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Freitag, 23. Juli 1993

Narrenschellen

Das Läuten meiner Narrenschellen
Verstehst du und erträgst es nicht
Wenn andre sich zu uns gesellen
Hältst du mir Masken vors Gesicht

Samstag, 3. Juli 1993

In der Asche keimt die Spreu

Als ein Seemann ohne Steuer
Jage ich den weißen Wal;
Städte fressen meine Heuer,
Unterm Strich bleibt ein Lokal.

Dort bestell ich mir zum Wein
Grätenlos gebratnen Fisch;
Würgend schlucke ich allein
Am für zwei gedachten Tisch.

Jede Kneipe lockt mit Netzen,
Fest geknüpft für jeden Gast;
Nimmt er Abschied, hält er Fetzen
In der Hand nach seiner Rast.

Stirbt die Weisheit auch am Brand –
Traubensaft gebiert sie neu,
Setzt Visionen in den Sand:
In der Asche keimt die Spreu.

Vor mir flirrt der Tresenstrand,
Wartend steigt er wie ein Riff,
Drüber ebbt im Niemandsland
Das Modell von einem Schiff.

Segel blähen sich und tragen´s
Eingestaubt bis auf die See,
Auf dem Grunde meines Magens
Zuckt zerfleischt das Fischfilet.

Dienstag, 20. April 1993

Das Märchen von Dakhan auf dem Regenbogen

Im fernen Afrika lebte einst eine Herde Wildpferde.
Wenn die Sonne so hoch stand, dass die karge Steppe zu glühen schien, versammelten sich die Tiere unter einem uralten Affenbrotbaum, um in seinem kühlen Schatten Schutz und Ruhe zu finden.
Eines Tages, als die Tiere zur Mittagszeit wieder vor sich hindösten, geschah etwas Merkwürdiges. Ein kleines Wildpferd wurde geboren. Das war eigentlich nichts Besonderes, aber dieses Neugeborene war so seltsam, dass alle Wildpferde zusammentrabten. Im Nu herrschte helle Aufregung; die Hitze war vergessen, mit der Mittagsruhe war es aus.
„Wo ist es denn?“, wieherten die verdutzten Vierbeiner.
„So was ist mir mein´ Lebtag nicht vorgekommen!“, schnaubte das älteste Pferd und schüttelte seine silberne Mähne.
Das Merkwürdige war, die Herde konnte das Junge zwar anstupsen und riechen, aber sehen konnte sie es nicht; es war unsichtbar wie die heiße Steppenluft.
„Ein richtiges Pferd ist braun“, murmelte eine Stute, die eher grau war und von einem Esel abzustammen schien, „doch das hier ist weder braun noch hat es irgend eine andere Farbe.“
„Was wir nicht sehen können, das gibt es auch nicht", ergänzte das älteste Pferd.
Die anderen nickten eifernd, dass es dem unsichtbaren Wesen Angst und Bange wurde.
„Wir wollen es fortjagen!“, riefen sie laut. „Soll es doch sehen, wie es zurecht kommt!“
Die aufgebrachte Herde zog sich wie eine Schlinge um ihr Opfer zusammen. Mit wildem Gekreisch und Tritten wurde das arme Wesen aus ihrer Mitte in die Steppe gespuckt. Von Angst getragen, galoppierte es davon. Das Herz schlug ihm stärker gegen die Brust als seine unerfahrenen Hufe gegen das staubige Neuland. Wie ein heulender Wind fegte es in die weite Landschaft.

„Wir wollen ihn Dakhan nennen“, waren die einzigen Worte der Mutter, die ihn bei der Geburt begleitet hatten. Was dann kam, als sie seiner gewahr wurden, als sie seiner nicht gewahr wurden, war ein Alptraum.
Einsam und schluchzend irrte das ausgestoßene Geschöpf herum. Die Erde saugte seine Tränen hastig auf, hatte sie doch seit Monaten keinen Regen mehr gesehen.
Allmählich ließ die Angst nach, die Dakhan forttrieb. Sofort regte sich der Gedanke an etwas Wasser und den kühlenden Schatten eines mächtigen Baumes. So zog Dakhan weiter. Doch weit und breit gab es kein Wasser und auch keinen Baum. Die sengende Sonne schien unerbittlich auf ihn herab.
„Wie kann sie auch Mitleid für mich empfinden, wenn sie mich nicht sieht“, dachte Dakhan verzweifelt.
Und so lief er, bis er vor Erschöpfung zusammenbrach.

