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Sonntag, 27. September 2015

155 | In den Pilzen II


Gestern war ich im Fläming erneut in den Pilzen. Aber diesmal erfolgreicher: viele Maronen, ein paar perfekte Steinpilze, einige Pfifferlinge.
Von fetter gewordenen Kreuzspinnen abgesehen sah ich zwar keine Tiere, dafür konnte ich bei herrlichem Altweibersommerwetter die meditative Ruhe des Forstes bestens genießen.
Früher war für mich der Herbst nichts weiter als die Vorstufe des Winters, war leises Abschiednehmen vom Jahr und aufgezwungene Wehmut. Mittlerweile ist mir die Erntezeit zum verlässlich stillen Freund geworden, mit dem man spazieren gehen kann oder Schach spielen. Bücher, die ich im Herbst lese, dürfen längere Sätze enthalten und von verstorbenen Schriftstellern wie Fontane stammen. Oder von langlebigen wie Günter de Bruyn.
Während der Autofahrten durch Alleen fallender Blätter und Kastanien höre ich im Herbst häufiger Klassikradio. Und denke länger über dies und jenes nach, über 25 Jahre deutsche Wiedervereinigung zum Beispiel. Damals war ich Wehrdienstleistender in zwei Armeen. Eingezogen im September ´90 diente ich einen Monat lang der im Auflösen begriffenen NVA, anschließend elf Monate der Bundeswehr. Verrückte Tage waren das, zäh und schnelllebig zugleich.
Wenn ich im Sommer in Berlin Mauerführungen für Oberschüler mache und als Zeitzeuge Wendeereignisse schildere, hören mir die Sechzehn- bis Achtzehnjährigen genau zu. Weil ich damals so alt war wie sie wahrscheinlich. Und weil sie sich wie beim Lesen eines Romans, der nicht bloß unterhalten will, an existentielle Fragen herangeführt sehen: Wie hätte ich mich vor dem Mauerfall verhalten? Wie verhalte ich mich 26 Jahre danach?
Ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Wiedervereinigung ziehen Freiheit und staatlicher Wohlstand hunderttausende Flüchtlinge an. Für das Land stellen sie eine Herausforderung und eine Chance dar. Doch sie schüren - wie so oft in der Geschichte - auch Ängste. Vor allem, dass sich die erhoffte kulturelle und wirtschaftliche Bereicherung eines Tages als grundlegende gesellschaftliche Veränderung entpuppt. Michel Houellebecq hat in „Unterwerfung“ darüber geschrieben. Wie man mit diesen Ängsten umgeht, ob man sie abtut oder scharf macht, und wie bereit die Deutschen sein werden, ihren demokratischen Wertekanon zu verteidigen, sind Fragen, die mich in diesem Herbst zunehmend beschäftigen. Ich möchte meinen Atheismus nämlich nicht ständig rechtfertigen müssen. Und ich möchte doch auch nicht für einen Ungläubigen gehalten werden. Schließlich glaube ich an grundlegende Werte wie Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung. Oder eben an die Freiheit des Glaubens.
Im Grundgesetz werden mir diese Werte garantiert, was das Grundgesetz zu einem Wert an sich macht, zu einem Buch der Bücher sozusagen. Und jeder, der bereit ist, nach diesen fundamentalen Werten zu leben, ist mir in Deutschland - auch längerfristig - aufs Höchste willkommen.

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