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Samstag, 25. September 2010

108 | Hinter einer Tür

„Schreibt man erschütternd am Ende mit d oder t?“, fragt ein Junge seinen großen Bruder. Der Satz hallt im Treppenhaus nach.
„Was?“, fragt der Große zurück. Der Große ist zwölf und gerade dabei, eine mit Aufklebern überzogene Wohnungstür zu öffnen. Vorsicht! Bissige Kinder! steht knurrend unter dem glotzenden Spion, Wilde Kerle schwarz daneben. Weiter unten umzingeln Piratensticker Reklame für den Heidepark Soltau. Und Bart Simpson lacht die Prinzessin Lillifee aus.
„Du weißt schon“, lässt der Junge nicht locker, „erschütternd, wenn jemand erschüttert ist.“
„Oder wenn ein Haus wackelt“, unterstützt ihn ein weiterer Bruder. Er ist der jüngste der drei.
„Nein, nicht so!“, protestiert der Mittlere irritiert.
Der Große dreht sich um, als ob ihnen jemand gefolgt sein könnte.
„Geht erst mal rein.“
Dann schließt er hinter seinen Brüdern und sich beinahe geräuschlos die Tür. Nur das Doppelklacken des Innenriegels wäre für jemanden, der jetzt draußen stünde, hörbar. Aber warum sollte ihnen jemand nachgegangen sein? Drei ganz normalen Kindern, die nicht unhöflicher oder lauter als andere auch sind.

Sie stehen zuerst unschlüssig im Flur der Wohnung. Es ist ihre Wohnung. In einem der Zimmer läuft sogar noch der Fernseher. Aber der ist eigentlich immer an. Nur wenn die jüngeren Brüder morgens trödeln, macht der Große die Kiste aus. Keiner dürfe zu spät zur Schule kommen, sagt er ständig, denn sonst gäbe es Probleme.
Bereits an der Wohnungstür riecht es so wie in einem Turnbeutel mit ungewaschenem Sportzeug.
„Zu Hause!“, freut sich der kleine Bruder und nimmt seinen Schulranzen von den Schultern.
„Ich habe Hunger!“, sagt der mittlere und wirft seine Tasche hin.
Der große Bruder blickt in den langen Flur. Die auf dem Laminatboden verteilte Kleidung, den Wäschehaufen weiter hinten, die mit Wachsmalern getaggten Korridorwände, all das sieht er nicht. Seine Augen tasten vielmehr, als wenn sie hören könnten, den Gang ab.
„Wo ist die Kleine?“
Der mittlere Bruder schiebt seine Tasche mit dem Fuß beiseite.
„Weiß ich doch nicht.“
„Sei nicht immer so frech!“
Ein typischer Erwachsenensatz. Der Große beherrscht sie alle.
„Ich bin doch gar nicht ...“, setzt der Mittlere an, aber da sieht er, wie sich in der hinteren Flurecke der Wäschehaufen bewegt.
Betont gelangweilt zeigt er nach vorn:
„Da ist sie doch.“
Aus dem Haufen taucht ein blasser Wuschelkopf mit tief liegenden Augen auf und sieht die drei verschlafen an. Der Große lächelt, aber der Wuschelkopf zieht ein schmerzliches Gesicht, hustet zweimal trocken und beginnt zu weinen.
Da lässt der Große seinen Rucksack hinabgleiten und geht über Kinderklamotten voller Schuhdreck und Staubflocken zu ihr. Mit einem zerknautschten T-Shirt aus dem Wäschehaufen wischt er ihr die ersten Tränen weg.
Ein wenig besorgt sieht er sie an: „Bist du krank?“
Die Kleine nickt schniefelnd und schmiert mit dem Handrücken frischen Rotz auf ihre Wangen. Der Große wischt mit dem T-Shirt nach.
„Ich habe Hunger!“, zieht der Mittlere die Aufmerksamkeit auf sich.
„Ich auch!“, zieht der Kleine nach.
Das Mädchen hustet erneut und weint leise weiter.
„In der Küche müsste noch Brot sein“, sagt der Große und streichelt den Kopf seiner Schwester, der sich heiß anfühlt, in den Wäschehaufen zurück. Mit fiebrigen Augen sieht sie zu ihm auf. Er scheint ihr so weit weg zu sein, dass sie kaum versteht, was er sagt:
„..., ob du auch Hunger hast!“
Das Mädchen schüttelt den Kopf und schluchzt so tief auf, als hätte sie lange die Luft angehalten. Davon muss sie wieder husten.
„Gesundheit!“, sagt eine überdrehte Zeichentrickfigur aus dem Fernseher von nebenan, während der Große das wirre Haar der Kleinen glatt streicht.
„Versuch´ noch etwas zu schlafen!“
Wieder einer dieser Sätze. Aber er funktioniert.
Die Kleine nickt, schließt ihre Augen und dreht den Kopf weg.