Da geschah das Wunder. Es machte sich erst durch einen leichten Luftzug bemerkbar, der Dakhan um die unsichtbaren Nüstern strich. Am blassblauen Himmel versammelten sich Wolken und drängten dicht zusammen. Woher sie kamen, wusste keiner genau. Sie schoben sich vor die erbarmungslose Sonne, dass Dakhan sich träumend unter einem uralten Affenbrotbaum glaubte.
Als wollten sie ihn wecken, begannen die Wolken ein dumpfes Getöse wie von Tausenden Buschtrommeln. Sodann schickten sie die ersten Tropfen eines gewaltigen afrikanischen Regens in die Steppe. Alle Sorgenfalten und Risse der dürstenden Erde wurden fortgewischt. Das spärliche Gras begann, wie aus tiefem Schlaf erwacht, sich den Wolken entgegenzuräkeln.
Als das Gewitter immer stärker wurde, erwachte endlich auch Dakhan. Er schlug die Augen auf und leckte sich mit unsichtbarer Zunge unsichtbare Tropfen von der weichen Schnauze. Erstaunt schaute er in den Himmel und lächelte. Die Wolken lächelten zurück. Dann schickten sie sich an, ihre Reise, die gerade erst begonnen hatte, fortzusetzen. Hier wurden sie nicht mehr gebraucht.
Der Regen ließ nach, allmählich kam auch die Sonne wieder hervor, die Dakhan nun wie ein lieber Freund erschien. Sprachlos vor Glück sah er den davonziehenden Wolken hinterher. Da entdeckte er etwas Eigenartiges: Aus dem nun satten Blau des Himmels hob sich ein buntgestreiftes Band ab, wie Dakhan dergleichen noch nie in seinem kurzen Leben gesehen hatte. Das Band wurde immer deutlicher, fing irgendwo in der nassen Steppe an und verlor sich in den ziehenden Wolken.
„Wer bist denn du?“, fragte Dakhan erstaunt.
„Ich bin der Regenbogen, ein Kind der Sonne und Wolken“, antwortete es mit fröhlicher Stimme.
Und Dakhan, dem von dieser schillernden Pracht seine eigene Unsichtbarkeit schmerzlich bewusst wurde, war erstaunt, dass dieser Regenbogen, der alle Farben der Welt zu besitzen schien, ihn nicht übersah. Darüber seufzte er dankbar und traurig zugleich, fasste sich Mut und schüttete dem Kind der Sonne und Wolken sein Herz aus. Der Regenbogen schien ihn zu verstehen und lächelte weise, als Dakhan mit seiner Geschichte endete. Da wurde Dakhan noch trauriger und obendrein wütend.
„Du hast gut lachen“, schluchzte er, „du bist bunter als jede Wildpferdherde, du bist glücklich.“

Der Regenbogen aber lächelte weiter.
Dann sagte er zum armen Dakhan: „Also gut, ich will dir helfen. Wenn du es schaffst, mich zu erreichen, bevor ich dahinschwinde, will ich dir meine zwei wichtigsten Farben schenken. Doch beeile dich!“
Das ließ sich Dakhan nicht zweimal sagen. Sollte er es schaffen, würde er seine Unsichtbarkeit verlieren. Was für eine Aussicht!
Er schluckte seine Tränen, suchte mit schnellem Blick den Regenbogenanfang am Horizont und galoppierte los. Dakhan war so schnell wie noch nie. Doch schien es ihm, als würde er sich nicht von der Stelle rühren.
So schloss er die Augen und flog über die regennasse Steppenerde, dass es nur so spritzte. Dann hatte Dakhan das Unmögliche fertiggebracht: Er erreichte den Boten der Hoffnung, bevor er ins Nichts verschwand.
Dakhan öffnete seine Augen und strahlte, als er mit zitternden Läufen zum Anfang des Regenbogens gelangte. Auch der Regenbogen strahlte, mehr noch als er lächelte, in den schönsten weißen, roten, orangen, gelben, grünen, blauen, violetten und schwarzen Farben.
„Nun komm herauf, Dakhan!“, lud er den Unsichtbaren ein.
Erwartungsvoll und aufgeregt nahm Dakhan seine letzten Kräfte zusammen und klomm den bunten Pfad empor.
Vorsichtig setzte er einen Huf vor den anderen. Je höher er kam, umso leichte fiel ihm der Weg. Endlich hatte er es geschafft. Stumm vor Staunen über sich stand Dakhan auf dem Regenbogen.
Da geschah es, dass ihm vom Geflimmer der Farben, der Höhe und Anstrengung schwindlig wurde. Dakhan stürzte in einen tiefen, tiefen Schlaf ...
Als er wieder aufwachte, stand die Sonne so hoch, dass die karge Steppe zu glühen schien. Dakhan blinzelte mit den Augen und erkannte, dass er unter einem uralten Affenbrotbaum lag.
Wo ist der Regenbogen, fragte er sich schlaftrunken. Wo bin ich? War alles nur ein Traum? Dakhan sah sich erschrocken um. Hinter dem Affenbrotbaum hatte Regen ein Wasserloch gefüllt. Dorthin stürzte er. Sein Herz schlug ihm im Hals, als er vorsichtig den Kopf über die glatte Wasserfläche schob.
Aus dem Wasserloch starrte ihn ein scheues, schönes Tier an. Es hatte schwarze Augen, einen schwarz und weiß gestreiften Kopf, zwei schwarzweiße Ohren und dazwischen eine schwarzweiße Mähne. Dakhan streckte sich weiter vor. Das Tier im Wasser tat es ihm nach. Sein Hals war ebenfalls schwarz und weiß gestreift und – platsch! – lag Dakhan im Wasserloch. Das scheue, schöne Tier aber war verschwunden.
Da begann Dakhan zu begreifen. Sollte ich etwa ...? Der Regenbogen! Dakhan erinnerte sich an die Worte des Regenbogens: ...will ich dir meine zwei wichtigsten Farben schenken, meine zwei wichtigsten Farben ... Er hat Wort gehalten!
„Ich bin sichtbar!“, wieherte Dakhan aus vollstem Hals. „Ich bin ja sichtbar!“
Er sprang wie von der Tarantel gestochen, zurück zum Affenbrotbaum, wo zwei Affen dösten.
„Ich bin sichtbar!“ lachte er sie an.
„Natürlich ist er sichtbar“, grinsten die Affen und schüttelten die Köpfe.
Von der Stunde an wurde Dakhan von den Affen Zebra genannt, wohl weil er bis in die späte Nacht um den Affenbrotbaum sprang und „Ich bin sichtbar!“ rief; aber so genau kann das niemand mehr sagen.

Der Affenbrotbaum jedenfalls steht heute immer noch. Und wenn gegen Mittag eine Zebraherde in seinem kühlen Schatten ruht, kann es schon passieren, dass eines der alten Tiere das Märchen vom Regenbogen erzählt, dem seine zwei wichtigsten Farben fehlen.