Seiten

Sonntag, 20. Dezember 2015

158 | Foto mit Rahmen


Vorgestern entdeckte ich etwas Merkwürdiges: Als ich von der Holzmarktstraße kommend über die Michaelbrücke gehen wollte, fiel mir am S-Bahnviadukt ein kleines gerahmtes Bild auf.
Eine Schwarzweiß-Aufnahme aus den dreißiger, vierziger oder fünfziger Jahren, die einen Mann und eine Frau zeigt. Aber warum? Warum hängt das Bild dort? Und dann noch in so ungünstiger Höhe und ohne jeglichen Hinweis?
Nach Straßenkunst oder dem Werk eines Spaßvogels sah es nicht aus. Eher nach stillem Gedenken für zwei Mauertote, Unfallopfer oder Selbstmörder. Mir fielen die beiden Soldaten ein, welche in den letzten Kriegstagen von der Waffen-SS unter dem S-Bahnhof Friedrichstraße aufgeknüpft worden waren. Aber das hier? Keine Soldaten, nur sehr seltsam.
Auf der anderen Seite der Spree, zwei- oder dreihundert Meter weiter, entdeckte ich kurz darauf vor dem Zaun des Vattenfall-Heizkraftwerkes zwei Stolpersteine. Genau dort, wo vor 70 Jahren noch Wohnhäuser standen. Die Steine waren für Hans und Ilse Cohn angefertigt. Und ich stellte - trotz räumlicher Distanz - zwischen den Steinen und dem Mann und der Frau auf dem Brücken-Bild eine Verbindung her, welche es wahrscheinlich niemals gegeben hat: Könnte es sich bei dem Foto-Paar nicht vielleicht um die Cohns handeln? Als verlängerte visuelle Ergänzung der Stolpersteine sozusagen? Denn aus praktischen und rechtlichen Gründen ließ sich das gerahmte Foto wohl kaum an den Zaun kleben.
Dann besah ich mir die Steine genauer: Hans Cohn, Jahrgang 1885, wurde 1942 nach Riga deportiert. Er war der Vater von Ilse, die im selben Jahr wie Anne Frank geboren worden war, 1929. Und die Mutter? Was war mit ihr? Das Internet gibt Auskunft:
Hans stammte aus Halberstadt und hatte in die Berliner Familie Gombertz eingeheiratet. Zusammen lebte er mit seiner Frau Käthe (*1887), seiner Tochter Ilse, seinem Schwiegervater Karl (*1859), seiner Schwägerin Charlotte und deren wohl unehelichen Sohn Gerhard in der Michaelkirchstraße 27 unter einem Dach. Bis die Cohns am 25. Januar 1942 nach Riga deportiert und dort im Ghetto ermordet wurden. Da war Tochter Ilse gerade mal dreizehn. Im selben Jahr starb ihr Großvater Karl mit dreiundachtzig. Cousin Gerhard kam 1944 als Illegaler in Berlin um, seine Mutter - Tante Charlotte - war die einzige aus der Familie, die den Holocaust überlebte.
Doch die Angaben der Stolperstein-Seite (http://www.stolpersteine-berlin.de/de/biografie/102) sind fehlerhaft. Da wird Charlotte auch als Gerhards Tante bezeichnet und der seit einem Jahr tote Hans Cohn soll 1943 noch zusammen mit seiner Schwägerin untergetaucht sein. Das hätten er und Charlotte Frau Tietze zu verdanken, die ein Seifengeschäft im Wohnhaus unterhielt. Bereits vorher hatte Frau Tietze die Cohns und Gombertz´ mit Lebensmitteln versorgt und sie vor Verhaftungen gewarnt. Und wenn es stimmt, hatte sie Hans auch in ihrer Fredersdorfer Laube versteckt. Bevor er mit Charlotte bei Frau Katein, einer Putzfrau aus Treptow, Unterschlupf fand.
Gern würde ich mir von ihnen Fotos anschauen. Aber da ist nur das eine, das viel zu hoch gehängte Bild vom S-Bahnviadukt, das zwei unbekannte Menschen zeigt. Wohl nicht die Cohns und nicht die Tietzes. Und was das Bild zu erzählen hätte, behält es für sich. Aber der Mann und die Frau darauf sehen glücklich aus. Wenn man nur nahe genug an sie herankommt.

Sonntag, 25. Oktober 2015

157 | Pow-Wow in Klasdorf


Gestern lud der Indian Summer noch einmal zum Pow-Wow in Brandenburgs Natur. Mich Großstadtkrieger zog es zuerst zum Wildpark Johannesmühle ins Baruther Urstromtal, wo es Pferde, Wölfe, freilaufende Hirsche und eingezäunte Büffel gibt.
Zoos stehe ich eigentlich skeptisch gegenüber, aber dass hier den Löwen und Bären vom liquidierten Staatszirkus der DDR Asyl geboten wurde, gefällt mir.
Auf dem über 100 Hektar großen Areal sind noch Reste des Kellergewölbes einer 1730 gebauten Wassermühle, der Johannesmühle, zu sehen. Auf deren Fundamenten errichtete man später ein Forsthaus, das in DDR-Tagen zum „Sonderjagdgebiet des Oberkommandierenden der Sowjetischen Streikräfte in Deutschland“ gehörte. Bis das Haus 1972 - zu Gunsten einer Wochenenddatsche und wechselnden Oberbefehlshabern - abgerissen wurde. Erst 1994, nach Abzug der Russen, konnte aus dem roten Jagdgebiet ein privat geführter familienfreundlicher Park werden.
Trotzdem kann man im angrenzenden "Kastaniengarten" oder "Waldschlösschen" erlegte Rehe, Hirsche oder Wildschweine essen, was mir nach einer großen Runde unter Kiefern und Ahorn gerade recht kam.
Zum Verdauungsspaziergang fuhr ich ins benachbarte Museumsdorf Glashütte, wo ich mir sanierte Fachwerkhäuser, einen historischen Backofen, einen auf eigene Gefahr zu betretenden Erdkeller und natürlich einen Glasbläser bei der Arbeit anschaute.
Glücklicherweise waren alle Busse mit Tagesgästen, die in den Kunstgewerbeläden oder im „Alten Dorfkonsum“ immer auch nach ihrer Vergangenheit suchen, bereits abgefahren. So konnte ich mir - nur von zwei Katzenjunge umlagert - im Reuner´schen Biergarten noch einen Glühwein gegen die aufkommende Kälte gönnen, bevor es auch mich heimwärts zog.

