Letztens war ich in Brandenburg, der Stadt. Dabei hatte ich trotzdem den Ohrwurm von Rainald Grebe im Kopf, der sich nicht auf die „Wiege der Mark“, sondern auf das Land bezieht:
„In Brandenburg, in Brandenburg ist wieder jemand gegen einen Baum gegurkt. Was soll man auch machen mit siebzehn, achtzehn in Brandenburg ...“
So schlimm war es natürlich nicht. Aber dennoch: Selbst Freunden erscheint das erinnerte Brandenburg an der Havel trist und seelenlos. Obwohl es noch diese gefühlte Seele, diese gefühlte DDR gibt. Dort, wo die Stadt im Westen angekommen ist, wo saniert und gebaut wurde, entsteht bei demografischer Rückschrittlichkeit leider bloß der traumhafte Eindruck eines potjomkinschen Dorfes. Beispielsweise vor der wunderschönen Jugendstilvilla Lehmann in der Plauer Straße.
Authentischer wirken irgendwie die zerfallenen Bauten oder gar mutwillig Zerstörtes - wie der Webcam-Monitor auf der Brücke am Domstreng und der Parkautomat davor. Das ist Brandenburger Jugendkultur wie sie im Rufe steht! Da steht sie sogar Berlin in nichts nach. Für den fehlenden wirtschaftlichen Antrieb Brandenburgs springen Fördervereine und Förderprogramme als Ersatzmotoren an. Der Rest ist Schläfrigkeit, trotz der hübschen Beschreibung des „Lebens in der Stadt“ in der Webpräsenz.
Die Alte Mühle am Mühlendamm illustriert den Zustand Brandenburgs: Ein sanierter und ein ruinierter Gebäudekomplex werden von einer Brücke verbunden. Darunter fließt Wasser, fließt Zeit.
Weiter westlich, am Salzhofufer, sitzen die Trinker. Sie haben sich viel Würde im Verborgenen bewahrt und stieren fatalistisch wie Angler auf die Niedere Havel. Als würde dort eines Tages eine Antwort vorbeischwimmen oder ein Schiff anlegen, das sie mitnimmt.
Nach einer Zeitreise ins 11. Jahrhundert wird ihnen wahrscheinlich nicht der Sinn stehen, vielleicht aber der damit verbundene Weg, der aus dem Schlamassel herausführen kann: Auf dem 11.000qm großen Areal direkt hinter ihnen bietet die BAS (Brandenburg an der Havel Arbeitsförderungs- und Strukturentwicklungsgesellschaft mbH) gestrandeten Existenzen die Möglichkeit dafür. Ganz im Sinne der experimentellen Archäologie entstand und entsteht dort ein Slawendorf, das mehr ist als ein Abenteuerspielplatz für Schülergruppen oder ein Mittelalterfest für Besucher. Hier lernt man über archaische Arbeitsprozesse seinen menschlichen und sozialen Wert kennen.
Der tatsächlich im Mittelalter entstandene Dom („norddeutsche Backsteingotik“) enthält so viele erwähnenswerte Kunstschätze, dass man genügend Leute damit langweilen könnte. Interessanter ist wie so oft, was vielleicht nicht im Reiseführer steht. Da wären die sogenannten Drolerien zu nennen. Das sind im Brandenburger Dom an die Gewölbedecke gemalte Wasserspeier-Köpfe, die allerdings kein Wasser spucken sollen. Denn sabbern die offenen Münder, zeigen sie an den Stellen, wo einzelne Backsteine fehlen, ein undichtes Dach an. Auf Ideen kamen die Leute ...
Überhaupt die Backsteine. Da wurde früher von Tüchtigen eine Bodenfläche ausgehoben und wieder mit Lehm, Ton, Wasser, Sand und Pferden gefüllt. Jawohl, mit Pferden. Die stampften über Wochen alles zu Matsch und gaben Urin als Konservierungsmittel dazu. Der verhinderte Salpeter am späteren Mauerwerk. Darauf muss man auch erst mal kommen!
So ein in Form gebrachter Matsche-Stein wog seine 9 kg. 600 Stück davon musste ein Arbeiter in 12 Stunden pro Tag fertigen, bevor er als Wackerstein ins Bett fallen konnte.
