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Sonntag, 9. November 2008

097 | Rain Dogs in the Downtown Train

für Finni

„Im traurigen Monat November war´s (...)“
Mit der U 8 fahren wir durch den kühlen Rest eines verregneten Tages. Sitzend, wie die anderen Fahrgäste, Weddinger Migranten zumeist. Junge Männer mit Fremdenlegionärshaarschnitt, Frauen mit schokobraunem Haar oder zartbitterem Kopftuch. Jeder von ihnen hockt in seiner kleinen Welt. Isoliert und gelähmt von der Arbeit, von alltäglichen Teufelskreisen, die sich wie eiserne Bande um ihre Herzen legen.
„the downtown trains are full with all the brooklyn girls / they are try so hard to break out of their little worlds“
Aber wir, wir haben uns gefunden, zwischen all diesen Paralleluniversen. Frag mich nicht, wie. Wir hatten wohl Glück, obwohl wir dabei zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Aber wir erkannten uns und das, was mit uns geschieht. Es gibt sie vielleicht ja doch, die richtige Zeit in der falschen, das Märchen im Lokalteil der Zeitung. Jetzt lauschen wir der Stimme unseres Erzählers und schweigen irgendwie anders als der prosaische Rest.
Pankstraße. Die U-Bahn hält. Aber keiner geht, keiner kommt. Nur aus einigen Ohrhörern zischt und stampft leise Musik, Sountracks wie nahende Gegenzüge. Jemand nickt dazu im Takt; eine Frau hält ihre Augen geschlossen. Als stünde sie zwischen den Geleisen. Einer der Fremdenlegionäre sieht zu ihr rüber. Sieht ihr Make-up, die gezupften Brauen, ihren schlanken Körper. Den nahenden Zug sieht er nicht. Er kaut mechanisch auf seinem Kaugummi herum, wie ein angeketteter Hund auf seinem Knochen. Die anderen Fremdenlegionäre sind ebenfalls mit Kaugummis bewaffnet. Brothers in Arms ohne Auftrag und ohne Heimat. Rain Dogs, denke ich.
Da zischt und stampft es auch in mir, durchfährt mich Tom Waits heisere Stimme „with all the Rain Dogs“. „For I am a Rain Dog, too“, hallen alte Zeiten nach. Aber du bist bei mir, denke ich. Ich habe also wirklich Glück. Mir ist in dem Moment, als erklärten sich so alle einsamen Fahrten vergangener Jahre. Einsam gegangene Wege und Straßen, durchwachte Nächte. Als das Herz krampfte und sich meine kleine Welt fenster- und türenlos gab. Vielleicht muss man sich ja oft krank und elend fühlen, um irgendwann unerwartet sein Glück zu erkennen, tief zu fühlen und zu gesunden.
Oh, wie schön du bist, denke ich. Ich ...
„Nächster Halt: Gesundbrunnen.“

Komm, lass uns rausgehen in den Abend, der sich längst als Nacht verkleidet hat. Wie ein Kind zu Halloween, das uns nicht erschrecken kann. Auf dem Bahnsteig hören wir, wie es hinter uns kracht. Als wäre etwas zerbrochen.
„Heinrich, der Wagen bricht“, flüsterst du verschwörerisch lächelnd. „Nein“, lächle ich zurück und küsse dein magnetisches Gesicht, ohne mich noch einmal umzudrehen. Hand in Hand fliegen wir die glitzernden Treppen hinauf. Wie zum Hochzeitsball des Prinzen.
„Oh, how we danced and we swallowed the night“
In den Pfützen erzittern die Lichter des Gesundbrunnen-Centers von unserem Gekichere.
„Oh, how we danced away all of the lights“
Wir erfreuen uns kindisch an der kitschigen Weihnachtsdeko der Geschäfte. Und in unseren Augen spiegelt sich dabei das Glück der Besitzlosen wider. Wir sind Ausbrecher und Selbstläufer. Gefühle jonglieren Gedanken, die einmal so schwer waren, dass sie uns an solchen Abenden runtergezogen hätten wie der übersättigte Nebel die Schwärze des Himmels.
„We´ve always been out of our minds“
Bei Kaiser´s kaufen wir übermütig eine Flasche goldbraunen Tequila.
„Golden brown texture like sun (...)“
Die Kassiererin grinst uns an, als hätte sie unseren Plan durchschaut oder könne uns in die geöffneten Sonnen-Anbeter-Herzen blicken.
Oh, wie schön du bist, denke ich.

Your „long hair black as a raven.
Oh, how we danced and you
Whispered to me
You´ll never be going back home,
You´ll never be going back home.“

Denn später werden wir die Einzigen sein, die sich an diesen Abend erinnern können, an diesen vernieselten Abend, irgendwo im Wedding, irgendwann im November.

Sonntag, 28. September 2008

096 | Es gibt so Tage

Es gibt so Tage, da scheint die Sonne schon am Morgen zeitlos ruhig. Man ist müßig, macht sich einen Tee und liest die Sonntagszeitung, als würde man ein Entspannungsbad nehmen.
Dann gibt es so Tage, da weiß man hinterher nicht einmal, ob die Sonne überhaupt aufgegangen war. Also man macht sich über alles Mögliche Gedanken, nur nicht über die Sonne. Aber eigentlich machen die Gedanken alles Mögliche mit einem selbst.

Man geht wie ein Geist durch die Straßen seiner Kindheit. Befinden sich diese Straßen wie bei mir in Berlin und ist die Kindheit schon ein viertel Jahrhundert her, gibt man es nach einer Weile sogar wieder auf, jemand Vertrauten erkennen zu können. Sogar die Namen am Hauseingang, dem Eingang zum Ort der Geburt & Geborgenheit, sind fremd. Die Tür ist verschlossen.
„Aber wenn die Laternen angehen“, flüstern die Gedanken, „kommst du wieder hoch.“ Die Laternen gehen nicht an, und mich bringt so schnell gar nichts hoch.
„Wer in Berlin wehmütig wird, hat verloren“, flüstert es weiter. „Weiter!“, flüstere ich echohaft zurück.
Ecke Choriner / Schwedter sitzen drei Typen vor einer Kneipe. Einer mit Glatze, Anzug und Zuhälterbrille ruft mehrfach in sein Handy: „Hier spricht Gürgen Mengele! Gürgen Mengele!!" Er sagt nicht Jürgen, auch nicht Josef. Die beiden anderen kichern.
Ich frage nicht nach Sinn und Unsinn, suche keine Zusammenhänge.
„Weiter!“
Im „Mauersegler“, der Terrassen-Kneipe am Mauerpark, gibt es eine Hochzeit. Aber keiner sieht nach Hochzeitsgesellschaft aus. Eine angetrunkene Band rockt „Sah ein Knab ein Röslein steh´n“. Das „Röslein! Röslein!“ klingt nach Lindenberg. Und nach „Gürgen Mengele!“
Nebenan in der Bernauer eine Mauergedenkstätte: große Schwarzweißbilder an der Hausfassade, mit hölzernem Aussichtsturm. Von diesem Westberliner Aussichtsturm aus winkten meine Großeltern meiner Mutter zu, die mich im Kinderwagen auf der anderen Seite hin und her schob. Sie wagte nicht zurückzuwinken. Sie weinte nur leise.
Hier sah ich später mit meinem Cousin verstohlen in den Westen rüber. Aus einem Flurfenster, zu dem wir uns nachts geschlichen hatten. Jetzt ist die Mauer genauso verschwunden wie meine Großeltern. Und meinen Cousin sehe ich auch nur noch selten.
„Weiter, immer weiter!“
Auf dem Aussichtsplateau des Wasserturms wirken die Leute wie geisterhafte Besucher einer Gartenparty. Einige haben ihre Kinder mitgebracht, andere spielen Boule. Aber jedes Grüppchen sieht durch die anderen hindurch. Denn Geister können einander nicht erkennen. Selbst die Kinder blicken nur dem Gummiball nach, der dem Abhang zurollt.
Da denkt es in mir, dass ich selbst nur ein Geist bin. So wie Dr. Crowe in „The Sixth Sense“, der gar nicht weiß, dass er bereits tot ist.
„Du bist einer von ihnen“, flüstert es in mir.
„Aber ich kann sie sehen“, flüstere ich zurück.
Sogar den Wind, der durch die sich verfärbenden Blätter geht, kann ich sehen. Und die Wolken, die noch vor ein paar Wochen am Himmel trieben. Dann lassen mich meine wirren Gedanken, die mich hergeführt haben, im Stich.
Und so warte ich mit den anderen Geistern am Wasserturm. Wir warten auf die vermeintlich fehlenden Gäste. Wir warten dort noch, wenn längst keine Gartenpartys mehr stattfinden. Wenn die Wintersonne die Sehenden blendet, bis sie ihre Augen geschlossen halten. Bis sie von wärmeren Tagen träumen. Falls die wirren Gedanken sie lassen.