Sonntag, 11. Oktober 2015

156 | Heimat


Wegen einer zeitgemäßen Erkältung war ich gestern ein wenig kurzatmig in Brandenburgs Natur unterwegs. Am Himmel kein Wölkchen, auf der Erde nur Sonnenschein. Und der kühle Nachmittag hielt seinen Atem an, um die Deko-Wirkung der Landschaft als Stillleben zu präsentieren.
Ich spürte es ganz deutlich: Da war die letzte Ruhe vor dem nassgrauen Herbstwinter, der sich bis in den März hinein zieht. Also noch einmal farbsatte Eindrücke tanken inmitten durch- und beleuchteter Blätter, Moosgrün, roter Beeren und bunter Pilze.
Dabei erhabene Gedichtfragmente im verschnupften Hirn: von Holderlin („Ihr holden Schwäne ... Ins heilignüchterne Wasser“) bis Rilke („Befiehl den letzten Früchten voll zu sein“). Und immer wieder die innere Rückschau und Positionierung.

Dann die Heimkehr: Das Putzen letzter Maronen und Steinpilze, ein Thymianbad für die Bronchien und ein paar Seiten de Bruyn fürs Gemüt.
Schließlich die Zubereitung der Pilzpfanne, dieses abenteuerlich schlichten Kindheitsessens - mit Zwiebel- und Schinkenwürfeln, Pfeffer, Salz und Petersilie. Essen für Leib und Seele. Denn wo der Duft davon eine Küche erfüllt, wird man nicht nur satt - da ist immer auch Heimat.

Sonntag, 27. September 2015

155 | In den Pilzen II


Gestern war ich im Fläming erneut in den Pilzen. Aber diesmal erfolgreicher: viele Maronen, ein paar perfekte Steinpilze, einige Pfifferlinge.
Von fetter gewordenen Kreuzspinnen abgesehen sah ich zwar keine Tiere, dafür konnte ich bei herrlichem Altweibersommerwetter die meditative Ruhe des Forstes bestens genießen.
Früher war für mich der Herbst nichts weiter als die Vorstufe des Winters, war leises Abschiednehmen vom Jahr und aufgezwungene Wehmut. Mittlerweile ist mir die Erntezeit zum verlässlich stillen Freund geworden, mit dem man spazieren gehen kann oder Schach spielen. Bücher, die ich im Herbst lese, dürfen längere Sätze enthalten und von verstorbenen Schriftstellern wie Fontane stammen. Oder von langlebigen wie Günter de Bruyn.
Während der Autofahrten durch Alleen fallender Blätter und Kastanien höre ich im Herbst häufiger Klassikradio. Und denke länger über dies und jenes nach, über 25 Jahre deutsche Wiedervereinigung zum Beispiel. Damals war ich Wehrdienstleistender in zwei Armeen. Eingezogen im September ´90 diente ich einen Monat lang der im Auflösen begriffenen NVA, anschließend elf Monate der Bundeswehr. Verrückte Tage waren das, zäh und schnelllebig zugleich.
Wenn ich im Sommer in Berlin Mauerführungen für Oberschüler mache und als Zeitzeuge Wendeereignisse schildere, hören mir die Sechzehn- bis Achtzehnjährigen genau zu. Weil ich damals so alt war wie sie wahrscheinlich. Und weil sie sich wie beim Lesen eines Romans, der nicht bloß unterhalten will, an existentielle Fragen herangeführt sehen: Wie hätte ich mich vor dem Mauerfall verhalten? Wie verhalte ich mich 26 Jahre danach?
Ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Wiedervereinigung ziehen Freiheit und staatlicher Wohlstand hunderttausende Flüchtlinge an. Für das Land stellen sie eine Herausforderung und eine Chance dar. Doch sie schüren - wie so oft in der Geschichte - auch Ängste. Vor allem, dass sich die erhoffte kulturelle und wirtschaftliche Bereicherung eines Tages als grundlegende gesellschaftliche Veränderung entpuppt. Michel Houellebecq hat in „Unterwerfung“ darüber geschrieben. Wie man mit diesen Ängsten umgeht, ob man sie abtut oder scharf macht, und wie bereit die Deutschen sein werden, ihren demokratischen Wertekanon zu verteidigen, sind Fragen, die mich in diesem Herbst zunehmend beschäftigen. Ich möchte meinen Atheismus nämlich nicht ständig rechtfertigen müssen. Und ich möchte doch auch nicht für einen Ungläubigen gehalten werden. Schließlich glaube ich an grundlegende Werte wie Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung. Oder eben an die Freiheit des Glaubens.
Im Grundgesetz werden mir diese Werte garantiert, was das Grundgesetz zu einem Wert an sich macht, zu einem Buch der Bücher sozusagen. Und jeder, der bereit ist, nach diesen fundamentalen Werten zu leben, ist mir in Deutschland - auch längerfristig - aufs Höchste willkommen.

