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Sonntag, 19. Mai 2002

018| Rheinsberg

Heute morgen entschloss ich mich zur Rückkehr nach Berlin, weil es ständig nieselte. Aber den Vormittag wollte ich noch in Rheinsberg zubringen.
Milchkaffee zum Wachwerden im barock anmutenden "Seepavillon". Die Einrichtung könnte man als geschmackvoll, wenn auch bieder bezeichnen: an der Wand Van Goghs "Sonnenblumen", auf den Tischen größtenteils noch Kunstblumen. Aber das Zanderfilet hier ist gut. Man hat jetzt sogar – ganz weltoffen – Filet vom Strauß im Angebot. Und im Hintergrund – ganz traditionell – den Wiener Walzer von Strauß. Dezent, versteht sich. Nein, versteht sich nicht! Auf einmal tönt von draußen DJ Ötzis "Hey Baby!", morgens um 10.30! Im seniorengemäßen Rheinsberg! Ein anderer dicker DJ kommt mit Mikro in den Pavillon und macht bei einem Rundgang Sprechproben. Sehr skurril das Ganze. Dazu der schielende Kellner mit dem Tatterich und die Seniorin, deren Perücke explodiert zu sein scheint ...
Schließlich kündigt der DJ die Modenschau einer Boutique "mit Laiendarstellern" an, die sich im Hintergrund mit Sekt Mut angetrunken haben.
Dann wird kommentiert: "Als erstes sehen Sie Nadine und Claudia. Sie tragen ein Seidenkleid ..." Ich stelle mir beide in einem Kleid vor, bis ich auf Nadines (oder Claudias?) schwarzen Tanga aufmerksam werde, der neugierig durch den weißen Stoff schimmert.
Bei einer üppigen Blondinen jenseits der Vorzeigejahre, die aber durchaus noch eine Seemannskneipe mit schlüpfrigen Liedern unterhalten könnte, gibt es von einem greisen Kurgast spontanen Zwischenapplaus. Seine nicht minder greise Gattin, welche er kurz zuvor angeblafft hatte, weil sie an einer Treppe zu stürzen drohte, sitzt ihm wohlwollend gegenüber. Auch von "Conny und Gaby", die "fesche Sommermode" vorführen, ist der Alte schwer begeistert.
Ein anderes älteres Paar lässt sich davon unbeeindruckt Kohlrouladen servieren.
Mich scheint man mitlerweile für einen rasenden Reporter zu halten, da ich mir mit ironischem Lächeln die ganze Zeit Notizen mache. Und um möglicherweise im Lokalteil des "Ruppinischen Anzeigers" besondere Erwähnung zu finden, posiert die üppige Blondine besonders ausdrucksstark vor meinem Tisch und lässt mich tief in ihre Augen und ihr Dekolleté blicken. Vielleicht auch, um von den Preisschildchen abzulenken, die an jedem Kleidungsstück hängen.
Inzwischen ist es Mittagszeit geworden. Ich gehe wegen der Empfehlung eines Freundes in den unweit gelegenen "Seehof", einem vor 5 Jahren sanierten Feinschmeckerrestaurant mit angebundenem Hotelbetrieb. Das taubenblaue Haus stammt noch aus der Zeit des großen Preußenkönigs und besticht neben dem exklusiven Speisenangebot durch seine stilvoll-schlichte Ausstattung. Bei besserem Wetter kann man vom historischen Hofgarten aus die Dampfer beobachten, bei schlechterem wie jetzt im Kaminzimmer oder im Wintergarten sitzen.
Den Gästen sieht man Geist und Geschmack an, obwohl auch hier jemand seine Frau beim Essen fotografieren muss.
Es gibt unter anderem "Kartoffelsuppe im Brotlaib", "Bouillabaisse von heimischen Fischen" und "Saibling mit Zitronenbrennnesselsoße". Ich bestelle "Steinbeißer auf Wokgemüse" und dazu Fassbrause. Der Kindheitserinnerung wegen. Die Brause ist köstlich und nicht zu süß, im Gegensatz zur Bedienung. Alles ausnahmslos junge Kellnerinnen, die beim Einschenken sogar den linken Arm formvollendet hinter den Rücken legen.
Und der Fisch ist erstklassig zubereitet, wenn auch etwas schwach gewürzt. Ein wenig geniere ich mich, wenn ich daran denke, dass ich noch vor wenigen Stunden im Auto geschlafen habe und nun unter die Gourmets geraten bin. Allerdings wird man es mir sicherlich genauso wenig ansehen wie jemandem, der gerade Sex hatte. Und überhaupt ist der Sprung von einer Welt in die andere immer noch eine der spannendsten Angelegenheiten. In diesem Sinne fahre ich nach Berlin zurück, wo im Regen der "Karneval der Kulturen" stattfindet.

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