Montag, 1. September 2008

095 | Thightrope Walkers im Mauerpark

Gestern, am Sonntag, überspannte ein knallig blauer Himmel den Mauerpark wie eine Picknickdecke aus Latex. Für Szene-Fetischisten so gut wie für Romantiker. Ich kam mir vor wie am Venice Beach, wo ich noch nie war ... Nur der Strand fehlte, sonst gab es alles, aber ins Berlinische übersetzt: Basketballspieler, Jongleure, Zuschauer, Leute mit Drachen, ein Dutzend Trommler, Sonnenbrillenträger, Tattoos & Graffiti.
Viele waren keine Freaks, sondern Drahtseiltänzer, Grenzgänger im ehemaligen Grenzland. Thightrope Walkers im sozialen Netzwerk konträrer Überzeugungen.

Der Mauerpark ist bei gutem Wetter ein lebendiger Quilt. Ein Ort voll mit poetischen Bildern in Video-Clip-Ästhetik. Und im Stil absurden Theaters.
Da saß beispielsweise jemand im Gras und aß vom Plastikteller, der auf einem windschiefen vergoldeten Stuhl stand. Einem vom Flohmarkt, der in der Sonne blinkte, während ein Flugzeug lautlos darüber an Höhe gewann ... Der zerbrechliche Stuhl war zum Sitzen völlig ungeeignet, aber als Stand-Bild einfach nur göttlich.
Die Leute drum herum: bunt & expressiv. Wie die Komparsen aus „Easy Rider“, „Hair“, und Fatih-Akin-Filmen auf einem Haufen.

Das kreative Potential im Mauerpark ist enorm, die Lässigkeit wirkt echt. Dafür liebe ich Berlin. Und für diese Toleranz: Da tanzen blonde Rastafari so selbstverständlich neben bürgerlichen Flohmarktgängern wie diese neben alternativen Muttis zu coolen Crossover-Rhythmen. Lachende Gesichter nicht nur bei den Kindern.
Der zeitgemäße Hippie trail geht also unbedingt durch die Oderberger Straße. Hight-Ashbury am verschwundenen Nordbahnhof.

Vom Steinkreis her wehte der aktuelle Soundtrack herüber: „fairy“, eine neue Berliner Band, spielte gerade den Song „Tightrope Walkers“.
Fairy hat nichts mit Ultra zu tun, sondern heißt „Fee“ übersetzt. Wie die Sängerin und Gitarristin Fee Klauser, die mit dem Drummer Ferdi Grall und dem Bassisten Moritz Jansen zu Orgelklängen vom Laptop „englischen Gedankenpop“ vom Feinsten spielte.
Weil sie nicht zur PopKomm eingeladen wurden, rockten sie dort vom Laster und fanden mitlerweile Gefallen daran. Sympathisch sind sie sowieso; vertreiben ihre neuste CD „Spitting Butterflies“ ohne jegliches Anbiedern. Das Layout wirkt so professionell wie ihr lyrischer Gitarren-Rock. Da darf jetzt gern Radio Eins auf die Ex-Tübinger aufmerksam werden.

„ ... do you remember when we were walking the tightrope / from the top of the church to the roof of my house / we where dancing ...“

Donnerstag, 14. August 2008

094 | Die volle Packung Kultur ...

... kann man bei Radio Eins gewinnen. Ein Wochenend-Gutschein-Paket für zwei Personen im Kultur-Eldorado Berlin. Augenzwinkernde Bedingung dabei: Das Wochenende muss sexfrei bleiben („Gelübde der sexuellen Enthaltsamkeit“).
Da ich nie beim Radio anrufe und auch nicht viel von Gelübden halte, stellte ich mir meine Packung Kultur für die letzten Tage selbst zusammen:
Als erstes war ich wieder einmal in der Alten Nationalgalerie, um mir die Ölbilder der Romantiker und Impressionisten anzusehen. Und natürlich Schadows süße Prinzessinnengruppe aus Marmor. Anschließend fuhr ich zum Hauptbahnhof, wo davor jeden Sommer weniger zeitlose Skulpturen als „Sandsation“ ausgestellt sind. In einer Sandoase des Großstadtdschungels.
Abends ging es ins Chamäleon-Varieté der Hackeschen Höfe, zu „My Life“, einer seit Mai laufende Akrobatik-Show. Eigentlich nicht mein Fall, aber hier war ich begeistert. Sechs junge internationale Künstler traten mit einer selbst choreografierten Darbietung aus Luftakrobatik, Jonglage, Gesang und Tanz auf. Das Ganze auf einer sich zentral im Raum befindlichen Bühne. Da war so viel Dynamik, Berlinlässigkeit und Können, dass am Ende der ganze Raum rockte. Die Darsteller verzichteten auf glitzernde Show-Kostüme und wirkten anfangs wie ganz normale Berlin-Touristen aus dem Publikum. Nur, dass sie sich am Seil wie Spiderman bewegen konnten oder wie Neo aus „Matrix“ durch die Luft zu rennen schienen. Musikalisch gab es dazu unter anderem Big Beat, der mich an „Spybreak!“ von den Propellerheads erinnerte. Im Hintergrund Zeitraffer-Clips Berliner Locations vom Beamer. Wow!
Dann war ich in den Neuen Kammern von Sanssouci. Rokoko als Kontrastprogramm. Blöd nur, dass in dem ehemaligen Gästehaus ebenfalls auf Kontrastprogramm gesetzt wurde: In allen Räumen hatte man „Gegenwartskunst“ untergemogelt. Auf den steinernen Fußbodenrauten der Ovidgalerie lagen zur Irritation (oder wozu auch immer) Glasfliesen, welche sich tarnten, indem sie die Muster der Fugen wieder aufgriffen. Trat ein in die Stimme des Audioguides vertiefter Besucher versehentlich darauf, gab es Ärger mit der Aufsicht. Die war auch hinterher, wenn sich jemand auf einen der bereit stehenden Stühle setzte. Denn das sei zwar erlaubt, aber nicht das Anlehnen. Schließlich waren einige Besucher nur noch damit beschäftigt, weder in den Räumen noch beim Personal anzuecken.
Ich dachte währenddessen über Doppelmoral vergangener Zeiten nach, angelockt vom Gold der Metamorphosen-Darstellungen in der Ovidgalerie. Dort ist nämlich einmal mehr Leda unterm Schwan zu sehen. Also Sodomie. Am anderen Ende des Parks, im Neuen Palais, hängen „Loth und seine Töchter“ an der Wand. Die Töchter wiederum hängen so sehr an ihrem Vater, wie es verbotener nicht geht. Also Inzest. Derartige Darstellungen mythologischer und alttestamentarischer Szenen waren gesellschaftlich sanktioniert. Nicht aber, seine hübsche Nachbarin nackt zu malen oder eine hübsche Herrscherin wie die Kaiserin von Österreich: Elisabeth.
Das gleichnamige Musical sah ich mir am Ende meiner vollen Kulturpackung an. Mein erstes Musical! Und es war alles perfekt, sofern ich das beurteilen kann: Inszenierung, Gesang, Kostüme ...
Aber ich wusste es schon immer: Musicals sind nicht für mich gemacht. Opern wohl auch nicht.
Nachdem sich meine Kulturpackung wie eine Tüte mit süßem, salzigem und geschmacksneutralem Popcorn geleert hatte, wollte ich nur noch eines: die Füße hochlegen. Und das geht am besten zu Hause. Hin und wieder ist so ein Fernsehabend ja auch nicht zu verachten.

