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Sonntag, 24. November 2002

043 | Sushi

Sushi mag man oder nicht. Für die einen Innbegriff gesunder, bewusster und vor allem ästhetischer Ernährung, für die anderen Synonym mondäner Dekadenz außerhalb Japans.
Ich hingegen mag dieses Fingerfood. Da ich allerdings Gourmet wie gourmand bin, war mir Sushi bisher immer eine Spur zu teuer, um satt zu werden. Bis ich unlängst den Tipp erhielt, vor 18.00 Uhr ins „Sushi Circle“ (Französische Straße 48) zu gehen. Da gäbe es bis 23.00 Uhr Happy Hour und für 14,90 € Sushi satt. Weil ich gestern Abend nichts weiter vorhatte und wegen eines späten Frühstücks das Mittagessen ausfallen ließ, machte ich mich auf den Weg. Bei Swingmusik im Auto wie durch New York am Alex vorbei und Unter den Linden lang, von den merkwürdig illuminierten Bäumen flankiert: Weihnachtliche Lichterketten zeichneten ihre Stämme und Äste nach, nur die dürren Zweige blieben ausgespart. So sehen die ge- und verkappten Linden wie surreale Leuchtkorallen aus und Berlin wie das untergegangene Atlantis.
Aber bereits in der Friedrichstraße ist der Spuk vorbei. Am Kaufhaus „Lafayette“ in die Französische Straße gebogen, mit Glück eine Parklücke gefunden und schon bin ich da, 20 vor, so wie es sein soll, will man noch einen der 26 Plätze um den quadratischen Tresen mit den abgerundeten Ecken ergattern.
In der Mitte, wie hinter einer Burg verschanzt, steht der japanische Sushi-Koch und stellt seine geschickt kreierten Häppchen-Teller mit Plastikkäseglöckchen auf das ihn umkreisende Fließband. Immer zwei Portionen übereinander. Wie er hinter seiner Burg vorkommt, ist mir anfangs ein Rätsel, da ich es von meinem Platz aus nicht einsehen kann. Ein gefangener Samurai im Dienste der Kundschaft. „Modern Times“ auf Japanisch.
Quadratisch und praktisch wie der Tresen ist auch der ganze Raum. Hell, sachlich und auch hier alles auf Wesentliches reduziert: Schaufenster, Holzfußboden, eine kleine Verkaufstheke, 5 Schriftzeichen an der Wand. Und - als Zugeständnis - ein Fernseher, der tonlos Euro-Sport überträgt: Gewichtheber, von leiser Radiomusik und sanftem Fließbandgeräusch unterspült.
Die Tresenburg ist schnell umzingelt. Das Publikum besteht aber nicht nur aus jungen Zeitgeistrittern. Gemein ist jedoch allen der Sinn für stilvollen Tafel-Genuss anzusehen. Glaube ich zumindest, wenn ich mit vollem Mund um mich schaue.
Bis auf ein paar wie gerade gepflückt aussehende grüne Schoten und ebenso grüne Algen probiere ich so ziemlich alles: Maki-Röllchen mit Gurke, mit Paprika oder Lachs, Sepia, Meerbrasse, Thunfisch oder Garnele auf Reis, und dann irgendwie alles noch einmal durcheinander. Hier etwas und da etwas, wie Schneewittchen an der Tafel der Zwerge. Nur eben mit Wasabi und eingelegtem Ingwer, und immer schön in Sojasoße gedippt. Zwischendurch kleine Schlückchen vom warmen Sake.
Die für die Abrechnung entscheidenden Farbkreise auf den Tellern spielen zwar keine Rolle, mir fällt diesbezüglich aber auf, dass beim All-inclusive-Preis das Beste vom Besten fehlt: Lachskavier (Inkura) und Jakobsmuschel (Hotagei). Doch irgendwie muss es sich ja rechnen.
Um die Getränkewünsche und abzuräumenden Tellerchen kümmern sich eine junge Deutsche und eine junge Japanerin. Beide sehr freundlich; die Deutsche auf eine übermäßig asiatische Art, die Japanerin westeuropäisch cool. Und ein Schwarzer bringt als Nachschub portionierten Obstsalat und frittierte Schmankerln aus der hinteren Küche. Unter anderem meinen Favoriten: Tintenfischstreifen in scharf-knuspriger Panade. Es schmeckt, auch wenn mir immer wieder aufstößt, von Schwarzen bedient zu werden. Ich komme mir dann so kolonialistisch vor, auch wenn das Quatsch ist.
Neben der Eingangstür stehen gleichmütig wie zur DDR-Zeit einige Gäste in der Hoffnung an, bald plaziert zu werden. Sie kennen sich offenbar bestens aus, denn nach 1 Stunde kann ich beim besten Willen nicht mehr, gebe mich vor den Künsten des Sushi-Samurai und seiner Crew geschlagen und räume rollend das quadratische Feld.

Sonntag, 10. November 2002

042 | Straßenköter am Catwalk

Freitagabend 17.00 Uhr in der Kastanienallee 40. Eine befreundete junge Modedesignerin präsentierte in einem klitzekleinen Laden mit Überputzstromleitungen ihre erste Kollektion. Vorerst nur für Frauen. Der Stil lässt sich mit sachlich-streng, klassisch-antik, auch futuristisch und irgendwie androgyn umschreiben. Im Schaufenster ein Hochglanzposter mit Model: Der offene Blick wie eine rhetorische Frage, der sinnliche Mund hält bei der Antwort jedoch inne und bleibt geöffnet. Wie ein Geheimnis, wie die Jacke in Weiß. Auf das Wesentliche reduzierte Unschuld. Wenn darunter nicht diese verdammt kurzen Shorts wären ... Den bärtigen Penner, der sich eingeschlichen hat, scheren solche ästhetischen Dinge nicht im Geringsten, solange er sein frech aus dem Beck´s-Kasten gegriffenes Bier im Warmen genießen kann. Selbst das Getuschel der geladenen Gäste ignoriert er gekonnt und weiht die aufgebügelten Jacken, Kleider und Röcke mit dem Rauch einer Zigarette. Darauf angesprochen sagt der Weihepriester prophetisch: „Ich weiß! Ich weiß, dass hier nicht geraucht werden soll. Ich weiß!“ Und verschwindet. Dafür kommt ein anderer Schmarotzer ins Spiel, mit vom Trinken roter Gesichtsfarbe und vom Hunger üblem Mundgeruch. Er spricht sie alle an: Freunde, Mutter, Schwester und Freund der Designerin. Und die Künstlerin persönlich. Die Sachen gefallen ihm, ja, wirklich. Aber warum sie nichts für Männer mache. Die Jacke dahinten würde ihm gefallen, die mit dem hohen Kragen, wie für Kellner gemacht, müsste aber doch eine Nummer größer sein ... Er redet, er lacht, er nervt und merkt es nicht. Peinlich berührtes Lächeln nimmt er für Freundlichkeit. Ein kleines Kind quängelte im Hintergrund. Es wollte nach Hause, die Rothaut nicht. Aber ich war es, der ging. Der Abend war dunkel, aber jung. Und ich war noch verabredet. Ein wenig bedaure ich meine Mode schöpfende Bekannte. Nicht wegen überflüssiger Gäste, sondern weil sie nach monatelanger Konzeptionen und Ausführungen bis zum 7.12. im klitzekleinen Laden stehen und auf Käufer warten wird. Di - Fr von 12 - 20 Uhr und Sa von 12 - 16 Uhr. Und das in Zeiten allgemeiner Rezession. Sie steht somit neben Typen, bei denen die Welt so lange in Ordnung ist, wie noch irgendwer einen Kasten Bier spendieren kann, als Gegenpol, ist eine Art Allegorie für die nicht unterzukriegende berlintypische Innovation. Auch wenn der Hype von vor 3 Jahren einer Normalität gewichen ist. Glück wird sie gebrauchen können, ihre Sachen aber, die wirklich gut sind, werden für sich sprechen. Und für sie: Anuschka Hoevener.