Sonntag, 13. September 2015

154 | In den Pilzen


Jetzt am Wochenende gab es die vielleicht letzten Spätsommertage in Brandenburg. Zuerst wollte ich angeln gehen. Aber dann reizte mich die Aussicht auf einen vollen Pilzkorb mehr, die Vorstellung, lange durch Brandenburgs Wälder zu streifen. Und da trotz mäßig ausgefallener Niederschläge im Fläming bereits Steinpilze gefunden worden sind, fuhr ich von Berlin aus hin.
Und fand Pilze. Aber fast nur Täublinge, die ich nicht sammle. Was sich nach einigen Stunden in meinem Korb zeigte, waren: drei Maronen, ein Goldröhrling und ein mittelgroßer Steinpilz. Mehr nicht. Doch weil die zum Trocknen vorgesehene Dürftigkeit von zahllosen Flöhchen umsprungen wurde, die offenbar im Steinpilz hausten, entschied ich mich, meine magere Ausbeute im Wald zu belassen.
Ein wenig enttäuscht war ich schon. Aber jeder noch so pilzlose Kiefernforst auf märkischem Boden enthält noch genug ausgleichendes Glücks-Potential: der würzige Waldgeruch, der Spaziergang an sich, das Einsein mit der Welt, das Versöhntsein mit dem Leben.
Ich ging an sonnenbeschienenen Stellen voller Moos und Heidekraut vorüber, entdeckte einen Tierbau und Wühlspuren von Wildschweinen. Ich beobachtete prächtige Kreuzspinnen in ihren aufgespannten Netzen, sah einen neben mir aufspringenden, flüchtenden Rehbock und die Reste einer gerissenen Taube (die letztlich doch nicht so gerissen war).
Vor dem Skatehotel von Petkus gönnte ich mir eine Freiluftmahlzeit und musterte beim Bier die übrigen Gäste, die mit Inlinern an den Füßen und Tabletts in den Händen draußen zu ihren Tischen staksten.
Das Leben kann schön sein, dachte ich. Wenn man entschleunigt und tatsächlich weiß, dass weniger mehr ist: Einfach nur dazusitzen beispielsweise. Oder den leeren Pilzkorb als Sinnbild zu betrachten.
Dabei fielen mir wieder die tausenden Nachrichten-Flüchtlinge ein, für die solche Verzichtsgedanken der reinste Luxus sein müssen. Und mir kam ein Lied von Hans-Eckardt Wenzel in den Sinn, das ich seit den 80ern höre und worin es heißt: „Alles, was ich hab, verteil ich, so erfinde ich mein Glück. Meine Narrenfreiheit freilich ist ein lächerliches Stück.“ Ich sang die Stelle oft genug mit, genau wie „Freedom´s just another word for nothin´ left to lose.“ von Janis Joplin. Für Leute, die sich danach sehnen, manches zwanglos aufzugeben und zurückzulassen, mag so ein Vers befreiend klingen, für die vertriebenen Syrer wohl nur zynisch. Freiheit ist schon ein sehr zweischneidiges Wort.
Nun ist es nicht so, dass ich wie das lyrische Ich im Wenzel-Song handeln würde. Denn auch ein Hans im Glück sollte immer noch etwas in petto haben. Doch zu teilen und denen zu helfen, die sich nicht selbst helfen können, ist auch für mich selbstverständlich. Helfen mit Spenden, Zeit und Zutun. Am Ende nämlich - und unabhängig von Religion und Politik - steht immer nur ein Mensch vor dem anderen. Und man muss nicht einmal etwas aus der Geschichte gelernt haben, um zu wissen, wie man seinem Herzen folgt.

Sonntag, 16. August 2015

153 | Laissez-faire


Sommer in Brandenburg. Ausschlafen, bis ich vom Tellerklappern eines nahe gelegenen Campingplatzes geweckt werde, mir eine Tasse Kaffee aufbrühe, ein wenig schreibe, mir eine zweite Tasse mache, frühstücke und barfuß runter zum See gehe.
Vom Steg aus blinkere ich nach Barschen, beobachte das ferne Treiben an einer Badestelle, einen distanzierten Haubentaucher und eine Ralle. Dann ein Biss mit geringem Widerstand. Der rangekurbelte, herausgehobene Bursche hat seine Stacheln aufgestellt und sieht prächtig aus, ist aber zu klein für eine Mahlzeit und wird vorsichtig ins flaschengrüne Wasser zurückgesetzt. Daraufhin beißt außer der Sonne nichts mehr. Die Haut beginnt zu spannen, Schweiß den Rücken runterzulaufen. Kurzentschlossen lege ich die Rute hin und springe in den See, als wollte ich nachsehen, wo die Fische bleiben. Aber ich will rüber zu den Sandbänken des nördlichen Ufers. Will einmal mehr feststellen, dass es im Sommer fast nichts Schöneres gibt, als durch einen See zu schwimmen, seinen Körper zu spüren, sich frei zu fühlen. Allein und doch nicht allein. Von blauen Libellen, trägen Wolken und sich auflösenden Erinnerungen begleitet.
Wieder zurück werfe ich den Blinker noch etliche Male aus und fange weitere, wenn auch ebenfalls untermaßige Räuber, um sie allesamt zu begnadigen. Dann gehe ich wie Hans im Glück nach Hause, gönne mir im schattigen Garten die Hemingway-Biografie und reichlich Wassermelone.
Was für ein Leben: Keine Verpflichtungen, kein Zeitdruck, kein Handy. Genau wie früher.

