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Sonntag, 1. Dezember 2002

044 | Schmuddelwetter

Wenn es in Berlin nicht regnete, würden die Straßen im Hundekot versinken. Und die Arbeiter auf ihren Baugerüsten schrien sich den ganzen Sonnabend Großstadt-Dschungel-Laute zu. So ziehen sich die Hiesigen aber zurück, quälen die Fernseher, telefonieren mit anderen Zurückgezogenen oder gehen einfach wieder ins Bett. Vorausgesetzt, sie müssen sich nur um sich selbst kümmern. Dort bei einer Tasse Tee oder Kaffee zu lesen, ist für mich der spartanischste Luxus, den ich mir in Winterschlafzeiten denken kann. Überdies ist es manchmal besser, sich aus dem halb wachen Leben da draußen herauszuhalten. So genieße ich zur Zeit drei Bücher: Für die Morgenstunden „Picknick mit Bären“ von Bill Bryson, für den entspannten Nachmittag eine Schiller-Biographie und Buchheims „Die Festung“ für nachts. Zwischendurch nur mal schnell wegen des versäumten Wochenendeinkaufs in den nächsten Supermarkt wie welche, die besser im Regen stehen geblieben wären: Ein langhaariger Bartträger, der inmitten des Konsums mit seinem angegammelten Geruch beinahe prophetisch daherschlurft und penetrant an die Vergänglichkeit allen Seins gemahnt. Er ist die Personifizierung des Spätherbstes, wenn man von seinen nackten Sandalenfüßen einmal absieht.
Ähnlich sonderbar, und auch fast schon ins Surreale gesteigert, war der Anblick eines anderen Mannes, der vor ein paar Abenden auf dem Beifahrersitz eines geparkten Autos saß: Ende sechzig, kurzatmig, und zur braunen Hornbrille passend dick. Unpassend nur – eben surreal – die Musik, welche er bei heruntergeleiertem Fenster hörte: „Sag mir, wo die Blumen sind“. In einer Millva-Interpretation, wie ich im Vorübergehen hörte. Und da glaubt man, die Menschen zu kennen ...
Was mich gestern Abend trotz Dunkelheit und Schmuddelwetters wieder hoch brachte, war eine Einladung von Freunden. Sie wollten etwas ganz Außergewöhnliches kochen.
Ich war schon spät dran, stieg frisch geduscht und mit zwei Flaschen badischen Riesling bewaffnet ins Auto, da stieg im Gegenzug die Batterie beim Anlassen aus. Sehr schön! ADAC angerufen und gewartet. Und gewartet. Draußen nieselte es.
Als die Scheiben beschlugen, stellte ich mich unweit des Wagens vor einen Eckladen unter eine handbreit Markise. Und gewartet. Weil der Laden schon geschlossen war, musste ich auf die einzelnen Passanten, die beim Im-Dunkeln-um-die-Ecke-biegen vor mir erschraken, genauso suspekt gewirkt haben, wie die oben beschriebenen Männer vorher auf mich. Und unbeeindruckt davon, dass die Schuhe mit Wetterschutzcreme behandelt und und mit Imprägnierspray besprüht waren, krochen Kälte und Feuchtigkeit durch Leder und Strümpfe.
Als der ADAC-Mann nach einer dreiviertel Stunde kam, hielt er mir noch ein Referat über Autobatterien, statt endlich die beiden Starterkabel anzuklemmen. Offenbar schrieb er nach der Arbeit an einer Doktorarbeit über das Versagen von Batterien im Allgemeinen und das von PKW-Fahrern im Besonderen.
Um 22.00 Uhr war ich bei meinen Leuten. Da ich vorher durchgeklingelt hatte, war die frische Pasta noch heiß und der Abend noch zu retten. Wir unterhielten uns nach dem Essen über das merkwürdige Verhalten von Großstädtern und aus den Augen verlorene Bekannte, die uns im Grunde nicht mehr wirklich interessierten. Über das Schmuddelwetter aber verloren wir kein Wort.

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