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Sonntag, 7. Juli 2002

021 | Brunchen

Heute Benjamin von Stuckrad-Barre schrieb sich einmal negativ über die Unsitte des Brunchens aus. Masse statt Klasse, Selbstbedienung und am Ende ein Völlegefühl, das sich länger als der Kater vom Vorabend hinzieht. Sei´s drum, mir gefällt´s. Wer sich im Alltag für eine eher spartanische Kühlschrank-Inneneinrichtung entschieden hat, wird ein barockes Buffet am Wochenende zu schätzen wissen. Denn hier bekommt man nicht nur symbolisch etwas vom Wohlstandskuchen ab. Und bei 7,- oder 8,- Euro Pauschale eine bezahlbare Trotzreaktion auf die europaweite Teuro-Euro-Klage. Nur anhand der georderten Getränke lässt sich ahnen, wie gut es dem einen oder anderen Prasser noch geht. Milchkaffee und O-Saft zum Brunch sind vertretbar, wenn zusätzlich aber noch große Cola-Gläser oder gar Cocktails verlangt werden, deutet das nicht nur auf eine latent ungesunde Lebensführung hin, sondern vor allem auf eine schamlos zur Schau getragene Dekadenz. Jawoll! Denn bei den überteuerten Getränkepreisen ist öffentliches Trinken kaum noch zu tolerieren. So wurden betreffende Personen heute Mittag in Friedrichshains kulinarischem Bermudadreieck zwischen dem "Euphoria", "Habana" und "+ - 0" (sic!) von durstigen Passanten wie Streikbrecher betrachtet und verachtet. Sie sind es, verrieten ihre Blicke, die den 1. Juli, an dem man Groß- und Einzelhandel durch Nichtkauf finanziell ausbluten lassen wollte, zu einem Flop verkommen ließen. Sie kauften Cola bei Kaiser´s und reichlich bei Reichelt. Aber mir, dem Hungrigen, war das Ganze schlichtweg egal. Bestochen von 2 beladenen Tellern schlang ich vegetarische Köstlichkeiten in mich rein und ließ mich in diesem Bermudadreieck der Völlerei hoffnungslos wegstrudeln. Je satter ich aber wurde, um so mehr wurden in mir auch kritische Stimmen wach. Nur bezogen die sich ausnahmslos auf das Essen: zu kalt, zu ungewürzt, zu lieblos bereitet ... Undank ist eben auch der Köche Lohn. Doch unbezahlbar die Eindrücke von den anderen Abzuspeisenden. Eine überreife Frau zum Beispiel bediente ihren Mann genauso wie ihr Enkelkind. Stand ständig von einer gewissen Jäger- und Sammlermentalität getrieben auf und stürzte Richtung Buffet. Die Drohne von Mann sagte nicht einmal "Danke", wenn sie wiederkam, und sah auch nicht so aus, als könnte sie – also er - es im Bett wettmachen. Dabei hätte er ihr das Aufstehen direkt verbieten müssen, weil sie mit ihrem prallen Weißwurst-Outfit nahe dran war, jedem anderen ein schlechtes Gewissen zu machen, wo nicht gar den Appetit zu verderben. Ebenso der Penner, der – schon mittags hacke – im Selbstgespräch vertieft die Straße überquerte. Wenn der sich bereits jetzt einen Vollrausch leisten kann, dachte ich und musste aufstoßen, dann ist es um Euro und Spaßgesellschaft doch noch nicht so schlecht bestellt.

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