Während die jüngeren Brüder bereits in der Küche sind, geht der Große ins Wohnzimmer und starrt durch eine Staubschicht in die Super-RTL-Welt des Fernsehers. SpongeBob wird gerade von einem Werbeblock unterbrochen:
„Bist du mutig genug, ein Pirat zu werden?“ – „Du bist ein Transformer!“ – „Lust auf coolen Puddingspaß?“ - „Aus der Konditorei ...“ – „Tabaluga-Kids-Menue nur 3,99 an jeder Autobahnraststätte“ - „Riesenfete bei McDonalds!“
Der Große reißt sich los und folgt seinen Brüdern. Die schmieren sich in der Küche im Stehen Margarine auf Toastbrotscheiben.
„Brot, immer nur Brot“, mault der Mittlere.
Der Große überlegt:
„In meinem Rucksack sind noch zwei Bananen aus der Schule. Habt ihr auch was mitgenommen?“
„Ich habe noch einen Apfel“, sagt der Kleine.
Der Mittlere murrt weiter: „Ich will was Richtiges! Döner!“
„Du weißt schon“, sagt der Große, „dass unser Geld wieder alle ist.“
Aber der Wunsch des Mittleren ist größer als seine Einsicht:
„Trotzdem. Ich will Döner!“
„Verkauf doch deine besten Yu-Gi-Oh!-Karten“, schlägt der Kleine vor. Der Mittlere sieht ihn etwas verblüfft an, bevor er das Messer weglegt.
„Mach ich bestimmt“, sagt er und beißt in seine Brotscheibe.
„Weil einer aus meiner Klasse ...“ – er beißt dabei ebenso in seinen Satz - „der ist ganz scharf auf meine Holo-Karte.“ Um den Trumpf mit seiner wertvollsten Karte in Ruhe auszuspielen, lutscht der Mittlere etwas Margarine von seinem Daumen, bevor er laut weiterdenkt:
„Für den weißen Drachen könnte ich auch was bekommen.“
Der Kleine nickt anerkennend und beißt mehr vom Toast ab, als er gut kauen kann.
„Da werde ich für jeden von uns“ – der Mittlere sieht kurz zum Großen – „also mindestens zwei Döner kaufen.“
Der Kleine ist voller Bewunderung für den Mittleren, aber der Große hat gar nicht hingehört. Er nimmt sich ebenfalls eine Brotscheibe und reißt davon Stückchen ab, die er sich nachdenklich in den Mund schiebt.

Neben der halb leeren Brotpackung und der Margarine stehen auf dem Esstisch benutzte Teller mit Besteck, ein Gurkenglas voll ausgedrückter Teebeutel, leere Konservendosen. Dahinter drängen sich Gewürzgläser. Sie stehen wie Hinterbliebene bei einer Beerdigung um einen vergilbten Pizzakarton herum. Darauf liegt ein schmutziggraues Geschirrhandtuch zwischen mumifizierten Essensresten, gelben Krümeln und dunklen Fliegen. Toten Fliegen.
In der Spüle stapelt sich schwarz überpudertes Geschirr und wird von Spinnweben zusammengehalten. Die gibt es überall in der Wohnung, sogar in den offenen Schränken. Einige Netze hängen so tief von den Decken herab, dass man sie für die letzte Halloweendekoration halten könnte.

Vor vier Monaten konnten die Spinnen hier noch fette Beute machen. Überall gab es gemästete Fliegen, fast zu schwer für den Flug. Die Brummer kamen aus den prallen Müllsäcken und dem Kühlschrank, aber auch aus überlagerten Zwiebeln und Kartoffeln. Sie drehten einige Runden in der Küche, dann flogen sie über den Luftkorridor zur Toilette weiter und kehrten später zurück.