Samstag, 9. August 2008

Hälfte des Lebens I. und II.

Ich hoffe nicht, dass ich bereits die Hälfte meines Lebens hinter mir habe. Aber ich bin jetzt 36, und da schielt man schon mal wehmütig zur ersten Hälfte rüber, zur Kindheit und Jugend. Manches davon lässt sich erinnern, anderes kann rekonstruiert werden. Oft bleibt nicht viel mehr übrig als eine Handvoll Bilder, Songs und Gefühle, die im kollektiven Gedächtnis aufgehen ...


1971
Joe Frazier besiegt Muhammad Ali in New York. Jim Morrison stirbt in Paris und mit ihm die 60er. In Hamburg wird ein Polizist von der RAF erschossen, während Mc Donald´s seine erste Deutschland-Filiale in München eröffnet.
Die Stones bringen „Sticky Fingers“ heraus, Jethro Tull „Aqualung“. Zum Ende des Jahres spielen sich die Pop Tops mit „Mamy Blue“ auf Platz 1 der deutschen Charts. Zu dieser wehmütigen Soulmusik werde ich geboren. Und bis unser Haus saniert wird, wachse ich im gemütlich grauen Bezirk Prenzlauer Berg auf, in einer Wohnung, aus der 30 Jahre zuvor die jüdische Familie Fingerhuth deportiert wurde.

1972
Die erste Folge von „Raumschiff Enterprise“ wird im deutschen Fernsehen gezeigt. Am längsten hält sich Wums Gesang in den Charts: „Ich wünsch´mir ´ne kleine Miezekatze“. Dabei bringen Deep Purple das Album „Machinehead“ mit „Smoke on the Water“ heraus. Bei mir um die Ecke gründen sich City. Zu ihrem „Am Fenster“ werde ich später stets mit geschlossenen Augen tanzen. „Am Fenster“ ist auch das Lied, welches ich mir unmittelbar vor und nach meinem Wehrdienstjahr anhören werde, um die Zeit dazwischen auszublenden, was natürlich nicht gelingt. Aber noch bin ich nicht bloß naiväugig, sondern auch blond und habe zum Glück von all dem keine Ahnung.

1973
George Foreman besiegt Joe Frazier. Das World Trade Center wird eröffnet und im „kapitalistischen Deutschland“ Pornografie erlaubt. Mich interessiert die in der ARD anlaufende „Sesamstraße“ und die „Rappelkiste“ des ZDF in den nächsten Jahren jedoch mehr.
„Die Legende von Paul und Paula“ kommt in die Kinos, wird von mir aber erst am 7. Oktober 1989 gesehen, als hinter dem Kino „Babylon“ der erste Berliner Wende-Demonstrationszug Dampf macht. In Sydney gründen sich AC/DC. The Sweet erobern mit „Blockbuster“, „Hell Raiser“ und „Ballroom Blitz“ die Charts. Suzi Quatro rockt mit „Can the Can“ gegen Bernd Clüvers „Der kleine Prinz“ an. Otto beginnt über deutsche Bühnen zu wuseln. In Ostberlin finden die X. Weltfestspiele, das „Woodstock des Ostens“ statt.

1974
Mireille Mathieu singt sich mit dem spanisch beflügelten Titel „La Paloma, ade“ und ihrer deutschen Art französich zu chansonieren in die Herzen der Nation. ABBA sind da („Waterloo“), aber auch Michael Holm („Tränen lügen nicht“). Obwohl: Michael Holmes „Wart´auf mich“, das er ein Jahr später herausbringt, ist Kult. Jeden Sonntag seit 1998, wenn auf Radio Eins die Show Royale von Grissemann und Stermann mit dem „modernen Gute-Nacht-Dialog“ beendet wird („Schlaf gut!“ – „Du auch!“ – „Ich liebe dich!“ – „Du auch!“), dann wird dieses Lied gespielt.
Am 7. Juli ist Deutschland Fußball-Weltmeister. Und ich laufe im Sommer am liebsten mit meinem „Tip & Tap“-WM-Maskottchen-T-Shirt (Nikki!) herum.
Im Oktober holt sich Muhammad Ali den Box-Weltmeistertitel von George Foreman zurück.
Mein erstes Lieblingslied heißt „Kung Fu Fighting“ und bringt den Jamaikaner Carl Douglas für 7 Wochen auf Platz 1. Die musikalische Eintagsfliege Terry Jacks hielt sich genauso lange an der Spitze. Sein „Seasons in the Sun“ wird 14 Jahre später der melo-kitschige Soundtrack meiner Jugendliebe werden. In New York gründen sich die Ramones. Das „Autobahn“-Album von Kraftwerk erscheint. Das häusliche Tonbandgerät spult Vicky Leandros´ „Theo, wir fahr´n nach Lodsz“ ab. Im Fernsehen sehe ich „Wickie und die starken Männer“
An meinem 3. Geburtstag wird Ulrike Meinhof wegen Mordversuchs zu 8 Jahren Gefängnis verurteilt.

1975
In den deutschen Charts glittert es sich mit The Sweets „Fox on the Run“ langsam aus. Dafür gehen immer mehr Disko-Hits an den Start und an die Spitze: Zu Penny McLeans „Lady Bump“ wird auf Familienfeiern derart getanzt, dass die Erwachsenen sich mit ihren Hüften anstoßen, was ich lustig finde. Am längsten hält sich die George Baker Selection mit „Paloma blanca“ auf Platz 1. Lieder mit Tauben mögen die Deutschen eben. Im Kindergarten lerne ich „Kleine weiße Friedenstaube“ auswendig.

