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Samstag, 20. Juli 2002

022 | Ab durch die Mitte

Es ist Samstag. Allmählich verzieht sich das seit Tagen anhaltende London-Wetter aus dem spätnachmittäglichen Berlin. Am Hackeschen Markt werden wieder die Sonnenbrillenvisiere runtergeklappt. Touristen beäugen neugierig hier ansässige junge Kreative. Junge Kreative äugen ironisch zurück. Man sitzt entspannt vor dem DANTE und wirft beim vielen Reden und Äugen auch immer wieder Blicke zu den beiden indisch angehauchten Straßenmusikern: Eine tätowierte Blondine mit rotem Punkt auf der Stirn schlägt zwei Klanghölzer, ein Mann mit gebändigtem Wuschelhaar schlägt eine große Bongo-Trommel. Später, wenn es dunkel ist, werden sie wie jedes Wochenende akrobatisch mit Feuer spielen. Und sich erfolgreicher verkaufen als die beiden verwelkten Männer weiter hinten ihre kleinen Sonnenblumen (3 Stk. zu 2 Euro) oder als die beiden Typen mit den kleinen russischen Werbeplakaten aus den 20ern (á 2 Euro).
Vor der Alten Nationalgalerie bildet sich langsam eine Schlange für das Konzert von Michael Nyman, der hier nachher beim Museumsfestival mit seiner Band auftritt. Wer das ist? Er hat u.a. die Filmmusik zu "Das Piano" und "Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber" geschrieben. Ach so. Aber noch ist es ruhig. Nur auf der Friedrichsbrücke fiedelt wieder der Chinese auf seinem exotischen Instrument, bis er von einem Gitarristen abgelöst wird. Die Melodie kenne ich. Wurde so vor 20 Jahren immer als Pausenfüller beim NDR-Fernsehen gebracht. Dazu eine Nordsee-Stadtlandschaft wie aus einem Kinderbilderbuch, vom Ballon überflogen. Berlin hat seine Spree, denke ich, und den Sat 1-Ballon auf dem Potsdamer Platz. Welche Melodie wohl dazu passen könnte ...
Am Ende der Brücke verkauft ein magersüchtiges Mädchen Laugenbrezeln. Dahinter läutet der Eismann seine Glocke. Nein, kein Eismann, jemand versucht nur noch letzte Passagiere für eine Schiffsrundfahrt mit der "Nordstern" anzulocken, die unten, an der Kaimauer vertäut liegt. Daneben, direkt über der Wasseroberfläche, Einschusslöcher, wie hingespritzt. Als wären die kriegsmüden Soldaten im Frühjahr ´45 auf Entenjagd gegangen.
In der Rosenthaler Straße flutet das Leben an einem Säufer vorbei, der bei Rossmann in einer Feuerwehrzufahrt steht, als würde es brennen. Er löscht seinen Durst mit Büchsenbier, damit die Augen auf Halbmast bleiben und nicht sehen müssen, was sie nicht verstehen. Es geht weiter. Da, wo ein weggebombtes Nachbarhaus den Blick auf die entblößte Seitenwand der Gormannstraße 6 freigibt, wurde vermutlich nach der irrsinnigen Entenjagd von ´45 ein 2x3m großes Reklamefeld angemalt. Noch schwach lesbar und von den darunter gesprühten Graffiti erstaunlicherweise verschont geblieben: "Wäscherei / Plätterei / Gardinenspannerei / Annahmen für chemische Reinigung / Rosa Zimmermann / Rechts um die Ecke Steinstraße 20" Oder 26. Oder 28. Also biege ich um die Ecke in die Steinstraße. Aber da gibt es auch nur die Nummer 6 und keine Nummer 20, 26 oder 28. Und auch keine Zimmermanns mehr. Nebenan nur ein riesiger Baustellenkrater für die Keller zukünftiger Wohn- und Gewerberäume. Dahinter steht ein ehemals besetztes, dann geräumtes Haus leer. "SCHÖNBOHM DU VERSAGER BALIN PLEIPT BUNT" steht weiß auf grau an der Fassade. Dem Haus Nummer 6 über Eck befindet sich "Juliettes Literatursalon" (Buchhandlung, Verlag, Galerie), in der Gormannstraße 25. Nach der Performance-Lesung von Ulrike Haage und Thea Dorn ("Bombsong" – CD-Release Sansoleil) plaudert man inspiriert vor der Tür.
Zwei Häuser weiter, in der Gormannstraße 23, steht das Pfefferkuchenhaus von Hänsel und Gretel hinter Schaufensterglas. Eigentlich ein Haus aus Keksen und Zuckerguss, das als Installation in der Galerie "Arx Art" seit gestern bis zum 30.07. zu sehen ist (Mi – Sa 15.00 – 19.00). Fällt den Künstlern beim Kleben ein Keks runter und zerbricht, wird er mit gelassener Geste verspeist. Damit sieht man, dass Kunst, die man nicht unbedingt verstehen muss, auch Spaß und satt machen kann.
Alles friedlich, alles heiter. Wo früher die Sass-Brüder in der Untergrund-Kaschemme "Mulack-Ritze" saßen und sich kaum ein Polizist hintraute, sitzt man Ecke Mulackstraße vor dem "Gormann", einer der vielen neuen Berlin-Kneipen. (Wer war eigentlich Gormann?) Nur auf der wieder mal weiß überrollten Seitenwand vor der Franz-Mett-Sporthalle steht rot und deutlich: "Ich hasse!" Warum, wen oder was, das möchte ich wie vieles gerne wissen. Aber nicht jetzt. Und nicht heute. Es ist Samstag!

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