Mittwoch, 12. August 2015

152 | Lieblingsorte II


Heute mal wieder bei Dussmann gewesen. Vom S-Bahnhof Friedrichstraße kommend wie immer nicht durch den Haupteingang, sondern durchs Nebentürchen in der Dorotheenstraße geschlüpft.
Dort geht es nämlich ruhiger zu und ich als Biografien-Junkie stehe gleich vor dem richtigen Regal.
Nach den drei Kafka-Bänden von Reiner Stach war heute etwas Kurzweiliges dran: „Hemingway“ von Thomas Fuchs.
Nachdem ich bezahlt hatte, schlenderte ich noch herum. Wobei ich den 2. Stock wegen Umbaumaßnahmen aussparen musste. Bevor ich ging, kehrte ich zur Biografie-Ecke ins Erdgeschoss zurück. Dort ist meistens so wenig los, dass ich mir wie in der Heimatstube eines sommerlichen Ostseebades vorkomme. Während gleichsam alles am Strand liegt und Krimis schmökert, betrachte ich Coverbilder von A-, B- und C-Prominenten. (Gesichter und Posen verraten ja so viel!) Manchmal nehme ich auch im Ledersessel am Nebentürchen Platz und lese ein, zwei Bücher an. Weil darin immer steht, was das Titelbild verschweigt.

151 | Lieblingsorte


Gestern Abend war ich an einem meiner Berliner Lieblingsorte: an der Strandbar des Monbijou-Parks. Saß am Spreeufer vor der Bodemuseum-Kulisse, schlürfte Caipi, hörte Salsa und beobachtete die Tänzer.
Auf der ebenerdigen Bühne war ordentlich was los: Alte und Junge, Heteros und Schwule, Herausgeputzte und Alltagstaugliche führten unter anderem Cha Cha vor. Oder er sie. Die Musik, das Wetter, Palmen und Lichterketten verbreiteten Urlaubsstimmung und Berlin spielte seinen Charme aus.
Oben an der Bar neben dem Monbijou-Theater herrschte ebenfalls Hochbetrieb. Aber hier macht oft sogar das Anstehen Spaß. Weil es schnell geht und genug zu sehen gibt: lässig arbeitende Barkeeper und ungezwungen wartende Gäste.
Ein kleiner Abendspaziergang durch den Park, schon ist man da. Selbst wenn man nicht tanzt und allein kommt, besteht keine Gefahr, in melancholisches Grübeln zu verfallen. Denn das Flirt-Potential ist groß und die Lebensfreude lässt sich gut mit nach Hause nehmen.

Mittwoch, 5. August 2015

150 | Dinge IV


Der Ring


Vor anderthalb Jahren verstarb meine Lebensgefährtin. Seitdem trug ich einen silbernen Ring mit ihrem Fingerabdruck. Er tröstete mich, gab mir Halt, ließ sie bei mir sein. Wie ein Ehering sah er aus. Ja, sah. Denn vorhin, als ich am felsigen Strand ins Meer stakste, riss eine Welle mich um und mir den Ring vom Finger.
Mein erster Gedanke: Oh nein! Mein zweiter: Ich muss ihn finden! Trotz der Brandung und des Gerölls. Und während ich mehr oder weniger haltlos zu suchen begann und auf ein blinkendes Wunder hoffte, kam mir der dritte Gedanke: Was, wenn sie es war, die mir den Ring nahm? Um mich freizugeben. Weil sie ihren Platz in meinem Herzen ohnehin sicher weiß. Sie, meine Liebe, mein Engel. Möglicherweise wollte sie mich vor dem Dilemma bewahren, den Ring eines Tages abzulegen, ohne es wirklich zu können. Zuzutrauen wäre es ihr. Sie war ja so pragmatisch in vielem. Sie war überhaupt so vieles. Und so vieles mehr.
Dann tauchte ein weiterer Gedanke auf: Vielleicht will sie mich testen. Will sehen, wie ausdauernd ich den Ring suche. Und das tat ich, keine Frage. Und während die Wellen hin und her wogten, dachte ich mit angeschwemmtem Pathos: Das Meer gibt, das Meer nimmt. Genau wie das Leben.
Etwas später wollte ich nach dem erfolglosen Unterfangen wenigstens Ersatz mitnehmen: einen Stein. Nur welchen? Der ganze Strand ist voller Steine! Da verließ ich mich auf meine Intuition (mehr hat man im Zweifel ja nicht) und entschied mich für diesen hier:
Noch etwas später kehrte ich erneut zum Strand zurück. Das war ich mir schuldig. Und ihr sicher auch.
Während ich über den nackten Ringfinger strich, fühlte ich wieder die Lücke, die sie hinterlassen hatte. Aber mich tröstete ein vorerst letzter Gedanke: Jenes Bild, wie das von ihr so geliebte Meer sich den Ring holt und in sich verschließt, hätte ihr gefallen. Genau wie die Slapstick-Nummer, als das Meer mir vorhin die Füße wegriss. Und mich doch wieder aufstehen ließ.