1976
Ulrike Meinhof erhängt sich in ihrer Gefängniszelle. Mao Tse-Tung stirbt exakt 4 Monate später. Von Juli bis August bin ich in der Zwischenzeit in Ernstthal am Rennsteig 4 Wochen ohne Eltern zur Kur. Wegen meiner wiederkehrenden Bronchitis. Ein Foto zeigt mich inzwischen dunkelhaarig und mit traurigen Augen. Für gutes Verhalten gibt es dort rote Punkte, für schlechtes, schwarze. Ich habe schnell 5 schwarze zusammen. Das kleine Glastier aber, welches ich von meinen 10,- Mark Taschengeld für 1,90 Mark gekauft habe, schreibt die Erzieherin Frl. F., darf ich nur mit nach Hause nehmen, wenn ich „jetzt viele rote Punkte sammle“.
An Maos Sterbetag wird erstmalig die „Biene Maja“ im westdeutschen Fernsehen ausgestrahlt. Der Musik-Sommerhit kommt aus Schweden, aber nicht von ABBA; wenn auch Agnetha und Anni-Frid im Hintergrund zu hören sind. Harpo heißt der Mann, der sein Chaplin-Stöckchen in Ilja Richters Disco herumwirbelt und „Moviestar“ barfuß singt. Der Sommer-Schlager ist „Ein Bett im Kornfeld“ von Jürgen Drews.
Frank Farian bringt Boney M. mit „Daddy Cool“ raus und singt sich mit „Rocky“ nach oben. Bobby Farrell, den Tänzer und falschen Boney-M.-Sänger finde ich unheimlich. Er ist dunkel, lacht nicht und macht komische Verrenkungen. Der DDR-Regierung ist Wolf Biermann unheimlich, eben weil er singt. Er wird kurzerhand ausgebürgert.

1977
Aus Westberlin gibt es ein rotes aufblasbares Indianerkanu, das so herrlich nach Sommerurlaub riecht, vor allem im Winter, wenn mein Vater es im Kinderzimmer aufbläst.
Sylvester Stallones „Rocky“ gewinnt 3 Oscars. Die erste Stimme, in die ich mich verliebe, gehört Jeanette. Mit „Porque te vas“ steht sie eine Woche lang auf Platz 1. Auf eine vom Vater ausrangierte Brieftasche schreibe ich jedoch mit Filzstiften „I love Smokie“. Und das, noch bevor ich eingeschulte werde. Das kann auf frühkindliche Begabung deuten, muss es aber nicht: Später werde ich froh sein, in Englisch die Drei zu halten. Smokie haben in diesem Jahr gleich zwei Nr.-1-Hits: „Living Next Door To Alice“ und „Lay Back In The Arms Of Someone“. Aus diesem Jahr ist mir noch eine Kassette mit weiteren Hits erhalten: „Magic Fly“ von Space, Baccaras „Yes Sir, I Can Boogie“ und Oliver Onions´ „Orzowei“. Obwohl das Jahr musikalisch gesehen Besseres zu bieten hat, sind es genau diese Lieder, die ich als Kind hauptsächlich höre. Und sie klingen für mich im Nachhinein alle wehmütig, weil sie Gefühle transportieren, für die ich kaum Bilder habe. Ich weiß nur, dass sich im Jahr darauf meine Eltern scheiden lassen werden. Aber jetzt tanzt noch alles.

1978
Ich werde eingeschult. Vorher fahre ich aber noch nach Binz zur 2. Kur, wieder ohne Eltern. Zum 1. Mai basteln wir Kinder dort Maistöcke aus Krepp-Papier, Friedenstauben und Mai-Nelken. Dass mein Vater sich in der Zeit einen Vollbart wachsen ließ, fällt mir kaum auf. Gesichter verblassen eben irgendwann.
Nach den ersten 3 Wochen Eingewöhnung in der Schule, gehe ich mit meiner Klasse und einem DDR-Fähnchen in der Hand rüber zur abgesperrten Schönhauser Allee: Sigmund Jähn, der erste Deutsche im All, ist zurück. „Sagt mal, wo kommt ihr denn her?“, fragt Vader Abraham zeitgleich seine Schlümpfe. Die antworten „lal-al-lallalalall“ mit Helium-Stimmen. Von der neuen Oma gibt es jetzt immer einen kleinen Schleich-Schlumpf, wenn sie im Westen war. Die Village People finde ich mit „YMCA“ genauso lustig wie später die Gruppe Dschinghis Khan. Die scheinen alle ständig Fasching zu feiern. Von John Travoltas „Grease“ bekomme ich nichts mit. Sein „You´re The One That I Want“ ist mir hauptsächlich als „Die Wanne ist voll“ von Dieter Hallervorden und Helga Feddersen vertraut. Wenn ich Andrea Jürgens´ „Und dabei liebe ich euch beide“ hören will, verbietet es mir meine Mutter, weil Vater gerade ausgezogen ist. Jetzt bin ich „Scheidungskind“.

1979
Die Grünen gründen sich. Zwei Familien aus der DDR fliehen mit einem Heißluftballon. In der Wuhlheide wird der Pionierpalast „Ernst Thälmann“ eingeweiht. Ich will da unbedingt ins „Kosmonautentrainingszentrum“, jedes Mal, wenn ich dort bin. Aber das klappt erst im Jahre 2001. Der Pionierpalast wird dann schon längst FEZ heißen (Freizeit- und Erholungszentrum), aber ich kann endlich alle Geräte ausprobieren, vor allem das Rhönrad.
Blondies „Heart Of Glass“ klingt für mich nett wie jedes Disko-Lied. Erst später werde ich die Gruppe für mich richtig entdecken und Debbie Harry für ihre coole Schönheit lieben. Deutschland hört „Born To Be Alive“ von Patrick Hernandez, als gäbe es nichts Besseres. Das neue Clash-Album "London Calling" zum Beispiel.

1980
Solidarnosc wird in Polen gegründet und verboten, dafür das Kriegsrecht verhängt.
Von Mike Krügers „Nippel“ kann ich den Refrain schnell auswendig. Meine Mutter hört lieber Roland Kaisers „Santa Maria“, das ich mit meinem Cousin parodiere.
Das ZDF beginnt die Zeichentrickserie „Captain Future“ auszustrahlen, nach der ich süchtig werde. Genauso süchtig bin ich nach „Adolars phantastische Abenteuer“. In der Zeichentrickserie reist ein Junge mit seinem Hund in einer aufblasbaren Rakete zu fremden Planeten. Ich reise im Juli nur ins Kinderferienlager, nach Wusterhausen an der Dosse.

1981
Meine nette Nachbarin, Frau Tschirner, bekommt wieder ein Kind. Als ich einmal in ihrer Wohnung bin, sieht es dort so ganz anders aus als in den Wohnungen, die ich kenne: viele Bücher und komische Bilder. Meine Mutter meint, Herr Tschirner macht irgend etwas mit Dokumentarfilmen. Kurz nach der Geburt ihrer Tochter Nora Tschirner zieht die nette Familie nach Pankow. Nora sehe ich erst im Film „Soloalbum“ wieder.
Ich gestehe: Fred Sonnenschein und seine Freunde höre ich mit „Ja wenn wir alle Englein wären“ und meinen 9 Jahren lieber als „Tainted Love“ von Soft Cell. Dazu tanze ich erst ein paar Jahre später. Und zu Gottlieb Wendehals´ „Polonäse Blankenese“ konnte man nach Erwin und Heidi so herrlich „Titten!“ schreien. Subtiler Humor eben. In Hauseingängen steht mit Kreide „Queen“ und „AC/DC“ geschrieben. Als ich das AC/DC-Zeichen in der Schule nachschreibe, bekomme ich wegen des Runen-Blitzes Ärger: Es ist ein halbes SS-Zeichen oder so sagt man mir. Ich verstehe nur: Verboten! Mehr Freiheiten gibt es wieder im Wusterhausener Ferienlager.

