Nach einem ausgedehnten Frühstück wollte ich an den Strand. Es war wie immer: sanfte Wellen, Möwen und Kapuzenpaare mit archaischer Sammelleidenschaft. Die Frauen waren, wie so oft, die Aktiveren. Alles Kunsterzieherinnen, dachte ich. Einige hatten sich auf glattgelutschtes Treibholz spezialisiert, andere wollten nur was für die Jackentasche: Muscheln und was sie für Bernstein hielten. Was eine dieser Kapuzinerinnen allerdings mit dem feuchten Muschelsand vorhatte, den sie in eine Plastiktüte schaufelte, bleibt mir ein Rätsel.
Schnell war ich am südlichen Strand angelangt, wo ein unterirdischer Flusslauf über 885 m vom Schmachter See in die Ostsee fließt. Dort befindet sich auch die futoristische Rettungsstation des Binzer Architekten Ulrich Müther, der auch den „Teepott“ in Warnemünde entworfen hat. Die Rettungsstation (1968 gebaut, 2004 saniert) ist so rundlich wie ein auf die Seite gelegtes Ei. Und sie sieht aus wie ein Sandmann-UFO aus dem Filmstudio Babelsberg. Ein tolles Fotomotiv in Weiß, wenn vereinzelte Moos-Spuren wegretuschiert werden.
Die ganze Zeit über war nasser Schnee gefallen und hatte inzwischen meine Mütze aufgeweicht. Dann kann ich auch weitergehen, dachte ich. Immer am Wasser lang, irgendwann bin ich in Sellin.
Irgendwann war ich aber nur noch als einziger unterwegs. Aus dem feinen Sandstrand war eine Geröllwüste geworden, kilometerlang. Nasse Rundsteine, welche ein Eiszeitgletscher vor sich hergeschoben haben musste, bis er vor dem Hochufer kapitulierte. Ich kapitulierte nicht, auch nicht, als die ersten Bäume den Weg versperrten. Darunter wegtauchen, darüberklettern, runterspringen und noch einmal und noch einmal. Auch kilometerweit. Von 4 Jahren Karatetraining war nicht viel Wendigkeit übrig geblieben und von 4 Marathonläufen höchstens ein dumpfes „Weiter!“.
Weil ich Promenier- statt Workout-Klamotten anhatte, ärgerte mich schon der erste Moosstriemen auf der Hose. Den zweiten steckte ich besser weg. Als Schuhe und Hosensäume nass und schlammig wurden, mir der Mützenlappen unentwegt über die Augen rutschte und ich mich schon 4 Stunden unterwegs befand, war mir alles egal. Merkwürdig nur, dass die Selliner Seebrücke immer weiter wegzutreiben schien, nachdem sie überhaupt aufgetaucht war. Es war bloß gut, dass kein eisiger Wind wehte.
Für die Landschaft hatte ich kaum Blicke. Ich musste beständig darauf achten, nicht neben einen der Steine zu treten, schließlich saß ich vor einem Jahr wegen Beinbruchs noch im Rollstuhl und die Metallschiene ist immer noch am Knöchel angeschraubt. Aber beim Innehalten: Drei Schwäne bilden im Wasser ein gleichschenkliges Dreieck, zwei identisch gekleidete Angler blinkern nach Meerforellen, einen Wellenschlag neben mir das Steilufer, aus dem vor kurzem etwas abgebrochen zu sein schien.
In Sellin ging es dann noch einen Steilweg hoch. Oben stellte ich fest, dass es auch einen Aufzug gibt. Aber darauf kam es nun genauso wenig an wie auf den fortzusetzenden Weg zur Bushaltestelle. Unterwegs der Vergleich mit Binz: Sellin wirkt bedrückender. Altdeutsches Flair, Erinnerungen an DDR-Zeiten, viel Grau, wo Weiß war.
Wieder in Binz duschte ich, zog mir den feinen Zwirn an und leistete mir als Kontrast zum Survival-Training ein erlesenes Essen im „Olivio“, einem Hotelrestaurant.
Vor den Terrassenfenstern hingen unzählige Lichterketten, die sich in den polierten Weingläsern widerspiegelten. Hinter milchiggrünen Plexiglaswänden wächst erleuchtetes Bambusgras. Sehr stilvoll, sehr gemütlich. Die junge Kellnerin verstand ihr Handwerk und hatte darüber hinaus eine frische Art, die keine falsche Würde zuließ.
Alles sehr köstlich: die „Essenz von Meeeresfischen“ (Fischsuppe), der „Wildbarsch aus dem Strelasund“ auf „Gurkentagliatelle“ zu Püree. Dazu ein Gavi di Gavi, eine Crème brûlée als Dessert und ein Brandy als Abschluss. Gefühlte Vollkommenheit.
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