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Samstag, 20. Oktober 2007

091 | Nehringen


Für eine Woche nahm ich mir eine Auszeit.
Da ich meine Idyllen im Norden weiß, mich aber nicht zwischen Mecklenburg oder Vorpommern entscheiden konnte, bezog ich genau an Nordvorpommerns Grenze Quartier, im Winzig-Ort Nehringen an der Trebel.
Nehringen, so entnimmt man es den Beschreibungen, besitzt „das letzte erhaltene Ensemble schwedischen Barocks in Vorpommern“. Aha. Das wird den meisten so viel sagen wie der 2. Hauptsatz der Thermodynamik und wenig Lust machen, dort hinzureisen. Was schade wäre. Denn Nehringen besitzt vor allem Flair.
Es ist ein kleines, malerisches Gutsdorf mit Kirche, Gutshaus und –park, einer Handvoll Katen, Häuschen und Gehöften. Alles wirkt hier zeitlos, entstammt aber augenscheinlich dem 18. und 19. Jahrhundert. Das ist vorstellbarer.

Weil die Schweden nach dem 30-jährigen Krieg in Vorpommern nun einmal Fuß gefasst hatten, wurde ihnen das Land letztlich auch zugesprochen. Anfang des 18. Jahrhunderts war ein gewisser Graf von Meyerfeldt Generalgouverneur für Rügen und Vorpommern. Der fand Nehringen wie ich bezaubernd und ließ sich 1720 ein Gutshaus und zwei angrenzende „Kavaliershäuser“ bauen, um Besuch unterzubringen. Vielleicht fand er Nehringen allerdings nicht nur bezaubernd, sondern vor allem „strategisch bedeutsam“. Schließlich hatten die letzten 20 Jahre vor seiner Ankunft die Dänen Pommern besetzt. Ein ständiges Hin und Her!
Nicht umsonst stand hier auch einmal eine Grenzfeste, von der bloß noch die breite Ruine des so genannten „Fangelturmes“ im Gutspark übrig ist. Dort steht er seit dem frühen 14. Jahrhundert auf einem Hügel. Und wäre er nicht so baumumwachsen, könnte ich ihn von meinem Stubenfenster aus sehen, so wie die Kirche und das alte Pfarrhaus.
Dicht heran darf man an den Fangelturm derzeit nicht. Er ist abgesperrt, weil er sich offenbar für seinen Zustand schämt und Zudringlinge mit zerbrochenen Backsteinen bewirft.

Graf von Meyerfeldt jedenfalls ließ 1721 und in den folgenden sechs Jahren die Andreas-Kapelle von 1350 zur barocken Schlosskirche umgestalten. Dann war es vorerst gut, das Barock-Ensemble perfekt. Das heißt, 1744 musste der 1598 gebaute Kirchturm neu errichtet werden. Irgendwie hört so etwas schließlich nie auf.
1730, als die Arbeiten an der Kirche abgeschlossen waren, wurde übrigens noch ein Pfarrwitwensitz gebaut, eine einfache Kate, die ebenfalls erhalten ist.

In Nehringen, dem zeitweiligen Garnisonsort, ging es wie in ganz Mecklenburg-Vorpommern nicht immer so friedlich zu, wie es den Anschein hat. Die Herzogsfamilien des Nordens machten sich früher das Leben schwer, weil oft viele Familienmitglieder gleichzeitig regieren wollten. Da zerstückelte man dann schon mal seinen Erbbesitz, was die Machtposition natürlich schwächte.
Kein Wunder, dass im 30-jährigen Krieg Wallenstein Regent in Mecklenburg wurde und auch Pommern nach aller Kriegskunst verwüstete.
In dieser Zeit muss die Wehrmauer des Nehringer Kirchhofs mit seinen Schlüsselschießscharten entstanden sein. Ob dort allerdings jemals Flintenläufe rausguckten, weiß ich nicht zu sagen.

Dass sich in Nehringen alle zusammengehörigen Barockbauten erhalten haben, ist gar nicht selbstverständlich. Denn die mussten vor allem 40 DDR-Jahre über standhaft bleiben. Und hätte sich der hier ansässige Küster, Herr Bergemann, von dem wohl bereits die Großeltern auf dem Kirchhof liegen, damals nicht so stark für den Erhalt der St.-Andreas-Kirche gemacht, wäre diese wohl mitsamt Mehmel-Orgel, Kanzel, Decken- und Tafelgemälden, Beichtstuhl und Patronatsloge abgerissen worden.
Heute steht die Kirche unter Denkmalschutz und der Herr Bergemann hat für seine gute Tat das Bundesverdienstkreuz erhalten.
Ein zweites Kreuz sollte man im übrigen für denjenigen bereitlegen, der sich für die dringend erforderliche Sanierung des Gutshauses und Fangelturmes stark macht.