1982
Schwer verboten klingt auch „Skandal im Sperrbezirk“ von der Spider Murphy Gang. Weil man jetzt sogar „Nutten!“ schreien kann. NDW heißt der große Topf, in den jeder Hitparaden-Titel geschmissen wird, der nicht gerade nach Nicoles „Ein bisschen Frieden“ klingt. Falco kommt mit dem „Kommissar“ groß raus, Markus will „Spaß“. OMDs „Maid Of Orleans“ hätte sich für meinen Geschmack noch länger behaupten dürfen, stattdessen schmachtete F. R. David mit „Words“ 11 Wochen auf Platz 1. Besser gefiel mir „Do You Really Want To Hurt Me“ von Culter Club. Mein Stiefvater hatte es auf eine graue 60er BASF-Kassette aufgenommen, genau wie Peter Schillings „Major Tom“. Als er meine Mutter und mich ein Jahr später verlässt, bleibt seine Musik zurück. Wieder so eine Kassette. Von nun an beschließe ich, Kassetten selbst aufzunehmen.
ABBA trennen sich. Die toten Hosen & die Ärzte werden gegründet.
In diesem Jahr liegt das Ferienlager im sächsischen Greiz. Danach geht’s nach Ahrenshop an die Ostsee. Ich schlafe in einem Zeltplatz-Wohnwagen mit Fernseher und bin nach heißen Badetagen am FKK-Strand davon begeistert, am „Getränkestützpunkt“ Pepsi Cola kaufen zu können, die in Rostock abgefüllt wird.

1983
AIDS, Atomkrieg und saurer Regen relativieren das Bild von der fröhlichen Zukunft mit aufgehender Sonne. Mädchen werden immer interessanter und die Gefühle entwickeln ein Eigenleben. Die Musik des Jahres scheint Auslöser für Sehnsüchte und erste Liebeskümmernisse zu sein: Gazebo „I like Chopin“, Kajagoogoo „Too Shy“, Robin Gibb „Juliet“, Rod Stewart „Baby Jane“, Laid Back „Sunshine Raggae“, Paul Young „Come Back And Stay“ ... Geier Sturzflug mit „Bruttosozialprodukt“ kann ich so streberhaft mitsingen wie Oli P. das später in diversen Chart-Shows tut. Nenas „99 Luftballon“ machen mich aber nicht so an. Dann eher DÖF mit „Codo“. Später werde ich das Lied beknackt finden, nur nicht die Stimmen der Humpe-Schwestern (Ideal & 2Raumwohnung). Der 6 Jahre alte Klassiker im Ferienlager – diesmal im Mecklenburger Malchow – bleibt „We Will Rock You“ von Queen. Wir bilden auf dem Turnhallenfußboden einen Kreis und schlagen unsere Handflächen zum Takt rot.

1984
„Only You“, dieses A-cappella-Stück der Flying Pickets finde ich bewundernswert, aber irgendwie nervig. Noch schlimmer ist Stevie Wonders „I Just Called To Say I Love You“. Da klingt „Relax“ von Frankie Goes to Hollywood cooler. Selbst noch, als es heißt, der Sänger sei schwul. Noch besser, vielleicht auch wegen des Videos, gefallen mir Duran Duran mit „Wild Boys“. Und „People Are People“ von Depeche Mode braucht noch nicht mal ein Video, um bei mir einen coolen Eindruck zu hinterlassen. Zu Laura Branigans´ “Self Control“ spiele ich auf meinem alten Federballschläger Luftgitarre. Erst mit 16 Jahren werde ich feststellen, dass mir die Gitarre nicht so liegt. Andere Instrumente natürlich auch nicht.
Im Sommer bin ich wieder in Malchow, an der Ostsee, aber auch in Polen und verliebe mich mit meinen „fast 13“ Jahren in eine 16-Jährige aus Warschau: Renata. Nach ihrem Gute-Nacht-Kuss bin ich beseelt.
Ich lasse mir von einem Rentner aus dem Haus gegen das wertvolle Westgeld der Oma die Bravo rüberschmuggeln und hänge Poster in mein Zimmer.

1985
Ende Mai sterben in Brüssel bei einem Krawall-Gedränge im Fußballstadion 39 Personen. Darüber wird auch auf dem neuen Privatsender Sat.1 berichtet. Meine West-Berliner Cousine besorgt mir ein Walkman und macht mich damit überglücklich. Ich höre Tears for Fears mit „Shout“, „19“ von Paul Hardcastle, Harold Faltermeyers „Axel F.“, „Rock Me Amadeus“ und „Take On Me“ von a-ha, am liebsten aber Depeche Mode. Ich bezeichne mich sogar als Fan von ihnen. Auf Modern Talking lasse ich mich nicht ein, höchstens in der Tanzschule, da muss ich.
Im Kiez-Park läuft Opus´ „Live Is Live“ in der Endlosschleife.
Klassendiscos werden als langweilig empfunden, private Feten als geheimnisvoll. Manchmal kümmere ich mich um die Musik. Ich sehne mich nach Urlaubserlebnissen, gerade nach meinem letzten Ferienlageraufenthalt und dem im FDJ-Schulungslager Biesenthal. Politik ist lästige Pflicht, in der Erinnerung bleibt die Kür: „Moonlight Shadow“ von Mike Oldfield und Herzschmerz nach der Freiluftdisko, weil die Auserwählte mich nur „urst okay“ findet. Aber es gibt ein Abschiedsküsschen, immerhin. Im Kino läuft „Der Garten Eden“, ein Film, den ich „sehr gut“ finde. Vor allem, weil er mit erotischen Szenen gespickt ist.
Den restlichen Sommer verbringe ich mit gebrochenem Arm in Thüringen. Nachdem der Gips wieder ab ist, schnappt mir ein Mitschüler Djamila, die neue heimliche Liebe, weg. Die ganze Welt scheint schlecht zu sein. Erst drei Jahre später wird Djamila sich für mich interessieren. Aber da ist sie mir mitlerweile zu dick geworden.
Im Herbst ziehe ich nach Hellersdorf um, nutze aber jedes freie Wochenende, um in die alte Heimat zurückzukehren. Unter der Woche hänge ich mit meiner neuen Clique rum. Neun Tage vor meinem 14. Geburtstag tritt mit dem Ableben meiner Großmutter der Tod in mein Bewusstsein. Ende der Kindheit.

1986
Tschernobyl. Ich frage mich, ob ich jemals wieder Waldpilze essen kann, weil die auch nach Jahrzehnten radioaktiv sein sollen. Nach der Kinderferienlager-Ära fahre ich im Sommer ins (Zelt-)Lager für Arbeit und Erholung. Für 250 Ostmark stehe ich um 6.00 auf und arbeite bis mittags. Nachmittags gehe ich auch schon mal nackt baden. Und am Wochenende wird zur Musik eines Dorf-Djs getanzt. Er spielt den „Holiday Rap“ von MC Miker G. & Deejay Sven und „Geil“ von Bruce & Bongo. Eigentlich ein doofes Lied, aber da man „geil“ nicht sagen soll, hat das Lied etwas Befreiendes. Vor allem, wenn es vom Rundfunk boykottiert wird, so wie Falcos „Jeanny Part I“. Von den Ärzten, die ich auch gerne höre, dürfen einige Songs gar nicht erst verkauft werden. Aber darüber brauche ich mir im Osten keine Gedanken zu machen. Rio Reisers „König von Deutschland“ ist offenbar nur an meiner Schule nicht erwünscht. Das klingt der Schulleitung zu monarchistisch. Mit Satire hat man es nicht so. Dass die B-52´s ihren Bandnamen von den hochtoupierten Frisuren der beiden Sängerinnen ableiten und keine imperialistischen Kampfbomber verherrlichen, geht auch keinem auf.
Freiheit bedeutet 1986 für mich: Urlaub, Wald, Sonne, Wasser und Mädchen. Daran wird sich auch später nichts ändern.