Auf der Toilette hatte mal jemand zu spülen vergessen. Der Nächste tat es auch nicht. Und beim Dritten verstopfte das Klo und lief über. Wer wollte das sauber machen? Es ging ja auch anders: Die Jungs pinkelten zuerst in leere Saftkartons, die sie anschließend ins Waschbecken kippten, manchmal aber auch unter dem Waschbecken stehen ließen. Noch einfacher war es jedoch, so wie ihre kleine Schwester direkt in die Dusche zu urinieren.
Große Geschäfte erledigen die Jungs immer in der Schule. Und nur am Wochenende verrichten sie ihre Notdurft ebenfalls wie die Kleine, die noch nicht zur Schule geht, auf Plastikschüsseln oder Kochtöpfen. Wobei Töpfe besser sind. Da kommt, wenn sich keiner findet, der sie ausleert, ein Deckel rauf und fertig. Und wer sollte sie schon ausleeren?
Wegen des Gestanks blieben alle Fenster angekippt. Dadurch wurden die Fliegen aber nicht weniger. Also schlossen die Kinder alle Fenster wieder und gewöhnten sich an die verdorbene Luft. Und eigentlich roch es bald nicht mehr nach Fäulnis und Verwesung. Denn es gab nichts mehr, was faulen oder verwesen konnte. Es begann bloß muffig nach Schimmel zu riechen, der sich wie ein Geschwür an einigen Wänden und auf dem abgestandenen Kot ausbreitete.
Letzte Fliegen, welche keine Nahrung mehr fanden, starben in den Spinnennetzen oder fielen verhungert vor die Fenster. Bald verschwanden sogar die Spinnen aus der Wohnung.

„SpongeBob!“, sagt der Kleine, als er mit den beiden anderen Brüdern das Wohnzimmer betritt.
„Macht erst mal eure Hausaufgaben ...“ – Der Satz kommt nur mit halber Kraft vom Großen. Aber selbst die versinkt langsam in der bunten TV-Unterwasserwelt.
„Haben nichts auf“, murmelt der Kleine hypnotisiert und setzt sich direkt vor den Fernseher auf den Fußboden. Neben ihm liegen wie im Flur eingestaubte Hosen, Pullover und Shirts, außerdem zwei mit der Playstation verkabelte Controller.
„Ich mach´ die Hausaufgaben nachher“, sagt der Mittlere und setzt sich ebenfalls. „Haben bloß Rechtschreibung auf.“
Der Große steht unschlüssig hinter seinen Brüdern und sieht zu, wie Patrick der Seestern laut schreiend vor einem riesigen Hai davonläuft.
Erst als sich SpongeBob mit einem kleinen Fisch unterhält, empfindet der Mittlere Langeweile und steht wieder auf.
„Ich will jetzt Playstation!“

Da ist der Große bereits mit einem Glas Wasser bei seiner Schwester, die vom Reizhusten wach wurde.
„Muss ich zum Arzt?“, fragt sie, nachdem sie das Glas leergetrunken hat.
Der Große sollte schnell antworten. Jedes Zögern würde Unsicherheit verraten. Welche Antwort aber kann er geben? Immer nur die falsche.
„Nein.“
Der Große lächelt.
„Morgen geht es dir bestimmt besser.“
Die Kleine nickt und lässt das Glas den Haufen runterrollen.
Dann fragt sie etwas, was genauso klingt wie ihre anderen Fragen, dem Großen jedoch alles abverlangt:
„Wann kommt Mama wieder?“

Der Große sieht sie fest an, was ihn selbst erstaunt. Er atmet zweimal ruhig ein, bevor er spricht:
„Du musst jetzt schlafen. Du musst einfach nur die Augen zumachen. Dann wird alles gut.“
Aber die Kleine starrt ihren Bruder regelrecht an. Ihr Blick wirkt klar, nicht mehr so fiebrig. Schon weicht der Große diesem Blick aus. Er muss es ja tun, weil er das leere Glas aufheben will, genau in diesem Moment. Er will es in die Küche bringen, nichts weiter. Mit dem Glas in der Hand erhebt er sich und sieht seine Schwester wieder an.
„Soll ich dir noch mal von Rotkäppchen und dem Wolf erzählen?“
Da schüttelt die Kleine den Kopf und schließt ihre Augen.