Als ich mir ohne Furcht vor fallenden Steinen die Kirche und den Kirchhof in Ruhe besah, tuschelten die gelben Blätter der verschnittenen Linden über mir bewegt wie alte Leute. Was der Fremde hier wohl tue? Ich antwortete nicht, sondern lauschte in den goldenen Oktober hinein: drei Vögel hielten einen Schwatz, eine Biene brummte wie ein winziger Traktor vorbei, irgendwo kletterte ein Eichhörnchen einen Baum hoch.
Auf dem Boden zwangen Moos und braunes Laub alte Grabplatten zur Ruhe.
Ein mit Zäunchen umfriedetes Grabmal sah ich mir genauer an. Dort liegt ein Carl Freiherr von Pachelbel-Gehag-Ascheraden. Was für ein Name! Ob er mit dem süddeutschen Musiker – einem Bürgerlichen - verwandt war? Wohl kaum. Oder mit dem Rügener Baron von Ascheraden? Schon eher.
Denn geboren wurde er 1859 in Zimkendorf. Das liegt bei Stralsund. Mit 82 Jahren starb er im benachbarten Keffenbrink, drei Jahre vor Kriegsende. Sein Titel ist auf der Grabplatte ablesbar, nicht aber, was er für ein Mensch war. Vielleicht ein pommerscher Stechlin, mit dem das Gute der alten Zeit wegstarb.

Ein Platz, den der Freiherr vielleicht wie ich besonders in sein Herz geschlossen hatte, ist die 1911 erbaute und von 1983 bis 1990 rekonstruierte Klapp- und Zugbrücke über der Trebel. Auf ihr stand ich oft bei bestem Herbstlicht und blinzelte übers Wasser und bewachsene Moor. Hier war der „Pass von Nehringen“, der sonst schwer zugänglichen Landesgrenze.
Von dieser Holzbrücke aus wanderte ich ins Mecklenburgische, nach Wasdow oder einmal nach Groß Methling:

Die Landschaft hatte die Ruhe weg und der Himmel war so weit, dass mein Geist wieder zu fliegen lernte.
Über dem Weg, der wie die Abzugsgräben die Trebelniederung durchschneidet, lagen in Kopfhöhe Spinnfäden. Auf dem Boden krochen Raupen und Käfer, waren Spinnen und Schnecken unterwegs, in der Luft Eintagsfliegen und Schmetterlinge, die wie ich das Wetter für einen Ausflug nutzten.
Ganz in meiner Nähe landete lautlos ein Schwarzer Milan.
Dafür knisterte und flatterte im Gesträuch von den kleineren Vögeln und Phantommäusen. Nur einmal sah ich so eine Maus. Sie lag frisch erlegt vor mir auf dem Weg. Der Milan wird sie zuvor fallen gelassen haben, um mir zu bedeuten, wer der Herr im Revier sei.

Die gesamte Natur war beseelt und hielt ihre Andacht. Mir war, als beobachte sie mich mit stockendem Atem, ob ich ihrer auch wirklich gewahr würde.
„Ja!“, schrie der Milan. Ja, dachte ich, ja!
Ein mir entgegenkommendes Auto schunkelte trunken von Schlagloch zu Schlagloch und wirkte dabei recht albern. Nur der Fahrer musterte mich bierernst.
Überhaupt schienen alle Autofahrer sich zu fragen, was einer wie ich hier tue, so allein im Niemandsland.
Ich wusste es.

Im angrenzenden Auenwald bemerkte ich neben dem inzwischen befestigten Weg eine Ansammlung von Feldsteinen, die sich von anderen auf Feldern zusammengetragenen Haufen darin unterschied, dass es in der Mitte eine Mulde gab. Vielleicht stand ich vor einem in Vorzeiten geplünderten Hühnengrab. Davon gibt es ja sehr viele in Norddeutschland.
Darüber grünte noch der Ahorn im Schatten der Buchen.

Beim Weitergehen hörte ich auf den Herzschlag meiner Schritte, dachte an die fahrenden Romantiker und fühlte mich, so aus der Zeit geworfen, recht wohl. Das Haus, in dem ich untergekommen war, ist übrigens eine alte Bauernkate von 1805, dem Jahr als Schiller starb. Auch daran musste ich unterwegs denken.
Bei ein paar weidenden Kühen, die nicht mal muh machten, blieb ich stehen und lauschte wieder in den Nachmittag. Es war nichts zu hören als die heiseren Rufe einer weiteren Wildgansformation am Himmel, nichts zu sehen außer Himmel und Erde und ein paar Rauchzeichen dazwischen.

Am Ende meiner Woche sah ich vor der Rückfahrt ein letztes Mal aus dem Stubenfenster zum alten Pfarrhaus über die Straße.
Hier muss der Freiherr von Pachelbel vorbeigegangen sein, um sich die neue Trebelbrücke zu besehen, dachte ich. Die Fenster des Pfarrhauses werden da schon schräg in ihren abgesenkten Fächern gesteckt haben. Aber es gab noch kein Moos auf dem Dach.
Von nebenan, aus einem Fenster des Pfarrwitwensitzes heraus, wird den Freiherrn eine alte Dame beobachten haben.
„Der Herr Carl ...“, hat sie vielleicht gedacht.
Und dann wurde es Herbst. Endgültig. So wie jetzt.

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