1987
Perestroika in der Sowjetunion. Abrüstungsverträge. Politisches Tauwetter. Auch die Winter werden wärmer. Mathias Rust landet am Tag der sowjetischen Grenztruppen mit einer Cessna neben dem Roten Platz. Honecker besucht den Westen. Im Fernsehen wird „La Boum – Die Fete“ mit der hübschen Sophie Marceau erstmalig gezeigt. Der Schmuse-Hit zum Film: „Reality“ von Richard Sanderson. Ich bin 15 und kann die pubertierende 13-jährige Vic nur zu gut verstehen. Ihre Eltern hingegen nicht. Jahre später sehe ich den Film noch einmal, als Vater, und denke: „Dass die Eltern da so ruhig bleiben können ...“ Eine Mitschülerin erzählt mir vertraulich von ihrem Schwangerschaftsabbruch und ich frage mich, wann ich wohl endlich Sex haben werde. Ich bin für Grundschüler Handballübungsleiter, werfe aber nach einem Jahr das Handtuch. Ansonsten gebe ich mich cool und rauche Pfeife. Im Lager für Arbeit und Erholung bin ich ein „alter Hase“, dusche nackt mit den „Girls“ und tanze mit meinem „big Kumpel“ Tom Pogo zu Billy-Idol-Hits. Das funktioniert auch bei den alten Sweet-Songs aus den 70ern, stelle ich fest. Neben NDW, Punk & New Wave entdecke ich also auch die Oldies. Für Rick Astley & co haben Tom & ich nur Verachtung übrig. Dem Massengeschmack, sagen wir, könne man sich nur verweigern. Und so sitze ich auch noch im nächsten Jahr betont angewidert in der Schuldisco, bis meine mitgebrachte Billy-Idol-Kassette vom Dj eingelegt wird.
Insgesamt finde ich das Leben „beschissen“, bin aber „auf die Zukunft gespannt“.
Nach der 10. Klasse gehe ich aufs Gymnasium, der Erweiterten Oberschule.

1988
Zeit der Jugendliebe. Man kann gar nicht groß und oft genug „Ich liebe dich!“ in Briefen schreiben. Man tauscht erst Küsse, dann Ringe aus und fordert Wochen später zumindest die Ringe wieder zurück. Man ist anfällig für Schnulzen wie „Bright eyes“ von Art Garfunkel, das nach 9 Jahren mit der Valensina-Werbung wieder eingeschenkt wird. Die Charts interessieren mich nicht. Die bestehen ohnehin nur aus Milli Vanilli, den Pet Shop Boys, Whitney Houston und Kylie Minogue. Kylie finde ich erst später, ab ihrer Zusammenarbeit mit Nick Cave (1995 „Where the Wild Roses Grow“), beachtenswert und sexy.
Am 7. März bin ich bei dem Depeche-Mode-Konzert in der Werner-Seelenbinder-Halle dabei. Ein Glücksfall, obwohl ich ja jetzt Billy-Idol-Fan bin ...
Auf dem Gymnasium entdecke ich neben den alten Punk-Stücken der Ramones und The Clash meine wahre musikalische Heimat: die „anderen Bands“ aus dem Osten. Ich gehe zu Konzerten von Sandow, Feeling B., den Skeptikern, Big Savod und die Art. Es muss rocken und möglichst politische Sprengkraft haben.
Unter Freunden bin ich aber vor allem für meine Liebe zur 60er-Jahre-Musik bekannt. Ich höre die Kinks, Janis Joplin, The Who, aber auch Cat Stevens.
Endes des Jahres wird die übersetzte sowjetische Zeitschrift „Sputnik“ verboten. Weil die Perestroika-Sowjets Geschichte jetzt kritisch aufarbeiten, die Ostberliner Regierung aber nicht mitziehen möchte. Dabei wird es Zeit für Veränderungen.

1989
Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking. Wie kann man da Bobby McFerrins „Don´t Worry, Be Happy“ hören? Oder – schlimmer noch – Roxette und David Hasselhoff? Ich nehme bei „Parocktikum“ auf DT64 meine alternative Musik auf. Die aus dem Osten, aber auch Westgruppen wie Fehlfarben, Einstürzende Neubauten, Ton Steine Scherben, Aktuelles von den Sugarcubes (mit Björk), den Pixies und Pogues, Punk & New Wave von den Sex Pistols, Joy Division, The Cure und The Clash. Crossover-Impulse und Altbewährtes erschließen sich mir teilweise als Neuland, auf dem ich für den kommenden Herbst richtig Tritt fasse.
Aber erst trampe ich im Sommer allein zur Ostsee und fliege mit Freunden ( und mit Rückflugticket!) nach Budapest. Dort lasse ich mir in einem Plattenladen das Album „Flowers“ von den Stones und eine Live-Platte der „Doors“ überspielen. Die Doors werden „meine Band“. In den nächsten Jahren kaufe ich mir alle Platten von ihnen und alle Bücher über sie. Vor allem die Gedichte Morrisons haben es mir angetan. Oft bedaure ich, Woodstock um 20 Jahre verpasst zu haben. Ich versuche jetzt, intensiv zu leben, weiß aber oft nicht, wie. Dann rollt der Stein auch schon ins Wasser, verursacht die Ausreisewelle, setzt Massen und mich für die Wende-Demonstrationen in Bewegung, reißt die Mauer ein.
Von meinen 100,-DM Begrüßungsgeld kaufe ich mir die LPs „If I Should Fall from Grace With God“ der Pogues und „Doolittle“ der Pixies. Die Deutschen aus Ost und West versuchen währenddessen hüftsteif „Lambada“ (von Kaoma) zu tanzen. Als Vorspiel auf die Wiedervereinigung. Ich bin 18 und habe das Gefühl, es genau im richtigen Augenblick zu sein.


II.