Vom Wohnzimmerfenster des dritten Stocks aus kann der Große die Straße gut einsehen. Nur wenn die Kastanien höher wüchsen, ginge es nicht mehr. Aber die Bäume sind seit Jahren krank und haben bereits braunfleckige Blätter, wenn sie zu blühen anfangen. Jeden Sommer sieht man ihr schwarzes Skelett zwischen dürrem Laub herbstlich hervortreten.
Die gehen sicher bald ein, denkt der Große. Nächstes Jahr ganz bestimmt.
Zwei Jungs aus seiner Klasse jagen mit ihren Rädern den Gehweg entlang. Ein alter Herr schimpft ihnen nach.
Dann sieht der Große eine Frau kommen, die es eilig hat. Für ein paar Schritte setzt sie sogar zum Lauf an. Wo sie wohl hin will, fragt er sich.

Im Zimmer hinter ihm wird es immer lauter. Erst haben seine Brüder beim Playstation-Spiel gelacht und die lustigen Schießgeräusche nachgeahmt, dann haben sie sich zum Spaß als „Looser“ und „Opfer“ bezeichnet und sind darüber richtig in Streit geraten.
„Seid nicht so laut!“, sagt der Große und wendet sich vom Fenster ab. „Oder wollt ihr wieder, dass der Nachbar klingelt?“
„Ich habe die Klingel abgestellt“, entgegnet der Mittlere, „hab´ einfach eine Socke dazwischengeklemmt.“ Er prustet vor Übermut und Albernheit los. Da muss selbst der Große grinsen.
„Er freut sich! Guck mal, er freut sich!“, ruft der Kleine begeistert, so als wäre ihm ein Wunsch in Erfüllung gegangen.
Jetzt lachen alle drei und beginnen sich mit den Pullovern vom Fußboden zu bewerfen. Als ihre kleine Schwester im Zimmer steht, halten sie ein.
„Ihr seid so laut“, schmollt sie schlaftrunken, wirkt aber so, als hätte sie gerne mitgemacht oder zumindest zugeschaut.
„Komm mal her zu uns“, lockt sie der Große.

Da klopft es an die Tür. Dreimal klopft es. Die Kinder erstarren wie Rehkitze im Feld, die den Mähdrescher hören. Alle vier ducken sich instinktiv ab.
„Still!“, flüstert der Große, obwohl niemand mehr etwas sagt. Er schaltet die Playstation und den Fernseher aus. Dann hält er, neben den Jungs auf dem Boden sitzend, seine Schwester fest.
Da klopft es wieder. Jetzt fünfmal.
Die Kleine drückt sich gegen ihren großen Bruder, als wollte sie zum Schutz in ihn hineinkriechen. Die beiden Jungs sind aufgeregt und sehen den Großen fragend an. Sie halten sich an den zwei Controllern fest, als könnten sie damit irgendetwas bezwecken. Dabei bräuchte der Große ihnen nur ein Zeichen zu geben, und sie würden mit ihm wie Kitze durchs Feld flüchten. Doch ihr großer Bruder gibt kein Zeichen, und Kitze flüchten auch nicht. Kitze bleiben so lange unentdeckt, bis sie vom Mähdrescher einfach überrollt werden.

„Aber wenn es ...“, beginnt der Kleine.
„Sei leise!“ Der Große zischt ihn an. „Oder willst du, dass sie uns finden?!“
„Die trennen uns dann nämlich“, flüstert der Mittlere.
Da rollen neue Tränchen, erst bei dem Kleinen, dann beginnt auch die Schwester zu weinen. Sie schluchzt immer heftiger, bis der Husten wieder da ist. Verzweifelt heult sie gegen die Schmerzen an.
„Ich will zu meiner ...“, bricht es aus ihr heraus. Aber da hält ihr der Große bereits den Mund zu.
Der Mittlere macht ein gefährliches Gesicht und beugt sich zur Kleinen, um sie abzulenken:
„Vielleicht steht ja der Wolf vor der Tür ...“
„Hör´ auf!“ Der Große wird böse.
„Der Wolf?“, fragt das kleine Mädchen. „Der von Rotkäppchen?“
„Nein, der von den sieben Geißlein“, flüstert der Mittlere verschwörerisch.
„Du sollst aufhören damit!“
Der Mittlere gibt sich schmollend und legt den Controller hin.
„Draußen ist sowieso keiner mehr.“
„Aber vielleicht war es ...“, beginnt der Kleine von neuem und wischt sich über sein nasses Gesicht.
Er beendet den Satz nicht, obwohl ihn diesmal keiner unterbricht. Vielleicht beendet er nicht mal den Gedanken dieses Satzes. Vielleicht hofft er einfach, dass das hier gut ausgeht, so wie im Märchen.

