Gegen zehn fuhren wir gestern Vormittag mit Manolis Richtung Saktouria, wo er aufgewachsen ist. Die Strecke kannten wir: Vor anderthalb Jahren war das unser Weg zum Strand von Triopetra. Wir fuhren die Serpentinen durch die Berge, Manolis rauchte bei offenem Fenster und sang zur kretischen Dudelmusik aus dem Radio.
„Manolis“, sagte ich und zeigte auf einen schneebedeckten, wolkenverhangenen Gipfel in der Ferne, „what is the name of this mountain?“
„Chioni“, war die Antwort und „Fresh snow“. Der Schnee halte sich da oben wohl bis in den April und dieser „Chioni“ sei 2456 m hoch.
Später googelte ich, das „Chioni“ auf Griechisch „Schnee“ heiße, der Berg des Ida-Gebirges aber „Psiloritis“ - also „hoher Berg“.
Unseren ersten Stopp legten wir an einer üppig bewachsenen Senke ein.
Manolis fluchte leise vor sich hin, weil dort bereits zwei Einheimische am Pflücken waren. Er gab uns eine Einkaufstasche, bog den Gitterzaun des Grundstücks zurück und fing zu ernten an.
Nur die noch nicht gelb blühenden Spitzen sollten wir nehmen.
Während ich mich immer öfter nach Weinbergschnecken umsah und Andrea für Susanne einen Wildblumenstrauß pflückte, sammelte Manolis mit einer bewundernswerten Ausdauer. Und so war seine Einkaufstasche irgendwann halb voll. Doch das reichte ihm nicht, weshalb er mit uns weiter fuhr, zu einer „good German woman“, zu Kerstin.
Kerstin ist sehr gut mit Susanne und Manolis befreundet, war vor einigen Jahren nach Kreta gezogen und hatte sich zwischen Saktouria und der Bucht Agios Pavlos ein traditionelles Ferienhaus bauen lassen. Eines aus gemauerten Steinen, nicht aus Beton. Wenn sie es vermietet, wohnt sie auf dem 4000 qm großen Grundstück, das genau 333 m über dem Meer liegt, in einem Wohnwagen.
Manolis erntete bei Kerstin erst einmal vor der Zufahrt alles ab. Andrea und ich sollten uns derweil ruhig das Grundstück ansehen, was uns, den Fremden, nicht ganz geheuer war. Schon bewegte sich eine Gardine, dann öffnete sich die Haustür. Doch nicht Kerstin kam heraus, sondern ein befreundetes deutsches Paar, das hier 2 Wochen Urlaub machte. Kerstin sei gerade in Saktouria hieß es. Von Manolis und Susanne hatte das Pärchen aber schon gehört.
Nachdem Manolis sich auch vorgestellt hatte und das Grundstück nach Chorta abgraste, sahen Andrea und ich uns Kerstins Salatbeet an, wo der Spinat für Susannes Spaghettigericht herstammte, und machten Fotos von Olivenbäumen und Wildblumen.
Was für ein schöner Ort und wie mutig von Kerstin, hier allein zu leben. Ringsherum gibt es nämlich keine Nachbarn, dafür den unbezahlbaren Blick auf die Paximadia-Inseln.
Noch eine Zigarette für unseren Kräuter-Scout, dann ging es weiter nach Ano Saktouri, dem höher gelegenen Ortsteil. Manolis raste durch die engsten Gassen und scherte sich den Teufel darum, dass uns auch Autos entgegenkommen könnten. Sah er einen Bekannten, bremste er und hielt durch das heruntergelassene Fenster einen kurzen Schwatz. So auch mit seinen Eltern, die herantraten, um uns zu begrüßen - und mit Kerstin, der er augenzwinkernd vorwarf, sie habe ihr Auto falsch geparkt, denn nun komme er daran nicht mehr vorbei.
Im Ortskern zeigte Manolis uns das alte Kafenio, das er im nächsten Jahr mit Susanne zu einer Taverne ausbauen will. Dann wird das „Ilios“ geschlossen, dessen Philosophie und gute Küche aber hier oben weiterleben.
Den letzten Halt machten wir vor Agia Galini, wo Manolis zart gefiederte Fenchelblätter pflückte. Er gab Andrea und mir auch Wildspargel zum knabbern, der nach nussigem Kohlrabi schmeckte und sich hervorragend in Omelett macht.
Kreta im Frühling ist ein einziger Kräutergarten. Wer die Insel nur im sommerlich vertrockneten Zustand kennt, wird sich das schwer vorstellen können.
Gegen zwei waren wir zurück, tranken im „Ilios“ noch einen Kaffee, kauften Kekse in einer Pâtisserie und machten uns auf den Weg zur Ferienwohnung. Dabei trafen wir Evi, die zumindest vorgab, sich an mich, meine Söhne und unsere Essens-Wette erinnern zu können. Auf die Frage, was wir nun an unserem letzten Abend im „Stochos“ gegessen hatten, hieß es „Lamb and Souvlaki“.
„No! Lamb and Dorade“ - womit die Wette unentschieden ausging.
Gegen sieben waren wir im „Ilios“ zurück. Manolis hatte köstlichen Tsatsiki zubereitet, den es vor dem Kaninchen-Stifado gab. Ach, wie ich dieses Essen liebe!
Als nur noch drei einheimische Männer im Gastraum saßen, erfuhren Andrea und ich am Terrassentisch von Susanne, wie schwer Manolis es als Kind hatte: Mit gerade mal acht Jahren musste er eine Schafherde hüten. Ein Jahr lang war er dabei allein in den Bergen und bekam nur alle drei Tage Essen gebracht. Bei dieser Vorstellung schossen den Frauen gleich die Tränen ein, denn so etwas prägt. Ich warf einen Blick auf Manolis, der den drei Männern gerade mit leuchtenden Augen künstliche Köderfische zeigte. Und in diesem Moment erkannte ich ihn, den Achtjährigen, den kretischen Mogli, der heute noch genauso durch die Berge streift wie damals. Auch wenn ihm immer öfter der Rücken schmerzt, die Lunge von unzähligen Zigaretten pfeift und die Haare mittlerweile erbleicht sind.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen