Seiten

Samstag, 11. April 2009

100 | Usedom vor Ostern

Karwoche. Endlich Urlaub. Nach öfter Rügen einmal Usedom. Und das bei bestem Aprilwetter.

Wenn die Schwäne mit dem Sonnenaufgang ihre Nachtquartiere verlassen und rauschend auf der Ostsee landen, jogge ich zwischen den Seebrücken der drei Kaiserbäder, zwischen hochfahrenden Möwen, vertäuten Kuttern und stöckelnden Nordic-Walkern. An manchem Morgen kreuzt auch ein Nacktbader meinen Weg, wird ein toter Fisch oder Kormoran von prustenden Wellen angespült.

Nachmittags fotografiere ich im flaumgrünen, naturgeschützten Hinterland Tagpfauenaugen, Spechte, Falken und Hasen. Und uralte, gebrochene Bäume. Trügerische Oasen der Stille. Denn Touristen sind ganzjährig vor Ort, wenn auch noch erträglich. Und Verkäuferinnen, Restaurant- und Gutshofladenbetreiber, die von ihnen leben. So gut, dass sie es nicht nötig haben, freundlich zu sein oder ihr Preis-Leistungsverhältnis zu überdenken. Natürlich gilt das nicht für alle. Leckeren fangfrischen Fisch zum fairen Preis kann man beispielsweise im Restaurant „Fischstübchen“ in Neeberg lächelnd serviert bekommen. Obwohl gerade Usedomer Heringswoche ist, bestelle ich dort einen Ostseeschnäpel, den Steinlachs, der nur vor der Insel gefangen wird. Er schmeckt wie eine Kreuzung aus Zander und Lachs. Dazu ein Lübzer vom Fass.

In den Koserower Salzhütten, wo früher die Heringe am Strand in Fässern konserviert wurden, kann man wohl den besten Räucheraal der Insel kaufen. Mir schmeckt er zumindest besser als der aus Rankwitz, dem „Geheimtipp“ für Busladungen voller Pauschalurlauber. Dazu ein böhmisches Schwarzbier und ofenfrisches Schwarzbrot, mehr braucht es nicht. Allerdings steigt der Genuss mit einem Gang auf den benachbarten Streckelsberg noch einmal ordentlich an. Von der Steilküste aus versuche ich kauend Vineta zu entdecken, die vor Koserow versunkene Sagenstadt. Fischern von hier ging einmal ein Kruzifix aus dem 15. Jahrhundert ins Netz, das „Vineta-Kreuz“. Heute befindet es sich in der Koserower Dorfkirche.
Alle hundert Jahre, heißt es, soll Vineta am Ostermorgen auftauchen, um von einem Sonntagskind erlöst zu werden. Jetzt ist zwar Karwoche; doch wurde ich an einem Montag geboren. Also kein Vineta. Nicht mal seine silbernen Glocken läuten herauf.
Da sich die Bernsteinhexe ebenfalls nicht zeigt und der Aal verzehrt ist, wandere ich durch den Buchenwald in Richtung Kölpinsee.
Aber bald schon zieht es mich zur Südspitze des Gnitz, wo es am Rande eines weiteren Naturschutzgebietes einen weiteren Berg gibt - den weißen. Die 32 Meter hohe Kliffwand soll vom Achterwasser aus gut zu sehen sein, wie ein Rügener Kreidefelsen, nur kleiner. Unten die schweren Findlinge, oben leichtes Vogelgezwitscher. Die Leichtigkeit setzt sich mit dem Abstieg nach dem Wald fort: Über hügelige Magerrasenflächen geht es an Salzwiesen und Moorlandschaften vorbei. Das Auge blickt weit. Das Ohr lauscht den Hummeln in vereinzelten Bäumen.

Dann fahre ich auf eine Stippvisite nach Wolgast, der kleinen und vielleicht beschaulichen Stadt an der Peene; mit gemütlichen Anglern am Hafen, die vorleben, dass man Zeit verschwenden muss, um viel von ihr zu bewahren.
Den besten Kuchen soll es in der „Conditorei“ und dem „Café Arthur Biedenweg“ geben. Conditorei mit „C“ und Arthur mit „h“. Das deutet auf das fast 100-jährige Bestehen hin. Darauf ruht sich die Bedienung offenbar aus, als ich modernen Service einfordere: Sie kommt einfach nicht, obwohl ich längst zahlen will. Vielleicht ist sie auch zum Angeln am Hafen, denke ich. Aber immerhin stimmt das mit dem Kuchen, der ist hier sehr gut.
Dass niemand kommt, genieße ich wenig später allerdings im Heimatmuseum. Ungestört schlendere ich durch die drei Etagen des ehemaligen Lagerhauses aus dem 17. Jahrhundert, das vor 200 Jahren auch als Wirtschaft genutzt wurde. Ich lese von Stadtbränden und Zerstörungen im dreißigjährigen Krieg. Hier und da liegen neuzeitliche Grabungsfundstücke oder Hausrat von diversen Dachböden aus. Am meisten interessieren mich die Bilder des 1777 in Wolgast geborenen romantischen Malers Philipp Otto Runge, der wie ich gern Usedom und Rügen durchstreift hatte. Für die Brüder Grimm schrieb er das Märchen „Vom Fischer und syner Fru“ auf, bevor er mit Anfang dreißig an einer Lungentuberkulose starb. Im nächsten Jahr wiederholt sich sein Todestag zum zweihundertsten Mal.