Unten, vor dem Haus bellt ein Hund. Den Himmel durchkreuzt grollend ein Flugzeug. Sonst ist es still. So still, dass man es schwer aushalten kann. Der Mittlere macht den Fernseher wieder an, drückt aber versehentlich die falsche Taste auf der Fernbedienung. Statt SpongeBob sehen die Jungs einen Live-Berichterstatter auf N24, der von schrecklichen Szenen, die sich abgespielt haben, spricht. Er sei immer noch völlig erschüttert.
Während der Mann das sagt, ist die Kleine in den Armen ihres großen Bruders eingeschlafen. Der deckt sie mit einem Pullover zu und sagt leise zum Mittleren, welcher wieder auf Super RTL schaltet:
„Mit einem t!“
Der Mittlere sieht ihn verständnislos an.
„Was?“
„Ich glaube“, sagt der Große, „erschütternd schreibt man am Ende immer mit einem t.“

Montag, 8. Februar 2010

107 | EOC-Silberhochzeit

Gestern Abend war ich nach 8 Jahren endlich wieder bei einem Element-of-Crime-Konzert. Damals präsentierten sie in der Arena Berlin ihre CD „Romantik“, jetzt, beinahe als Abschluss einer Tour durch den deutschsprachigen Raum, die Platte „Immer da wo du bist bin ich nie“. Ohne Komma. Und ohne Anführungszeichen.
So schön wie H.P. Daniels darüber heute im Tagesspiegel-online geschrieben hat (www.tagesspiegel.de/kultur/pop/H-P-Daniels-Element-of-Crime;art971,3024755), kann ich das nicht. Ich musste erst einmal googlen, was unter Mariachi-Melodien oder dem Bo-Diddley-Beat zu verstehen ist und bin jetzt schlauer. Aber ich kann bestätigen, dass es ein guter Abend war, mit guter Musik und Texten, wie ich sie liebe.
Wegen der Hallenakustik verstand ich zwar nicht alles, doch fühlte ich mich gleich wieder wie zu Hause, als altbewährte Songs erklangen. Songs, denen man nicht vergisst, dass sie einem seit Jahren Asyl gewähren.

H.P. Daniels hat sich in seiner Konzertkritik detailliert, aber einzig auf Element of Crime bezogen. Schade, denn zu meiner guten Stimmung trugen weiterhin nicht nur zwei Himbeer-Margaritas vorab bei, um mir das Warten schönzutrinken, sondern auch die Vorband: Florian HORWATH. Ein aus Tirol stammender Neu-Berliner, der mit seinen Jungs Musik macht, die mich irgendwie an die weniger stressigen Sachen von Velvet Underground erinnerte. Gefiel mir also. Und als sie zum Abschluss Norman Greenbaums 40 Jahre altes „Spirit in the Sky“ spielten, swingte ich mich gleich zur guten Laune rüber. Die wurde von den übrigen Konzertbesuchern beinahe mehrheitlich geteilt. Einem Publikum, das im Allgemeinen altersmäßig gemischt war, im Besonderen jedoch für eine Ü-40-Party rekrutierbar war. Kein Wunder, denn die Hauptgruppe kann auf 25 Jahre Bandgeschichte zurückblicken. So wünschten sich insgeheim etliche aus dem Publikum bereits nach dem Einlass einen Sitzplatz, als wären sie zur EOC-Silberhochzeit geladen. Was aber auch an dem Stress liegen konnte, den die überfrorenen Fußwege zur Konzerthalle verursachten.
Am Ende waren manche froh, heil im Bett angekommen zu sein, und empfanden das Konzert als „sehr gelungen“.
Früher hätten sie „geil“ gesagt; heute werden sie wehmütig, wenn „Damals hinterm Mond“ gespielt wird. Ein geiles Lied übrigens, seufze auch ich voller Wehmut.