Sonntag, 2. August 2015

149 | Kreta


Aber es hätte auch Mallorca sein können. Oder Malta. Im Hochsommer nicht die idealsten Ziele, doch ich will nicht klagen. Also Kreta. Das Mittelmeer ist klarer und wärmer, als ich es in Erinnerung hatte. 1992 war ich schon einmal hier, am Hippie-Strand von Mátala. Bin mit dem Mofa rumgefahren, habe mir eine Schlucht, eine Höhle und das Kloster von Arkadi angesehen. War auf der Suche nach Ursprünglichkeit und mir selbst. Heute reicht es mir innezuhalten, im Schatten zu lesen, unter der Ikarus-Sonne zu schwimmen und auf kühlenden Wind am Abend zu hoffen. Das Alter eben.
Von der Eurokrise ist auf Kreta kaum etwas zu spüren. Nur dass die Urlauber nicht mehr so in Scharen kommen, wie mir ein Supermarktverkäufer bestätigte. Für die Kreter tut es mir leid, für mich als Touristen nicht. Und wenn ich vor Sonnenuntergang am halbwegs menschenleeren, felsigen Strand spazieren gehe, habe ich das Gefühl, die Insel wäre schon mit ganz anderen Sorgen fertig geworden.
Ich schaue raus aufs Meer und denke für einen winzigen Moment an die Bootsflüchtlinge, an die lebenden und an die toten, und daran, wie gut es mir im Grunde geht: Der letzte Winter ist vergessen und der Alltag fern. Mein Körper entsinnt sich an das Kreta-Feeling vor 23 Jahren und das Meer brandet gegen das Zikadengezirpe an.
Abends, wenn die ersten Sternschnuppen fallen und sich ein aufgeblasener Honigmond der Handy-Kamera verweigert, weht mich von irgendwoher ein sentimentales Lied an. Doch ich will mich nicht der Melancholie hingeben, dieser Femme fatale des Herzens; dafür ist mir der Urlaub zu kostbar. Gleich nach dem Lied ist auch Schluss damit. Spätestens morgen.

Montag, 20. Juli 2015

148 | Dinge III


Garderobenmarke 1/187

Etwa dort, wo das Berliner Stadtschloss als Humboldtforum wiederaufgebaut wird, stand bis 2008 der Palast der Republik. Bekannt auch als Erichs Lampenladen. Dass er abgerissen wurde, war mir damals relativ egal. Uns verbanden schließlich nicht viele Erinnerungen, oder?
Als Kind besuchte ich einmal eine Veranstaltung im Großen Saal. Und im Hauptfoyer sah ich von der Galerie aus einer Band zu. Beides hatte wohl mit schulischen Pflichtveranstaltungen zu tun, sonst wäre bei mir sicher mehr hängen geblieben. Wie mein Staunen, als ich Anfang ´89 das einzige Mal im Jugendtreff, der Palastdisco, war, wo es eine rotierende Tanzfläche gab und wo zu den Popsongs Musikvideos gezeigt wurden. Letzteres kannte ich bisher nur aus dem Fernsehen, von Formel Eins und Ronnys Pop-Show. Aber nun konnte ich mir den Lullaby-Clip von The Cure sogar beim Tanzen anschauen.
So viel Fortschritt war für Ost-Berlin natürlich nicht selbstverständlich. Und nachdem ich im Sommer desselben Jahres mit Freunden in Budapest war, wusste ich, was in einer sozialistischen Hauptstadt auch möglich ist: Straßenkünstler, Straßenmusiker, West-Schallplatten und McDonald´s. Dagegen wurden auf dem Alexanderplatz nach Ladenschluss bloß die Bürgersteige hochgeklappt.
Um so mehr erinnere ich mich an jenen Spätsommerabend ´89, als ein Freund vorschlug, zum Palast zu gehen, lecker zu essen und Exportbier zu trinken. Ich war skeptisch. Denn entweder würde es teuer oder wir müssten anstehen. Doch wir hatten Glück, bekamen gleich zwei Plätze zugewiesen und bestellten „Braumeister-Steak“ (Cordon bleu) mit Erbsen und Pommes, dazu Radeberger vom Fass. Das Ganze, da staatlich subventioniert, keine zehn Mark pro Person.
Als wir beim zweiten oder dritten Bier waren, begann eine Combo mit Glitzeranzügen ihr Schlagerprogramm, was auf uns siebzehnjährige Punk-Spezialisten derart komisch wirkte, dass wir uns vor Lachen kaum einkriegten. Vor allem nicht, als wir sahen, wie die zumeist älteren Gäste lostanzten.
Einen Monat später zog ich im Wendeherbst mit Freunden und Tausenden Berlinern am Palast und der sich darin befindlichen Volkskammer vorbei. Mit brennenden Kerzen bewaffnet ging es zum Staatsratsgebäude hinüber. Und dann, als die Zeichen auf Wiedervereinigung standen, war ich ein letztes Mal im Palast. Zu einem Konzert, glaube ich. Beim Rausgehen klaute ich eine der unzähligen roten Alu-Garderobenmarken, die dort hingen. Aus Übermut und wohl zur Erinnerung. 1/187 stand zufällig darauf, sauber aus dem Rot herausgefräst. Noch heute ziert dieser Bruch, diese Ordnungs-Chiffre meine Marke, die ihren Sinn längst verloren hat. Doch - und das ist das Seltsame - sie fasst sich nicht anders an als vor fünfundzwanzig Jahren, während der dazugehörige Garderobenbereich samt Renommier-Gebäude verschwunden ist.

