir hingehalten hätte. Strohhalme oder Giftbecher, es war mir egal. Jenny zündete sich und mir eine Styvesant an.
Ich wusste genau, was los war, nahm die Zigarette und inhalierte so tief ich konnte. Comes together stand auf der Schachtel. Ich schmeckte die Bitterkeit dieser Ironie. Dann trank ich das Glas Wein in einem Zug leer und goss mir noch eines ein.
Mark hatte bei Robbys Gartenparty gesagt, ich solle mir nicht zu viel von Jenny erhoffen. Er habe das Gefühl, sie wolle sich nur Eintritt in neue Kreise verschaffen. Und sie sei noch so verdammt jung. Du spinnst, hatte ich ihm geantwortet. Und auch heute glaube ich nicht, dass er recht hatte. Nur mit einem: Jenny war noch so verdammt jung. Und damit meine ich nicht ihr Alter.

„Ich kann dir gar nicht in die Augen sehen ...“, flüsterte Jenny und sah mich an. Ich trank das zweite Glas Wein halb leer. Wir rauchten unsere Zigaretten zu Ende und schwiegen weiter. Nach einer Weile kam sie rüber und setzte sich auf meinen Schoß. Wahrscheinlich hätte ich mit ihr über alles geredet, wenn ich dazu noch in der Lage gewesen wäre. So blieb ich stumm und kämpfte gegen einen leichten Brechreiz an. Das Fernsehbild sah ich doppelt. Jenny brannte sich eine neue Zigarette an und glitt von meinem Schoß herunter. Sie saß mit dem Rücken zu mir zwischen meinen Beinen und sah fern. Ich streichelte leicht über ihr blauschwarzes Haar. Zu gerne hätte ich daran gerochen. Es war so kühl und seidig. Dann nickte ich ein paar Mal ab.
„Kann ich hier ein paar Stunden schlafen?“, fragte ich schließlich.
„Ja, natürlich“, sagte Jenny, „Macht es dir was aus, im Bett meiner Eltern zu schlafen?“
Es machte mir nichts aus. Ich wollte mich nur hinlegen, der Teppich wäre mir genauso recht gewesen.
Ich zündete mir noch eine Zigarette an und legte mich im Schlafzimmer ihrer Eltern auf ein altmodisch abgedecktes Ehebett. Jenny brachte mir eine Couchdecke und einen Aschenbecher. Dann nahm sie den Wecker:
„Wann musst du aufstehen?“
„Um ... äh ... acht, nein, um sechs!“, gab ich zur Antwort.
Jenny stellte den Wecker auf den Nachttisch und wartete so lange, bis ich aufgeraucht hatte. Sie fürchtete offenbar, die Wohnung könnte abbrennen. Ich drückte die Zigarette aus und gab ihr den Aschenbecher. Sie küsste mich auf die Wange, machte das Licht aus und ging raus. Wie ihr kleiner Bruder kam ich mir vor. Ich starrte in die Dunkelheit.

Noch bevor der Wecker klingelte, wachte ich mit Kopfschmerzen und üblem Geschmack im Mund auf. Ich hatte unruhig geschlafen und versuchte, mir bewusst zu machen, wo ich mich befand und was geschehen war. Die Sachen, die ich noch vom Vortag anhatte, beengten mich. Ich ging duschen und hörte Jenny in der Küche klappern. Ihr Bruder schlief noch.
Beim Frühstück fragte ich: „Willst du reden?“
Sie sah mich an: „Noch nicht.“
„Aber rede bitte, bevor es zu spät ist“, mahnte ich an. Ich wusste genau, dass es zu spät war. Jenny sah zu, wie ich mir ein Marmeladenbrötchen zurecht machte.
„Hast du ihn in Frankreich kennen gelernt?“, fragte ich unvermittelt ohne aufzusehen.
„Ja ... nein.“ Obwohl Jenny sicherlich schon tagelang dieses Gespräch vor Augen hatte, wusste sie nicht, wie sie es sagen sollte. Was zu sagen war, stand jedoch fest: „Ich ... es war mein Exfreund, er ist mitgefahren.“
Ich nickte und biss ohne Appetit in das Brötchen, kaute und schluckte.
„Wir sahen uns dort jeden Tag“, rechtfertigte sie sich, „und am Anfang habe mich noch dagegen gewehrt; denn ich musste immer an dich denken ... Ich war hin- und hergerissen ...“ Sie sah mich an mit diesem Bitte-versteh-mich-Blick und mir platzte fast der Kopf vor Schmerzen. Ich trank einen Schluck Kaffee und sagte:
„ ... aber du musst wissen, was du willst.“
Ich kam mir vor wie mein eigener Vater. Und sie war erst sechzehn. Mein Gott, sechzehn! Jeder Verliebte ist sechzehn. Nur der unglücklich Liebende nicht, der ist uralt.
„Hast du dich entschieden?“, fragte ich.
Jenny schlug ihre Augen nieder. Sie aß keinen Bissen und ihr Kaffee wurde kalt.
„Entscheide dich bitte rechtzeitig, sonst tu ich es“, sagte ich hart.
„Ich möchte dich nicht verlieren, Pan ...“, entgegnete sie mit schwacher Stimme.
„Entscheide dich!“, wiederholte ich und wusste, dass sie sich längst entschieden hatte.
„Ich rufe dich an, diese Woche, ja?!“ Sie gab ihren Worten etwas Zuversichtliches.
„In Ordnung“, sagte ich, „muss jetzt los.“

Ich zog im Flur schnell meine Schuhe an. Dann standen wir uns wieder stumm gegenüber. Jenny umarmte mich zum Abschied und öffnete die Tür. Ohne ein Wort ging ich die Treppen runter.
Nach den ersten Stufen rief sie meinen Namen: „Pan?!“
Ich drehte mich um und blieb stehen. Traurig lächelte sie mich an. Sie stand nur mit einem T-Shirt bekleidet da, unschuldig wie ein Kind, und wollte mir noch etwas Nettes sagen.
„Ja?“, fragte ich.
„Wie war es eigentlich in Tunesien?“
Ich lächelte zurück: „Es gibt dort jede Menge Schmetterlinge ...“ Jenny wusste, was ich meinte. „Und ich traf dieses süße Mädchen, eine Spanierin ... Sie sagte mir auf englisch, dass ich ihr gefalle ...“
„Und?“ Jenny sah mich neugierig an.
„Und ich sagte ihr, dass zu Hause meine große Liebe wartet.“
Ich blickte Jenny ein letztes Mal in die Augen. Ein allerletztes Mal. Dann ging ich zur Straße runter, zerrte die zerknautschte Lucky-Schachtel aus der Hosentasche und warf sie in hohem Bogen in ein Gebüsch.