Seit seiner Schulzeit im Tübinger Stift beschäftigte sich Friedrich mit philosophischen Ideen. Sie sollen ihm helfen, das Dasein zu begreifen und Zeiten der Ratlosigkeit mit Gewissheit zu durchstehen. Wie die Zeit der Armut, die ihn zwingt, Hauslehrer bei einer Bankiersfamilie in Frankfurt zu werden. Dort verliebt er sich in die Hausherrin, über die er auch Gedichte schreibt. Es bahnt sich ein Verhältnis an, das jedoch entdeckt wird. Friedrich muss Frankfurt verlassen. Vier Jahre später erfährt er in Bordeaux vom Tod der Geliebten und kehrt krank und geistesgestört zu Fuß nach Frankfurt zurück.
In den kommenden Jahren erholt er sich nur scheinbar. Er beschäftigt sich aber weiterhin und existentieller denn je mit Philosophie und Dichtkunst. Friedrich versucht, beides zu vereinbaren, denn Vernunft muss für ihn in Schönheit gipfeln und Gedichte sind in seinen Augen am besten geeignet, Ideen zu transportieren. Also versucht er auch jetzt ein Gedicht zu schreiben, das seine philosophischen Gedanken aufnehmen kann.
Der Titel steht schon fest und klingt nach der Bestandsaufnahme seines Daseins. Friedrich ist inzwischen Mitte Dreißig, hat also die Hälfte seines Lebens bereits hinter sich. Er schaut zurück und fürchtet den Blick nach vorn. Dann macht er sich an die Arbeit: Zwei Strophen müssen genügen, denkt er, eine für das Gewesene, eine für das Kommende. Eine für die ideale Welt der Innerlichkeit, die andere für die raue Wirklichkeit.
Das Gedicht ist bilderreich und steckt voller Symbole. Formal ist es aber streng und bedurfte keiner überflüssigen Worte. Denn es drückt das Gegensätzliche so klar aus wie der Anblick eines halb leeren / halb vollen Glases „heilignüchternen“ Wassers.
Im Jahre 1805, als das Gedicht erscheint, wird Friedrich in Tübingen vollends für geisteskrank erklärt und einem Tischler in Pflege gegeben.


Friedrich Hölderlin:

Hälfte des Lebens

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

Samstag, 28. Juni 2008

093 | Sinn des Lebens

Regen. Endlich Regen. Er spült das Fieber aus der Luft und wischt den klebrigen Schweiß von den Blättern der Bäume. Mein Kopf atmet wieder kühlen Verstand. Kein hitziges Verzetteln mehr, keine Maßlosigkeit, nur der barfüßige Gang zur wiedergefundenen Mitte.
Ich versuche in den Zufälligkeiten, die um mich her passieren, Zusammenhänge zu erkennen, glaube aber, dass diese Zusammenhänge Trugbilder sind:
Ein liegen gebliebener Murakami-Roman, der mich eigentlich begeistert, zwei sich eines Mittags neben der Haustür paarende unbekannte Großfalter, die von einem anderen Planeten zu stammen schienen und hier ihre Flitterwochen verbrachten. (Abends paarten sie sich immer noch neben der Haustür.) Ein runtergefallenes Weinglas, das ganz blieb, um später beim Abtrocknen zu zerbrechen. Ein Anrufer, der nichts zu sagen hat, ein E-Mail-Kettenbrief, der zum Nachdenken über die Vergänglichkeit einlädt. (Wer ihn wohl verfasst hat?) Aufhänger darin ist der Tod einer jungen Frau. Stunden später kommt von einem Bekannten ebenfalls die Nachricht vom Tod einer jungen Frau, seiner Freundin.
Und mit dem Regen kommt immer auch die Schwermut.
Wie gut erinnere ich mich an die Frau, die ich schon als Mädchen kannte? Wie gut habe ich sie überhaupt gekannt? Wer geht als nächstes? Ungeduldig trommelt der Regen ans Fenster.
Eine zur Phrase verkommene Weisheit fällt mir ein:
„Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst.“ Für die Hinterbliebenen der jungen Frau so tröstlich wie die Mär vom gerechten Gott.
Menschen, die in mein Leben traten oder ich in ihres, sehe ich vor mir. Auch Menschen, die schon immer dagewesen zu sein schienen und es plötzlich nicht mehr sind. Menschen, die lästig wurden oder bedeutsam, als es zu spät war. Was war, was bin ich ihnen?
Da tut es einen Schlag gegen die Tür, wie wenn jemand anklopft oder ein später Vogel dagegenfliegt. Liegt er jetzt mit gebrochenem Genick davor wie die toten Fliegen auf dem Fensterbrett, das ich längst abwischen müsste? Spuren beseitigen, wie der Regen.
Aber sobald die Sonne durchbricht, werde ich rausgehen, den Kopf freilaufen, weil ich lebe. Und weil das mit dem Verstand bei geistiger Kurzatmigkeit auch nicht immer so klappen will.
Wer weiß, vielleicht besteht der Sinn des Lebens auch nur darin, das Beste aus allem zu machen. Und manchmal ahne ich da draußen auch, wie ich es für mich anstellen kann.

Sonntag, 25. Mai 2008

Auf dem Weg

Morgens an einer Landstraße mit uralten Linden zu beiden Seiten, an einer Allee, die nach Norden führt. Keine Ahnung, wie ich dort hingekommen bin. Aber ich bin da und ich bin allein. Kein Gepäck dabei, nur ein Lied im Kopf.
“Are you going to Scarborough Fair?”
An dieser Landstraße hört meine Flucht auf, beginnt die Hinbewegung zum Ersehnten. Keine Stagnation mehr, kein bloßes Durchspielen von Möglichkeiten, sondern tun, gehen, loslassen. Und vorwärtsträumen:
Durch Mecklenburg zur Ostsee, wo das Meer sich teilen wird. Dann durch Schwedens literarische Wälder. Dort lege ich mich ins Moos - und träume mich weiter.
“Parsley, sage, rosemary and thyme”
Meine Reise ist geradlinig und durchbricht den Kreislauf, welchen die Vernunft gern aufzwingt, den Gefängnishof-Kreislauf, der mich träge machte und schwindeln ließ. Mein Weg geht durch Mauern und Zeiten. Er ist alt wie der älteste Traum.
“Remember me to one who lives there”
Und du? Du lachst? Nennst es abfällig „Romantik“? Ich nenne es „wahres Leben“. Du sagst, es sind nur Worte. Aber es sind Samen, aus denen ein Zentaur aus Dichtung & Wahrheit erwachsen kann. Wer ihn streckenweise reitet, erkennt sich selbst und verliert die Angst davor, etwas verlieren zu können. Die Angst, verletzt zu werden. Die Angst.
Sieh, wie es übermütig durch ironisches Unkraut geht, das aus deiner Bodenständigkeit sprießt. Unkraut! Keine Linden, keine Alleen und keine Zentauren.
Aber Ironie ist gefühllos. Und bloße Bodenständigkeit zieht den Geist herunter, in Grabestiefe. Den Geist, der sich aufschwingen möchte. Aufschwingen zum Gesang der Lerche, zu den Erinnerungen, die einem einflüstern, wohin der Weg führen sollte.
“For she once was a true love of mine.”
Kennst du den Ort, wo die besten Gefühle der besten Menschen unsterblich sind? Das ist das Ziel meiner Reise.
Und du? Reicht dir, gut zu essen, guten Sex und keine Schmerzen zu haben? Reicht es, lange zu schlafen, ohne wahrhaftig zu träumen?
Falls du mich eines Morgens suchen solltest, weißt du, wo du mich finden wirst. Ich bin auf dem Weg.

Sonntag, 4. Mai 2008

Junges Glück

Sie gehn auf Sonnenwegen,
Spazieren Hand in Hand.
Sie war direkt verlegen,
Als er ihr Blümchen fand.
Sie will nur diesen Einen:
Er warnt vor Stolpersteinen,
Er warnt vor tiefen Pfützen.
Als würde es was nützen.

Er ruft sie täglich an
Und nennt sie „kleine Maus“.
Sie sagt nur noch „mein Mann“
Und „unser schönes Haus“.
Für andre sind sie blind.
Selbst wenn sie Rentner sind,
Wolln sie einander stützen.
Als würde es was nützen.

Er lässt sie nie im Stich.
Wenn er zur Arbeit fährt,
Sagt sie: „Ich liebe dich!“
Und wenn er wiederkehrt,
Geschwächt und etwas kühl,
Gibt sie ihm das Gefühl,
Er könne sie beschützen.
Als würde es was nützen.