Nicht weit vom Museum entfernt steht die Petri-Kirche, auf dessen 40 Meter hohen Turm ich steige, um mir Wolgast und seine Werft einmal von oben zu besehen. Da dort aber ein ordentlicher Wind weht, halte ich es nicht lange aus und steige über die enge Wendeltreppe wieder zum Kirchenschiff hinab. Erstaunlich, dass man dort von den letzten großen Stadtbränden, bei denen auch die Kirche brannte, keine Spuren mehr findet: Wandmalereien an Decken und Wänden, ein zweitklassig gemalter Totentanz-Zyklus und eine eingemauerte heidnische Steinplatte, der man als Gegenzauber ein Kreuz eingeritzt hatte.
Unter dem Altar befindet sich die Herzogengruft, wo der letzte Pommernherzog aus der Wolgaster Linie 1625 mit edelsteinbesetztem Goldschmuck beigesetzt worden war. Den großen Brand drei Jahre später hat er dort unbeschadet überstanden. Bis zum Ende des dreißigjährigen Krieges wurden in der Gruft sogar noch weitere Familienangehörige bestattet. Aber gut vierzig Jahre darauf kamen 1688 die Grabräuber und brachen Zugang und Särge auf. Sie durchwühlten sie derart, dass die sterblichen Überreste ordentlich durcheinander gerieten und der Schmuck schnell vergriffen war. Weil anderntags der Küster und der Totengräber von Wolgast nicht auffindbar waren, kam man ihnen und ihren Greifswalder Hehlern schnell auf die Schliche. Man setzte sie bald in Hamburg oder Danzig fest. Nur die kostbaren Grabbeigaben waren auf immer verschollen.
Die sanierten Särge aber kann man in der Gruft hinter einer Glastür besichtigen, was - wenn man sich allein in der Gruft befindet - fast ein wenig gruselig ist. Als ich mich zum Gehen abwende, entdecke ich an der linken Wand hinter den Särgen eine wie mit Ruß angebrachte Nachricht: „CE 1587“ steht zuoberst. Darunter:
„ICH CHRISTOFFEL EIRICH
HA TAS FIRSCHLICH
BEKREWIS GEMIE“
Demnach hat ein Christoffel Eirich die fürstliche Gruft erbaut, also das „Begräbnis gemacht“. Aber dass er es so an die Wand schreiben durfte ... Was sollte er auch machen? Anders als bei guten Malern, Musikern und Schriftstellern nimmt die Nachwelt von Maurern mit Architektur-Ambitionen nur dann Notiz, wenn man ihr selbige derart hinterlässt. Vielleicht hatte man Herrn Eirichs Versuch, nicht vergessen zu werden, zuerst überpinselt, bis es jetzt als historisches Kuriosum wieder lesbar gemacht wurde; selbst wenn es die Totenwürde fürstlicher Särge mit dem Wunsch nach Unsterblichkeit zu überschreien droht.

Karwoche. Bei dem Anblick der Särge wird mir immer mehr nach innerlicher Auferstehung zu Mute. Also fahre ich zum Ausgangspunkt meiner Wochenreise auf die Insel zurück, miete mir in Heringsdorf einen Strandkorb und staune, wie viele Urlauber dort vor dem Wasser inzwischen unterwegs sind. Sie scheinen aus dem Nichts zu kommen und selbst am Ziel ihrer Reise noch immer voller Unrast zu stecken. Der Anblick, über den die Möwen dümmlich lachen, gleicht mehr einer Völkerwanderung als einem Osterspaziergang. Es wogt vor den Wellen. Jeder scheint auf dem Weg zur nächsten Mahlzeit zu sein und verdeckt mir den Blick auf die See, auf die Ruhe, auf das Wesentliche. Da wird es auch für mich Zeit, äußerlich aufzuerstehen und wieder heimwärts aufzubrechen. Mit Staus in Richtung Berlin ist nicht zu rechnen.