Samstag, 18. Juli 2015

147 | Ein- und Ausblick



Nach dem Abendessen wurden im Saal die ersten Reden gehalten. Aber das Brautpaar schlich unbemerkt ins Freie. Es sog die kühle Luft ein und beobachtete durch eines der Fenster seine Gäste.
„Wie Fische im Aquarium“, sagte die Braut.
Der Bräutigam nickte. „So lass uns verschwinden. Nur du und ich. Zurück zur Quelle, wo wir bleiben bis ans Ende unserer Tage.“
Sie schaute ihn lange an. Dann nahm sie seine Hand und führte ihn zurück in den Saal.
Von innen sehen die Fenster wie schwarze Spiegel aus, dachte der Bräutigam und wandte seinen Blick ab.

Mittwoch, 15. Juli 2015

146 | Kindheit



Heute zog ich mal wieder zum Haus meiner Kindheit, wo ich behütet aufwuchs und ausgiebig träumte. Mit dem Smartphone bewaffnet stand ich als Dornröschenprinz 2.0 vor verschlossenem Tor und mit Ranken überwucherter Fassade. Ein Blick auf das Klingelschild: lauter fremde Namen. Ein Blick durch die Türglasscheibe: der vertraute Anblick eines irgendwie geschrumpften Flures. Aber kein Dornröschen darin, und auch sonst wenig Märchenhaftes. Denn das ist Berlin und alles bleibt anders, genau wie man selbst.
Dass die jüdische Familie Fingerhut, die vor meinen ausgebombten Großeltern im ersten Stock zur Miete wohnte, noch immer keinen Stolperstein erhalten hat, fand ich bedauerlich. Sieben Jahre ehe meine Mutter in ihrer Wohnung geboren wurde, hat man sie deportiert. Vater, Mutter und zwei Kinder. Ermordet und ausradiert. Was waren das für Leute? Wie sahen sie aus und wann hörte man auf, sich an sie zu erinnern?
Was wurde aus den anderen Geschichten dieser Straße? Verweht und weggeschwemmt wie die Menschen. Für neue Zeiten, neue Menschen und neue Geschichten. Meine werde ich bewahren.

Samstag, 11. Juli 2015

145 | Dinge II


Steine
Bei Steinen ist es wie bei allem: Man hebt sie auf, weil sie so oder so von Wert sind. Diesen hier brachte ich im März ´93 aus Italien mit. Als Briefbeschwerer. Aber Briefe werden keine mehr geschrieben, und so fristet der Stein bei mir seit Jahren ein Schubladendasein.
Ich fand ihn im einst lieblichen Verona, im Durchgang zur Casa di Giulietta, wo er sich aus dem Holperweg herausgelöst hatte. Was mich wunderte, da jedes Jahr 2 Millionen Besucher kommen, um den nachträglich angebauten Balkon Julias zu sehen - und das Pflaster dadurch festtreten. Aber gut, da lag also der faustgroße Stein und da ich gerade verliebt war, besaß ich genügend Romantik, um mir einzureden, dass bereits die junge Capulet ihr holdes Füßchen darauf gesetzt hatte. Und so nahm ich meinen Fund als eine Art reliquia d‘amore kurzerhand mit. Der Stein sollte mir Glück bringen; was er auch tat. Am Anfang zumindest.
Die beiden anderen Steine machen optisch mehr her. Wegen der aufgesprühten Farbe. Wie man auf dem Foto unschwer erkennen kann, handelt es sich um Mauersteine. Wobei ich den „Original-Mauer-Stein“, welchen ich 1990 geschenkt bekam, für ein Original-Fake halte. Der davor liegende blaue Brocken ist aber echt. Den habe ich im November ´89 eigenhändig aus der Berliner Mauer gehämmert. Achtzehn war ich da. Genau richtig, um sich ohne Resignation eine deutsch-deutsche Meinung zu bilden. Und um mit der Westberliner Oma auf die Grenzöffnung anzustoßen. Nur mit dem Opa ging das nicht mehr. Der verstarb am Morgen des 9. November 1989. Einige tragische Stunden zu früh. Wer kann das eine oder andere Ende auch ahnen?

Mittwoch, 8. Juli 2015

144 | Dinge


Welche Bedeutung Dinge im Allgemeinen oder Besonderen haben, mag jeder für sich selbst entscheiden. Da gibt es zwischen „sammeln“ und „entsorgen“ wohl die unterschiedlichsten Strategien und Prioritätensetzungen. Ich bekomme beides hin, aufheben und wegschmeißen, weil ich letzteres als wohltuend und ersteres als tröstlich empfinde. Gut erhaltene Gegenstände machen mich eben glauben, Zeit sei tatsächlich relativ. Und da persönliche Dingen immer auch Träger von persönlichen Erinnerungen sind, möchte ich einige von mir hier sporadisch bekannt machen.
Das „Smokie-is-the-best“-Portmonee

Ich muss es von irgendjemandem aus der Verwandtschaft 1979 geschenkt bekommen haben, am Ende der 1. oder am Anfang der 2. Klasse. Damals stand ich nicht nur auf Smokie, sondern auch auf Boney M. Zumindest hatte ich mir auf einem Polen-Markt einen Gürtel mit Bilder-Schnalle der Frank-Farian-Truppe gekauft.
Die Musik beider Bands wurde Mitte/Ende der 70er im Radio rauf und runter gespielt. Und das wird sie auch noch heute. Zwar bin ich seit meinem 16. Lebensjahr musikalisch vor allem den 60ern treu. Doch wenn ich allein im Auto sitze und „It´s Your Life“ oder „Lay Back in the Arms of Someone“ gespielt wird, schalte ich die Lautstärke hoch und singe mit. Hört ja keiner. Wird auch nie jemand erfahren.
Ins Innere der Brieftasche hatte ich übrigens „Smokie for ever!“ geschrieben. Als hätte ich es geahnt.
Die „Euro-Hitparade“-Kassette