Dienstag, 29. April 2008

Der getigerte Schmetterling

Der getigerte Schmetterling
Will keine Tigerente sein
Und auch kein Schwein
Mit schwarzen Streifen.

Der getigerte Schmetterling
Ist kein Trauermantel oder – ärmer:
Ein Totenkopfschwärmer.
Er ist nicht bloß Seele.

Er ist das Leben.
Er fällt gern auf
Und nimmt in Kauf,
Dass seine Tarnung keine ist.

Jagen will er jedes Ding,
Das flieht, wenn er schreit.
Fliegen will er, wenn es schneit.
Er möchte nicht nur flattern.

Er will Unsterblichkeit
Für letzte Wochen.
Jetzt wird nicht mehr gekrochen,
Jetzt hat er Biss.

Montag, 28. April 2008

Terrassenschach

„The same procedure as last year?” – “The same procedure as every year.“

Ein warmer Maitag. Weiß beginnt.

Der blasse Läufer holt Bier aus dem Kühlschrank, der blasse Springer holt Gläser.
„Ich trink´ aus der Flasche“, sagt der Läufer und trinkt.
„Wusst´ ich doch nicht“, mault der Springer und gießt sich das Bier schnell ins Glas.
„Ich trink´ immer aus der Flasche“, sagt der Läufer und trinkt.
Dem Springer läuft Schaum über den Glasrand auf den Tisch.
„Huch!“, sagt der Springer und trinkt etwas Schaum ab.
„Wär´ dir so nicht passiert“, sagt der Läufer und trinkt.
„Ich hol´ schnell einen Lappen“, sagt der Springer und springt in die Küche.
Dann sitzen sie wieder zusammen und trinken gemeinsam Bier. Der Springer sieht zur Nachbarterrasse rüber.
Dort löst der blasse König ein mittelschweres Sudoku. Er sagt kein Wort.
Die blasse Dame sitzt daneben und sieht geradewegs zum dunklen Turm von vis-à-vis. Zwischen ihnen toben ein paar kleine Bauern.
Die Dame spricht über grüne Bäume und Discounter-Angebote. Dabei lächelt sie dem Turm zu. Der lächelt zurück.
Der König sagt kein Wort. Er probiert jetzt ein leichtes Sudoku.
Die Dame beschwert sich leise über die lauten Bauern. Und lächelt dabei.
Der Springer sieht, wie der Turm der Dame zuzwinkert.
"Gardez!", flüstert der Springer dem Läufer zu und stößt ihn mit dem Ellenbogen an.
Da bekleckert sich der Läufer, der gerade aus der Flasche trinken wollte, und flucht.
Der König sieht auf und erhebt sich.
Er wolle reingehen. Das Wetter. Zu warm. Er fühle sich matt.

Samstag, 29. März 2008

092 | In ein paar Tagen

Sicher, in ein paar Tagen, spätestens Wochen, sitzen wir sonnenverwöhnt im Straßencafé und genießen das wie erste kulinarische Genüsse der Saison. Dann tragen wir fast beiläufig unsere Sonnenbrillen und unsere Wirkung auf andere zur Schau. Sind voller Selbstwert- und Frühlingsgefühl, voller Sinnlichkeit und Pheromonen.
Aber jetzt? Sind wir Wartende, denen man es nicht ansieht. Wir laufen im blinden Aktionismus durch windige Straßen, fühlen das kaum noch auszuhaltende Bedürfnis, uns verlieben zu wollen wie Tom Hanks und Meg Ryan. Genau so.
Aber wir gleichen Hugh Grant in „Notting Hill“, der zu Bill Withers „Ain't No Sunshine” und Al Greens “How Can You Mend a Broken Heart?” durch London irrt.
Wir zweifeln, sind auf der Suche nach dem, was wir nicht festhalten konnten, in Berlin, Stuttgart oder Osnabrück. Wir wollen vergessen und leiden darunter, dass wir es nicht können; warten auf die Zeit, die uns dabei helfen muss.
Wir haben die Aura von Unberührbaren und suchen unser Heil im Chat. Oft sind wir bereits morgens müde, zählen abends Jahre und vertane Chancen durch und stellen gleich alles in Frage. Nachts gehen wir trotzdem viel zu spät ins Bett. Wer kann auch schon schlafen, wenn er wie Hugh Grant leidet.
Aber ganz sicher: In ein paar Tagen, spätestens Wochen, sind wir voller Frühlingsgefühl. Dann wird alles anders. Wie jedes Jahr.

Mittwoch, 26. März 2008

Damals, als ich glücklich war

Damals, als ich glücklich war,
Kam der wilde Wein
Uns in den Sinn,
Fielen die Gedanken
Wie wertlose Groschen
Zum Tanz der Moleküle.

Wir lachten über Clowns,
Die es ernst meinten,
Erfanden uns
Eigene Götter,
Bauten ein Haus
Für sie und uns
In erfüllten Räumen.

Bücher wurden unlesbar,
Maltest du mit Himbeereis
Ein Herz ans Fenster.
Wir tasteten Horizonte ab
Und entdeckten uns dahinter.

Im Herbst kultivierten wir
Den wilden Wein
Für eine bessere Ernte,
Weil die Bienen,
Die wir streicheln wollten,
Noch für uns schwärmten.

Noch grünte der Ahorn,
Noch bäumte sich die Sonne auf.
Wir waren geblendet wie Ikarus,
Damals, als ich glücklich war.

Heute fällt die Erinnerung
Allabendlich ein,
Schließt mit jedem Glas Wein
Leise eine Tür,
Dreht sich der Raum
Langsam zur Neige.

Samstag, 22. März 2008

Verdrossenheit

Der Februar versprach mir das Blaue vom Himmel,
Der März schickte wieder nur Schnee.
Die Landschaft bedeckt sich mit nasskaltem Schimmel,
Damit ich vor Sehnsucht vergeh´.

Was knospet und sprießt, ist der Rede nicht wert.
Der Himmel bleibt wortbrüchig grau.
Und wenn jemand über die Frühblüher fährt,
Dann interessiert´s keine Sau.

Der Frühling ist diesjahr ein einziger Flop.
Nur Kirschblüten leuchten so satt
Wie billigster Kitsch aus dem Asia-Shop,
Den keiner gern kauft, aber hat.

Ein klein wenig Sonne, ein klein wenig Liebe -
Und alles wird schön wie vor Jahren:
Die Landschaft, der Kitsch und die hungrigen Triebe;
Selbst die, die wir still überfahren.

Donnerstag, 20. März 2008

Das Gefühl ist klüger als der Verstand,
Sagtest du,

Als ich nicht verstand,
Warum du mich verlässt.

Klug erklären konntest du es kaum.
Klug war auch nicht, was ich fühlte.

Es tat nur weh.

Sonntag, 16. März 2008

Bleibende Bilder

Sind wie entwertete Briefmarken, mein Freund,
Abgelöste Zeichen
von Ansichtenkarten und Abschiedsbriefen.
Sammlerstücke in weißgepresster Faust,
Die ich hilflos bleibend öffne, wenn der Wind geht.

Klebende Bilder, nicht von der Hand zu weisen
Von verblasener Luft .
Verschwommen und wertlos sind sie;
Vergilbte Antworten winden sich bei Flauten.
Nur die Fragen, mein Freund, bleiben stets frisch

Und gehen retour.