Donnerstag, 4. Februar 2010

106 | Winterblues

Der Schnee von gestern zermatscht allmählich. Doch über den Frühling nachzudenken lohnt längst noch nicht. Am besten man hält, wenn man kann, die Füße still und bleibt schön auf seiner Couch liegen, bei Tee und einem guten Buch. Schon wegen der überfrierenden Nässe am Morgen und am Abend. Oder man geht, wie ich, mittags den Büchern entgegen. Das muss nicht immer der bekannte Weg zu Dussmann sein.
So entdeckte ich gestern, als ich auf unbekannten Pfaden durch den Tag rutschte, in der Weißenseer Gustav-Adolf-Straße 14 das „Mendel-Antiquariat“ (www.mendel-antiquariat.de). Und das ist so, wie man sich ein Antiquariat vorzustellen hat: ein Regallabyrinth mit Büchern und Ruhe bis unter die Decke.
Nur selten ertönte die Türglocke. Ich hatte also genügend Muße, mich umzusehen. Die Bücher dort sind keine bibliophilen Kostbarkeiten, sondern welche mit Gebrauchswert. So man den für sich erkennt. Die Bücher wollen gelesen werden. Vieles entstammt der DDR, aber es gibt auch ein Regal mit Kinderbüchern von hüben wie drüben. Ich kaufte mir Klassiker: Johann Gottfried Seumes gesammelte Werke in zwei Bänden mit der „Reise nach Syrakus“ (Sehnsucht nach Ferne!) und Jean Pauls „Flegeljahre“.
Wieder zu Hause hörte ich mir seit langer Zeit wieder melancholische Platten von Hans-Eckardt Wenzel an: „Traurig in Sevilla“ und „Lied am Rand“. Letztere Platte besteht komplett aus vertonten Gedichten von Theodor Kramer (1897-1958), den immer noch viel zu wenig Menschen kennen. Als Jude in Wien geboren, im Londoner Exil 18 Jahre vereinsamt, in Wien gestorben. Sein größtenteils unveröffentlichter Nachlass umfasst mehr als 10.000 Werke. Herta Müller, die Literatur-Nobelpreisträgerin, gab 1999 einige von ihnen heraus und nennt Kramer in einem Atemzug mit Paul Celan. Kramer, der Flaneur unter den Landstreichern.
In der Wende- und Nachwendezeit hörte ich ständig Wenzels erste Platten „Stirb mit mir ein Stück“ (1986) und „Reisebilder“ (1989). Auf dem Debüt-Album bereits schon mit vertonten Kramer-Gedichten.
Eines der beeindruckendsten ist für mich „Der reiche Sommer“ vom 12.04.1930 (auf der „Lied am Rand“-Platte):


DER REICHE SOMMER

Sie lagen zu zweit über Mittag im Sand
vor der staubigen Jutefabrik;
lose saß um die Hüften ihr Leinengewand
und die Sonne beschien ihr Genick.
Längst schon hatte der Staub, der aus Faser und Sack
stieg, die Lungen zur Gänze durchsetzt;
und sie fühlten sich oft schon vom süßen Geschmack
ihres eigenen Blutes benetzt.

Und sie tunkten ihr Brot in den Milchtopf, den Stich
in der Lunge verhielten sie gern;
denn sie wussten: sie hatten den Sommer vor sich
und der rasselnde Herbst war noch fern.
Rein und blau war die Zeit und die Luft roch nach Seim,
nicht allein ihre Haut schien geschält;
sie erzählten sich Dinge von einst, von daheim,
die sie bisher noch keinem erzählt.

Und es dünkte zu Mittag ihr eigenes Wort
Tag für Tag sie erstaunlich und weich;
noch war keine der roten Begonien verdorrt,
und bemalt war das Leben und reich.
Reich war alles: der Sand und das Gras und das Wehn
und die strahlende Glut im Genick;
und sie hörten verschattet die Spindeln sich drehn
in der staubigen Jutefabrik.