Wäre nicht dieses Siebziger-Disco-Design und steckte keine Audiokassette dahinter, könnte man den Titel mit dem Eurovision Song Contest assoziieren. Oder mit Ländern, welche die Eurozone verlassen wollen. Dabei stammen die Songs wie - Achtung! - „It´s Your Life“ aus einer Zeit, die mit €urokrise und Grexit nichts anfangen konnte. Zwar sind alle englischsprachigen Lieder darauf gecovert, doch das überhört man. Oder ich überhöre es. Weil die einstige Kassette meiner Eltern früher so oft lief, dass alles so klingt, wie es klingen muss. Für mich ist die MC von 1977 ein Stück heile Kindheit: Es war das letzte Jahr, dass mein Vater bei uns wohnte. Es wurde gelacht, gefeiert und getanzt. Wie bei den Griechen nach ihrer Volksabstimmung. Als gäbe es keine Krise und kein Morgen.

Sonntag, 5. Juli 2015

143 | Sommer



Nach kleineren Anbadegelegenheiten endlich wieder in Brandenburger Seen schwimmen: Zu Herzen gebogene Libellen poppen auf der Wasseroberfläche, silbrigweiße Fischchen springen vor Glück in die Höhe. Nackt sein, den Körper spüren, atmen, hinüberschwimmen und zurück. Erinnerungen und Gefühle so alt wie die Landschaft.
Dann, im Schatten des Ufers, eine Wassermelone anschneiden und ein längst überfälliges Buch. Ameisen und Käfer beobachten. Einen Raubvogel beim Fischfang. Fernes Plätschern, Girren und Lachen. 
Abends eiskalter Weißwein, Kerzenlicht und lange Gespräche. Auf Balkonen, vor Häusern oder Zelten. Nachts Wetterleuchten wie göttliche Grüße, schließlich Donner, Wind und Regen, wobei die Abkühlung ausbleibt. Dafür anderntags wieder zum See: Mit offenen Augen ins algengrüne Licht abtauchen, zu den Luftblasengeräuschen und zu Kopf steigenden Herzschlägen. Gedanken an die, die das nicht mehr können. Ihnen meine Bewegungen widmen, meinen Atem. Bis er verbraucht ist und mich nach oben zwingt. In den Tag, den Sommer, das Leben. In die Verlängerung all dessen, was einmal ewig währte.

Montag, 22. Juni 2015

142 | Gutes Essen, gute Bücher



Wenn ich nach meiner Lieblingsfarbe oder meinem Lieblingsessen gefragt werde, habe ich selten eine schnelle Antwort zur Hand. Höchstens, wenn ich meine Ruhe haben möchte. Schwarz sage ich dann, obwohl eigentlich keine Farbe, Blau oder Rot. Je nach Lust und Laune. Und beim Essen? Sushi. Überhaupt Fisch. Und Meeresfrüchte, Steaks, weißer Spargel, Wassermelone. Aber auch Hühnersuppe, Rinderroulade oder Grüne-Bohnen-Eintopf. Mal asiatisch, mal italienisch, manchmal deutsch. Egal, ob gegrillt, gekocht oder gebraten, Hauptsache, gut gemacht.
Beim Lesen bevorzuge ich überwiegend Klassiker. Vor allem deutsche, russische und US-amerikanische. Mit einigen bin ich inzwischen vertraut (auf den Geschmack gekommen), andere liebe ich.
Es gab Zeiten, da habe ich Heine, Hesse, Hamsun und Thomas Wolfe verschlungen, Dostojewskij und Hemingway. Und es gibt Schriftsteller wie Thomas Mann, die meisterhaft schreiben, mich aber nicht wirklich berühren. Alles eben eine Frage des Geschmacks.
Statt wohldurchdachter, oft bürgerlich anmutender Lang-Sätze mag ich das treffend Kurze, Salopp-Freche oder berührend Ungewöhnliche. Ich will mit eigenen Erfahrungen vergleichen und in Erstaunen gesetzt werden. Keine Buddenbrook-Wohnzimmer oder Elfenbein-Türme à la Tellkamp, sondern Holzhütten (Thoreau) und Absteigen (Bukowski). Oder Autos wie in „On the road“.
Ich mag das Authentische bei Buchheim („Das Boot“, „Die Festung“) oder das Subkulturelle bei Sven Regener („Herr Lehmann“); ich schätze gute Sprache und Inhalte. Schriftsteller wie Arno Schmidt oder James Joyce irritierten mich jedoch. Weil ich zu jung war oder nicht ihrem Zielpublikum entsprach. Mag sein, dass es heute anders ist, schließlich kam ich bei Oliven auch erst spät auf den Geschmack. Aber es wird dauern, bis ich mich erneut auf unkonventionelle Schreibstile einlasse. Bis dahin gönne ich mir weiterhin die scharf abgeschmeckten Texte eines Tucholsky, die Lakonie Raymond Carvers, die Dringlichkeit Wolfgang Borcherts und die Beschreibungen T. C. Boyles.
Mag sein, dass es ein Fehler ist, Autoren wie bei einer Dating-App einfach wegzuwischen (Virginia Woolf, John Irving, Joseph Conrad), aber für einen zweiten Blick ist mir die ohnehin begrenzte Lesezeit noch zu kostbar. Meine Vegan-Challenge muss ich so schnell ja auch nicht wiederholen.

