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Samstag, 8. Dezember 2001

001 | Freitag, 19.30

Eigentlich wollte ich über den Weihnachtsmarkt am Alex schlendern, aber es nieselt. So kehre ich ins "Entwederoder", in der Oderberger Straße, ein, wo es noch freie Plätze gibt.
Im hinteren Raum wird an einer langen Tafel Geburtstag gefeiert. Am Nachbartisch hat jemand seine 2 Hausratten im Käfig mitgebracht. Besser als ein bei Regen stinkender Hund. Der Herr der Ratten ist wie alle anderen Gäste Individualist, aber kein Punk. Schlicht grau-schwarz gekleidet, charismatisch jedoch bunt gefärbt wie der Rest. Ich sehe mich um, begegne Blicken ... Doch geschieht das nicht mit penetranter Neugier, weil am eigenen Tisch außer einer Inszenierung nichts laufen könnte, sondern mit Gelassenheit. Jeder Tisch ist ein vollkommener Mikrokosmos, nie gleicht einer dem anderen. Und das ist es, was ich so an Berlin liebe: die Normalität des Ungenormten! Vor ein paar Wochen brauchte ich bloß an einer Leipziger Tankstelle stehen, schon wurde ich von abklatschgestylten Twens argwöhnisch gemustert. Dabei bin ich absolut unscheinbar! Vielleicht lags ja am "B" auf meinem Nummernschild (der weltstädtischen Chiffre), wer weiß ... Ja, lasst mich ruhig eine Hymne auf die Hauptstadt anstimme, denn ich habe sie lange genug entbehren müssen und weiß, wovon ich singe! Klar, von dem Metropolengeist findet man hier und da auch was in Leipzig, im Café "Spizz" zum Beispiel, in Erfurt oder sonst wo wieder, jedoch nur als exotische Enklave der Provinz. Denn Berlin ist zwar kulturelles Zentrum, doch der Hauptstadtgeist ist nicht ortsgebunden, er fluktuiert: zieht mit, wenn es zu einer Party nach Dessau geht und kehrt gehaltvoller zurück. Berlin an sich gibt es jedoch nicht, so vielschichtig und ständig in Veränderung begriffen ist die Stadt. Sie verfügt allerdings über den geheimen Magneten, der die Kreativen aus mindestens dem ganzen Land anzieht und mich jedenfalls nicht mehr loslässt.

22.00:
Feststellung: Wo außer in Friedrichshain, Kreuz- oder Prenzlauer Berg habe ich so leckeren Latte Machiato getrunken? Dafür sind die Oliven bloß grün und salzig. Vermisstes Aroma kommt dafür rauchig-harzig aus dem Nachbarraum gewabert, wo gesund und laut an der Geburtstagstafel gelacht wird. Ansonsten herrschen Chillout-Musik und Kerzenschein vor. Neue Gäste bringen Farbe in die gute Stube: erstaunlich viele rote Kapuzen und Pullover. Mir wird auf einmal so weihnachtlich. Die Gespräche bleiben jedoch und gottseidank alles andere als besinnlich.

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