Als ich dieses und andere Kramer-Gedichte wieder von Wenzel interpretiert hörte, war ich kurz versucht, ihm über seine Homepage (www.wenzel-im-netz.de) einen Mail zukommen zu lassen. Doch was hätte ich schreiben sollen? Dass die meisten seiner Lieder mich immer noch erreichen und mir kreative Impulse geben? Ja, vielleicht hätte ich das tun sollen. Aber vielleicht hat mich auch nur der Winterblues mit seinem Ziehharmonika-Spiel fest im Griff.
Also schrieb ich keine Mail, machte mir noch einen Tee und warte ab.

Sonntag, 10. Januar 2010

105 | Schnee von gestern

Seit dem 2. Weihnachtsfeiertag liegt in Berlin Schnee, sind die Nebenstraßen nicht geräumt, macht die S-Bahn wieder Zicken. Und nicht nur die. Eine ältere Frau sagte im Fernsehen, dass es so was zu DDR-Zeiten nicht gegeben habe, das mit dem S-Bahn-Chaos. Dabei sorgten Verschleißerscheinungen, Versorgungsengpässe und Finanzierungsprobleme doch ständig für Chaos, will ich meinen. Bloß dass dieses Chaos nicht als chaotisch, sondern fatalistisch wahrgenommen wurde. Oder offenbar gar nicht, wie von dieser Frau. Selbst wenn sie Recht hat, wenn es zu DDR-Zeiten bei der S-Bahn zu keinerlei Ausfällen kam - so wie sie es sagte, erinnerte sie mich an Margot Honecker, die trotzig im vergangenen Herbst den 60. Geburtstag der DDR in Chile beging. Oder an noch Gestrigere, die ganz genau wussten, dass es so was bei Hitler nicht gegeben habe.
Ja, ja, die Erinnerung. Ein Moderator des RBB konnte sich nicht entsinnen, wann Berlin jemals so verschneit war. Ich schon, nämlich erst im letzten Winter. Da stapfte ich über den zugefrorenen Weißen See und musste mich im „Milchhäuschen“ mit einer Heißen Schokolade aufwärmen. Doch generell hat der Moderator natürlich Recht. Weiße Weihnachten ist wie der Weihnachtsmann zum Mythos geworden. Und weiße Winter gibt es fast nur noch an den schmelzenden Polkappen. Da wird man hier natürlich selbst bei Schneeregen ganz aufgeregt. Denn nur ein Gradchen kälter, schon überdeckte herrlichstes Weiß die ganze Alltagstristesse. Aber dazu kommt es meist nicht, vielleicht weil zu viele aufgeheizte Gemüter den Klimawandel zusätzlich beschleunigen. Und bald fangen die Deutschen sicher an, ihre grauen Winter so wortreich zu unterscheiden wie die Eskimos den Schnee.
Bietet Berlin seinen Nagern mit Abfällen und milden Wintern eigentlich ideale Tarn- und Lebensbedingungen, flüchten zumindest die Mäuse derzeit lieber in den Bundestag, wie um sich bei den höheren Tieren über soziale Kälte und eben Schneefall zu beschweren. Dabei sollen Schneespuren auch immer wieder auf den Örtlichkeiten des Reichstagsgebäudes zu finden sein. Beides Themen, welche die Medien vor allem zum chronisch schleppenden Jahresbeginn dankbar aufgreifen, um ihr winterliches Pendant zum Sommerloch zu füllen. Aber beides nichts im Vergleich zu einem angekündigten Unwetter mit Hamsterkäufen wie erst vor drei Wochen:
Der RBB zeigte gestern eine Reportage über die Folgen des Tiefs Daisy für Berlin. Nur gab es da nichts Berichtenswertes, von einigen gemütlichen Flöckchen, die es auf sage und schreibe 2 Zentimeter Schneedecke schafften, abgesehen. Wow! Dabei hätten die Bilder ganz dramatisch werden können, etwa wie beim Hochwasser 2002. Ja, sogar eine Sondersendung wurde für 20.15 angekündigt und - obwohl Daisy so harmlos wie Moshammers Yokshire-Terrier blieb - ausgestrahlt. Vergleichsweise als Warm-up für den Film, den RTL heute Abend zeigt: „The Day After Tomorrow“. Am Tage danach genau das Richtige für meine medial geprägte Erwartungshaltung.