Samstag, 13. Juni 2015

141 | Eines Tages



Neulich sagte mir jemand, dass angehende Romanautoren über fünfunddreißig keine Chance hätten, einen Verlag oder eine Literaturagentur zu finden. Er hörte in einem Radiobeitrag, dass es entsprechende Untersuchungen gäbe.
Mein erster Gedanke: Quatsch! Qualität setzt sich durch. Und die ist in Romanen älterer Semester wohl eher zu finden. Da genug Zeit vergangen ist, um das Leben auszuloten und das Schreibwerkzeug zu beherrschen.
Mein zweiter Gedanke: Finde den Beitrag im Internet.
Aber ich fand nichts. Und hielt an meinem ersten Gedanken fest.
Doch wer sagt mir, dass mein Romanerstling, von dem ich nach wie vor überzeugt bin, die Qualität besitzt, die er braucht, um gedruckt und gekauft zu werden? Reicht das Urteil meiner Testleser? Reicht meine Schreibkompetenz?

Der Roman entstand, nachdem ich ein Kindheits-Erlebnis mit einem Zeitungsbericht vereint hatte. Das war die Initialzündung, die kreative Befruchtung. Und daraus erwuchs und gedieh etwas Neues. Etwas, das gefühlt schon immer da war und lebte, nun aber raus wollte.
Als ich das überarbeitete Manuskript in meinen Armen hielt, nachdem es mich über Jahre beschäftigt hatte, war ich erleichtert, stolz und glücklich. Was auch sonst. Wie Mutter und Vater in einem. Doch ahnte ich nicht, wie schwer es sein wird, einen Agenten für mein Baby zu finden. Jemanden, der auch geschäftlich daran glaubt, es liebevoll lektoriert und optimiert.

So heißt es immer noch warten. Und den Dornröschenschlaf meines Geisteskindes behüten. Aber eines Tages - das glaube, weiß und fühle ich - wird es erwachen, den Mund weit öffnen und von sich hören lassen.

Sonntag, 7. Juni 2015

140 | Waldläufer



Der heutige Sonntag hat seinem Namen alle Ehre gemacht. Ich war im Brandenburgischen und durchstreifte den Wald. Sah Ameisenhaufen, eine Eidechse, einen Hasen und den ausgehöhlten Rest von Ringelnatz´ „Blindschl“.
Und weil ich an Borges´ Gedicht „Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte“ und den Wunsch, mehr barfuß zu laufen, dachte, zog ich kurzerhand die Schuhe aus und ging über Stock und Stein, Gras und Moos und leider auch so manchen Kienapfel.
Mir fiel Thoreaus „Walden“-Projekt ein und - beim Anblick einer verlassenen Baumhütte - die Kletterbäume meiner Kindheit. Ich fand die Idee für eine Erzählung und vertiefte mich darin, bis ich von heranbrummenden Juni-Käfern weitergetrieben wurde.
Plötzlich, neben dem halb überwachsenen Pfad, der Schrei eines Vogels, eines Jungvogels, welcher flugunfähig und verängstigt ins Gesträuch hüpfte und mich von dort aus mit riesigen Augen ansah. Für eine jugendliche Drossel schien er mir zu groß. Vielleicht war es ein Kuckuck, den man - Ironie des Schicksals - aus dem Nest geworfen hatte. Ich überließ ihn sich selbst und zog auf sonnenfleckigen Wegen weiter durch zeitlosen Raum, wo es summte und duftete, nach Robinienblüten und frisch geschlagenem Holz. Die noch stehenden Kiefern reckten sich knisternd in den warmen Nachmittag. Darüber, über allen Wipfeln, die gähnend gelassene Ruhe eines himmlischen Blaus.

Freitag, 5. Juni 2015

139 | Zwischenstand


Na schön, so ein Blog will gepflegt werden, sonst kränkelt er wie das Basilikum auf meinem Balkon. Was gibt es also Neues?
Gestern, beim Laufen im Park, habe ich mal wieder Lieder von Hans-Eckardt Wenzel gehört. Und dabei gedacht: Ich liebe sie noch immer, die alten und einige neue. Von ihnen und Parkimpressionen inspiriert, kam ich mit einer Schreibidee nach Hause, die ich gleich nach dem Duschen am Laptop festhielt.
Und sonst? Neben der umfangreichen Arbeit am zweiten Teil meines Roman-Erstlings schreibe ich hier und da Kurzgeschichten, schule mein Handwerk, probiere was aus. Eine Sammlung von Storys zum Thema „Songs“ schwebt mir vor. Vier Geschichten stehen bereits. Mal sehen, was am Ende dabei herauskommt.
Außerdem bin ich immer noch auf der Suche nach einer Literaturagentur für den ersten Roman-Teil. Und ich habe mir fest vorgenommen, mich nach Jahren an Literaturwettbewerben zu beteiligen und mich mit anderen Autoren zu vernetzen. Um endlich wieder etwas zu reißen. Wenn es soweit ist, werde ich darüber berichten. Wenn nicht, philosophiere ich über die Kunst des Scheiterns.
Mein momentaner Lesestoff nach T.C. Boyles „Hart auf Hart“ ist Reiner Stachs dreibändige Kafka-Biografie, die mich restlos begeistert.
Und dann spukt mir seit gestern Hemingways Imperativ „Schreibe einen wahren Satz!“ durch den Kopf. Vielleicht sollte ich mir das zur Tagesaufgabe machen. Denn nur aus leidenschaftlich verarbeiteten wahren Sätzen entstehen Gedankengebäude, in denen sich der Leser zu Hause fühlt.