Steine ganz anderer Art befinden sich am Haupteingang des Domes. Dort sieht man erhobenen Hauptes fabelartige Szenen auf Kalksteinkampfern: Ein Fuchs als Priester predigt den Gänsen, bevor er sich auf sie stürzt und dafür letztlich hingerichtet wird. Vis-á-vis spielt ein Affe Schach, daneben lässt sich ein Hebekran erkennen ... Der Sinn erschließt sich nicht überall. Was die Sache für mich spannend macht. Wer hinterließ solche Rätsel?
Und was waren das für junge Männer, welche ihre Namens im 16. Jahrhundert ins Chorgestühl ritzten? „Peter“ steht dort, glaube ich mich zu erinnern, und „Johannes Stabe“. Ob es irgendwo noch mehr Spuren von diesen „Scratchern“ gibt? In einem Archiv, einem Kirchenbuch? Wer waren Peter und Johannes?
Vor etwa 10 Jahren wanderte ich im Herbst mit einem Freund zwischen Jena und Auerstedt herum. Wir wollten auf den Feldern der Schlacht von 1806 eine Nachlese halten, Patronenhülsen oder Koppelschlösser finden. Außer einem verendeten Bussard fanden wir jedoch nichts. Aber mein Freund, der Hobby-Archäologe, zeigte mir bei sich bereits gefundene Schätze. Da war nichts, was das Denkmalamt auf den Plan rufen könnte: ein paar Scherben von „frisch abgeregneten Äckern“, nicht mehr. Doch eine dieser Scherben war sein ganzer Stolz. Ich konnte nur zuerst nicht erkennen, warum. Sie war terrakottafarben, klein und ohne Muster. „Aber der Fingerabdruck!“, sagte mein Freund. „Vor beinahe 2000 Jahren hat ein römischer Töpfer auf genau dieser Scherbe seinen Fingerabdruck hinterlassen!“ Das beeindruckte mich.
Und es ist wie mit den Namen im Chorgestühl, nur bescheidener, weil zufällig.
Was bleibt insgesamt von menschlichen Spuren im kollektiven Gedächtnis erhalten?
Im Brandenburger Dom hängt das Familienwappen derer von Katt. Es zeigt eine Katze mit erlegter Maus im Maul. Der berühmteste von Katt ist als Katte durch seinen Tod für den geliebten preußischen Thronfolger Friedrich II. bekannt, der mit ihm stiften gehen wollte. Das mit dem Tod weiß man. Wer weiß aber etwas über Kattes Leben? Er bleibt als die Maus aus seinem Familienwappen in Erinnerung.
In der St.-Petri-Kapelle neben dem Dom hängen an der Empore die Wappen anderer honoriger Familien, zum Beispiel das der von Ribbecks aus dem Havelland. Wie viele Familienmitglieder dieses Namens wird es gegeben haben und geben? Und wie viele ungeschriebene Romane gehen damit einher? Was aber erinnert wird, ist eine Birne, ist ein Gedicht aus der Feder eines ganz anderen „Fon“.
Die Petri-Kapelle ist übrigens nur selten zugänglich, zumeist bei Kunstausstellungen. Eigentlich viel gab es auch nicht zu sehen, doch empfand ich die Atmosphäre als äußerst erwähnenswert. Der Gang durch den verwilderten Vorgarten, in dem ein Holzkahn modert, war wie der Eintritt durch eine geheime romantische Pforte. Dazu das stille Herbstlicht ...
In der Kapelle roch es nach alten Zeiten, Kirchenbüchern und Familiengruften. Das weiße Zellengewölbe kontrastiert dort alles etwas futuristisch. Die offenen Sakramentsnischen sind leer, wirken aber vollkommen. Und dass der letzte Slawenfürst Brandenburgs unter der Kapelle begraben sein soll, war fühlbar möglich.
Brandenburg. Brandenburg ist nichts Homogenes, sondern die Summe aus Eindrücken. Brandenburg hat Potential, ist Berlin im Kleinen, nur verwurzelter, weniger sexy, aber genauso arm. Genauso reich.
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