Eines vorweg: Auch bei meinem 4. Marathon habe ich die 4-Stunden-Hürde wieder nicht nehmen können, aber es lief gut. Und in Anbetracht eines erneuten Todesfalles auf der Strecke ist das wohl die Hauptsache. Bei meinem ersten 42-km-Lauf musste ich mir etwas beweisen; inzwischen zählt für mich nur noch jährliche Kontinuität und das Hochgefühl, wenn die Beine wie von selbst laufen und der Geist sich am Spektakel berauscht. Der Körper nimmt den Rhythmus der Sambagruppen als isotonischen Caipirinha auf, und der anschließende Muskelkater ist keine schmerzhafte Ernüchterung, sondern ein fühlbares Selbstbewusstsein, weil der tief sitzende Überdruss entschlackt wurde.
Ich kannte mal ein Mädchen, das sich mit einer Rasierklinge den Namen ihres vergeblich Geliebten in die Haut ritzte und ihn derartig mehrfach "unterstrich". Ihr Hang, durch äußere Schmerzen innere zu betäuben, war da, aber noch nicht pathologisch ausgeprägt. Noch kokettierte sie mit ihren Narben und mit bekannten Todessymbolen.
"Du suchst den Schmerz?!", fragte ich sie. "Dann geh laufen. Und wenn du glaubst, es geht nicht mehr, lauf weiter. Du wirst den wahren Schmerz entdecken, so wie du dich selbst entdecken wirst." Sie sah mich skeptisch an, weil sie hinter dieser doch pathetischen Altklugheit die Ironie suchte. Aber hier gab es keine. Und sie verstand mich nicht. Wahrscheinlich, weil sie nie gelaufen ist, weder vorher noch hinterher.
Zurück zum Marathon. Augenzwinkernd behaupte ich immer, dass der Stress der Marathonmesse und die Fahrt zum Start mit der BVG den schwierigsten Teil darstellen. Zur Messe am Funkturm wird man nicht nur genötigt, weil man seine Starternummer und den Zeitmess-Chip abholen muss, man wird auch noch nach einer endlosen Parkplatzsuche durch übervolle Hallen geschickt, ehe man - vorerst - am Ziel ist. Und die Fahrt mit der U-Bahn am Sonntagmorgen ist eine Art Rechenaufgabe: Wenn an jeder Station 10 Läufer und 5 Angehörige einen Wagen betreten, wie lange brauchen da die Scheiben, um vollends beschlagen zu sein?! Dieses Jahr wurde es sogar noch spannender, weil die entlastende S-Bahn gerade am Marathon-Wochenende wegen Bauarbeiten ausfiel. Eine Goldmedaille für den Bausenator! Welche Eindrücke blieben mir von der Strecke erhalten? - Das sich steigernde Klatschen vor dem Start - die nicht mehr gebrauchten Pullover, die aus der Masse an den Rand geworfen wurden - der Applaus auch nach Jahren, als es durchs fast fertig gestellte Brandenburger Tor über den neuangelegten Pariser Platz ging, also lief - der Mann, der vor mir seine Bananenschale einfach fallen ließ - die junge Frau, die am Straßenrand lag und deren Beine noch bei Ankunft des Krankenwagens hochgehalten wurden - "Die vier Jahreszeiten" Vivaldis, aus einer Kreuzberger Dachwohnung wie aus heiterem Himmel runtergeigend (und tatsächlich kam dann die Sonne durch) - der gelangweilte Junge, der mit Kastanien warf und nur knapp jemanden verfehlte - die anfeuernde Großmutter mit dem regenbogenfarbenen Staubwedel in der Hand, die Flagge zeigenden Dänen, die Cheerleader am "Wilden Eber", das begeisternde und begeisterte Publikum der 41.000 Läufer ...
Wo bleibt die Ironie, die Pointe? Hier gibt es keine, nur den Weg. Und das Ziel.
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