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Mittwoch, 28. April 2004

070 | Biken

Letzten Sonntag habe ich die erste lange Radtour dieses Jahres gemacht. Und dann gleich 4 Stunden im Sattel gesessen. Jede dieser Stunden kostete anschließend meinem Hintern einen Tag Regeneration. Dabei wollte ich eigentlich nur durch den Grunewald fahren, ganz entspannt, wie einst die Könige mit ihren Mätressen, wenn sie aus dem Jagdschloss kamen. Aber für die Spazierfahrtidylle waren zu viele Hunde mit Herrchen und Frauchen unterwegs. Klein, groß, dick, doof, über- oder unterzüchtet. Herrchen, Frauchen und Hunde. Letztere sind ja schließlich auch nur Menschen. Und manch kleiner Kläffer, bulliger Boxer oder versnobter Windhund wirkte wie das Alter Ego seines Strippenziehers.
Dann gab es Hunde, die Radfahrer und Biker anfallen („Der will bloß spielen ...“), Hunde, die nicht ausweichen können, und Hunde, die an langer Leine als wandelnde Fallen unterwegs sind. Das Wort Slalom musste neu definiert werden.
Selbst im Grunewaldsee: lauter Hunde. Was Wunder, dass der Nachbarsee „Hundekehlesee“ heißt.
Also machte ich, sobald es ging, einen großen Bogen um den Wanderzirkus und fuhr parallel zur S-Bahn und Avus an zwei Kleingartenkolonien vorbei (Kolonie „Hundekehle“ und Kolonie „Hundekuhle“!). Dort: Ruhe und Schlaglöcher, Kinder, die schaukeln, Mütter, die Beelitzer Spargel schälen, und - nur noch ab und an: ein Hund.
Am Großen Stern, wo die Avus untertunnelt ist, suchte ich das Weite: bis zum Havelstrand, die Havelchaussee südlich, und dann den Kronprinzessinnenweg weiter zum S-Bahnhof Wannsee. Weil es langsam Spaß machte, folgte ich der Königstraße als Königstrecke Richtung Potsdam.
Im Pavillon des Glienicker Schlosses machte ein Fotograf bei perfektem Licht erotische Aufnahmen von einem Model auf Highheels mit kurzem Rock, langem, offenem Mantel und professionellen Posen. Sie arbeiteten diskret und leise.
Auf der Glienicker Brücke, 100 Meter weiter, war es dagegen laut, keine Kulisse mehr für einen Agentenaustausch, dafür alles schön saniert. Aber eben zu viel Lärm für den Eintritt in Brandenburgs ruhige Hauptstadt. Denn Potsdam bleibt für mich zwar eine Stadt mit Potential, großen und verstreuten Kunstschätzen, ist im Grunde aber langweilig-gediegen. Stahnsdorf und Teltow, Orte, die auf meiner weiteren Route lagen, sind dagegen zu komplex, als dass ich sie mit einem armen, aber gemütlichen märkischen Dorf vergleichen könnte: Bürgerhäuser und Plattenbauten zwischen Normalität und einigermaßen blühender Landschaft. Aber nichts Reiz- oder Geheimnisvolles im Vorbeifahren.
Obwohl gerade Teltow links und rechts der Hauptstraße kein Ende zu nehmen scheint, kommt der Übergang nach Berlin abrupt. Plötzlich ist man in Lichterfelde oder Zehlendorf. Dort sieht es nicht großstädtisch aus, aber es ist immerhin Berlin. Und irgendwo darin wusste ich am Sonntag meine Dusche und meine Couch. Alles andere durfte auf der Strecke bleiben.

Freitag, 9. April 2004

069 | Urbi et orbi

Hoppla, da bin ich wieder! Auferstanden bereits am Karfreitag, wenn auch erst gegen Mittag. Immerhin, denn Frühjahrsmüdigkeit und Nieselwetter wollen mich glatt wieder ins Bett schicken. Ein wenig fühle ich mich wie die Bäume da draußen, die in sich ruhen, aber nur halbherzig blühen und darauf warten, dass ihnen der Lebenssaft von alleine einschießt. Ich genieße – nach der gestrigen Einkaufshektik – die Stille, höre (kein Widerspruch!) die Meisen durchs offene Fenster und vermisse höchstens noch das Knacken einer alten Schallplatte oder das brennender Holzscheite im Ofen, um mich vollends behaglich zu fühlen. Behaglich und etwas kraftlos, ja, das trifft meinen Zustand. Vielleicht hätte ich mir mit der Auferstehung bis zum Sonntag Zeit lassen sollen; aber der Winter war schließlich lang genug.

Ich recke mich, prüfe schon mal den Reifenluftdruck am Fahrrad und wische liebevoll den Staub vom Angelkram. Jetzt, da das eigentliche Jahr beginnt, wenn die ersten Angler am See sitzen. Davor war nur Geplänkel und Wunsch nach kleinen oder (besser!) großen Fischen („Manntje, Manntje, Timpe Te ...“). Mal sehen, was dieses Jahr anbeißt: abgetauchte oder neue Freunde, das große Glück? Hält die Schnur? Geht man baden?

Vom Fenster aus beobachte ich die lange Schlange vor der Neuen Nationalgalerie. „MoMA“ heißt das Stichwort und die Ausstellung in eigener Sache: Museum of Modern Art. Ausgesprochen wirkt es (ausgesprochen gut). Als Abkürzung hört es sich lächerlich an: MoMA! Wie der Name eines Indoor-Spielplatzes. Für eine Dada-Ausstellung wäre es okay, nur nicht für die visuellen Kavierhäppchen der Top-Moderne. MoMA klingt so hipp wie gleichnamiger Babybreihersteller in Werbespots rüberkommt. Aber wie unwichtig ein Name letztlich ist, weiß man ja nicht erst seit „Romeo und Julia“. Hingehen werde ich auf jeden Fall - wenn es sich ausgeschlängelt hat.

Falls es hier jemanden gibt, der/die meine Tagebuchaufzeichnungen (besser: Wochenbuchaufzeichnungen) regelmäßiger liest, als ich sie verfasse, wird er/sie sich vielleicht fragen, was ich die letzten beiden Monate getrieben habe. Die Antwort ist einfach: Wenn ich das abziehe, was mir zu privat oder banal erscheint, bleibt unterm Strich nicht mehr viel übrig. Geschrieben: (fast) nichts. Ausstellungen: (noch) nicht. Konzerte: nein. Kino: selbst das nicht. Vielleicht mal gut essen, aber davon kann ich nicht in einer Tour berichten. Kulturell bin ich also aus dem Training, halte mich höchstens mit Lesen geistig in Form (Tucholsky-Biografie).

Tja, manchmal macht der Alltag selbst aus Berlin ein Dorf. Man lebt nicht viel anders als in der Provinz, man hat nur mehr Möglichkeiten - neben Frühjahrsputz, Freundschaftsbesuchen und Feierabendbier. Wer die Berliner Möglichkeiten allerdings längerfristig nicht nutzt, sollte sich fragen, worauf sich sein Lokalpatriotismus (so er/sie hat) bezieht.

Die Meisen sind still geworden da draußen ...
Ob die Menschen in der Schlange vor der Neuen Nationalgalerie mehr Angst vor Anschlägen haben als die Angler im abgeduckten Umland? Nur so ein Gedanke. Und bevor ich das Fenster wieder schließe:
Wo auch immer ihr seid: Frieden & fette Beute, urbi et orbi, also: alles Gute zum neuen Jahr!