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Montag, 1. Juli 2002

020 | Finale

Fußball im Fernsehen interessiert mich genauso wenig wie Dauerwerbesendungen. Doch bei Fußballweltmeisterschaften ist das was anderes. Da bin ich nicht nur am Gucken, da bin ich im Fieber. Und wenn die deutsche Mannschaft spielt, fühle ich in mir einen gesunden Patriotismus, den ich als nachgeborener "guter" Deutscher allerdings immer auch vor mir zu rechtfertigen versuche. Weil schon das Wort "deutsch" nach Fanatismus klingt. Kein Komplex, sondern ein vererbtes "Familienleiden", mit dem man – besser wohl als übel – leben muss. Nationalstolz wird entweder bejaht oder abgelehnt, zumal in emotionalen Situationen. Aber nichts davon würde den Deutschen auf lange Sicht bekommen. Sie müssen ihren Nationalstolz relativieren, um ihr altes "Familienleiden" in den Griff zu kriegen.
Für alle Länder gilt, dass es im Grunde genommen nationale Katastrophen und internationale Fußballspiele sind, die ein Volk zusammenrücken lassen. Wenn es auf der Straße kracht – von Anschlägen oder Freudenböllern – treten Nachbarn auf die Balkone und begegnen sich unter Umständen zum ersten Mal. Wobei der Balkon auch ein guter Aussichtspunkt ist, um die Toleranz im Lande zu überblicken: Regt man sich nach dem 0:2-Sieg der Brasilianer auf, wenn geböllert wird? Böllern gar deutsche Landsleute sportlich fair für den fünffachen Meister? Oder haben die Deutschen es endlich gelernt, auch stolz auf ihre Elf zu sein, wenn Deutschland nicht unbedingt über alles steht. Sie haben! Schon zu Heines Zeiten äußerte sich deutscher Nationalismus in Form von Hohn und Hass auf den Rest der Welt. Jetzt lassen die heiseren deutschen Fans – wenn auch etwas steifbeckig – ihre Hüften zu Sambarhythmen kreisen und feiern mit den Brasilianern zusammen am Ku´Damm. Wenn das kein Fortschritt ist! Frotzeleien sind natürlich erlaubt, sofern sie ausschließlich als solche erkennbar sind. Da können die Deutschen durchaus mit den hier lebenden Türken mithalten, die den Deutschen – nachdem ihr 3. Platz gesichert war – die Daumen drückten.
Eigentlich sind Gesten der Fairness bei sportlichen Kämpfen das Beste am Spiel. Wie sich viele Fußballer hoch halfen, für Fouls entschuldigten, wie sich die Türken und die Koreaner am Ende Arm in Arm beim Publikum bedankten ... Das ist der olympische Geist, der Korea auch eines Tages wieder einen wird! Und vielleicht weht der auch in 4 Jahren durch die landesweit letzte Selbsthilfegruppe der Ost- und Westdeutschen. Aber so schlimm ist es ja inzwischen auch nicht mehr.
(Ups, eigentlich wollte ich hier kein humanistisches Plädoyer vom Stapel lassen, sondern darüber schreiben, wie sich vorgestern meine aus Pellkartoffeln, Parmesan und Pecorino geformten Gnocci im Topf auflösten und wie ich beinahe das Endspiel verpasst habe, weil der Nike-Subground am Reichstag, wo das Spiel unter anderem gezeigt wurde, überfüllt war. Und ich wollte diesen Eintrag mit der Frage enden lassen, warum junge Berliner so gerne Beck´s trinken. Aber das passt ja jetzt irgendwie nicht mehr hierher.)

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