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Mittwoch, 24. November 1999

Mythenvogel

Der Mythenvogel – sich zerzausend –
Erwartet – BANG – das Jahr 2000.
Er schwingt sich aus dem Sterbebett
Und emigriert ins Internet.

Sonntag, 17. Oktober 1999

Durst

Wenn uns der Rausch kein Bein stellte,
Liefen wir endlos unserem Durst hinterher.

Dienstag, 12. Oktober 1999

5 Haikus

Polterabend-Haiku

Wie leicht sich alles
Bei Seite fegen lässt, was
In die Brüche geht.

- - -

Trotz ist, wenn jemand
In der Ausweglosigkeit
Seine Chance wittert.

- - -

Konnte Galilei
Empirisch nicht ermessen,
Dass die Welt - platt bleibt?

- - -

Die ersten Blüten
Ohne die letzten Sommer
Bedeuten gar nichts.

- - -

Oft ist Toleranz
Nur ein anderer Begriff
Für Gleichgültigkeit.

Samstag, 2. Oktober 1999

Zauber der Magie

Der Zauber der Magie
Ist die Spur eines Geheimnisses,
Nicht der Weg zur Wahrheit.

Dienstag, 28. September 1999

Berlin, Kollwitzplatz

Der Sommer küsst in diesem Jahr
Den Herbst mit langem Atem.
Berlin wird für Provinzler wahr,
Das Fremde zu Privatem.

Die Sonne scheint am Kollwitzplatz
Bei Nacht aus hundert Türen.
Was dir auch fehlt, hier gibt’s Ersatz,
Hier will ich dich verführen.

Mit Cocktails wie vom Apfelbaum,
Gepflückt im letzten Garten.
Das Paradies ist nur ein Traum,
Auf den die andern warten.

Der Urlaubsflirt, den wir nie buchten,
Hält uns schon längst die Treue.
Gefunden hat uns, was wir suchten,
Das alte Lied ist stets das neue.

Mein Glas zerschmilzt in deiner Hand,
Dein Blick ist tropisch grün.
Zwei Schatten tanzen an der Wand,
Wo die Legenden blüh´n.

Am Kollwitzplatz brennt sich die Nacht
Mit hundert Sonnen ein.
Dein Feuer ist in mir entfacht
Und wird dort ewig sein.

Samstag, 17. Juli 1999

Fazit

Alle Leiden durchlitten, alle Fehler bezahlt,
Alle Schuld abgestritten, alles Grau schwarzgemalt.

Jeden Traum knapp verfehlt, jeden Weg oft gegangen,
Jeden Tag ausgezählt, jede Nacht voll Verlangen.

Zu oft Liebe geschworen, zu oft alles gesetzt,
Zu oft alles verloren, zu oft weitergehetzt.

Nie Optionen auf Glück, nie die Eine getroffen.
Nie führn Wege zurück, nie stehn Türen dir offen.

Sonntag, 13. Juni 1999

REM (rapid eye movement)

(was ist das schicksal der augen im schlaf?
Sie bewegen sich ständig,
wie zuschauer in einem theater.
J. D. Morrison)

Regen reibt sich gegen Fenster,
Löscht zwei stumme Blitze aus.
Ohren kreisen um Gespenster.
Nachts wird schutzlos jedes Haus.

Sterne werden zu Gerüchten,
Tun es meiner Liebe gleich.
Nun gilt’s, vor sich selbst zu flüchten.
Uhrenschläge klopfen weich.

Aufgezehrt ein altes Lächeln,
Kaltes Blut kocht schwarzen Schweiß.
Wahnsinn wird mir Luft zufächeln,
Fressen wird mich, was ich weiß.

Diese Nacht hat sie erfunden
Oder dieser andre Mann.
Mit ihm wird sie bald gesunden.
Sterben fängt im Herzen an.

Freitag, 14. Mai 1999

Der Alltag?

Der Alltag? – Ein Gespensterschiff
Im Ozean, am Zeitgeistriff,
Wo man sich nächtens Flöße baut
Und einschläft, wenn der Morgen graut.

Dienstag, 23. Februar 1999

Circe

„Circe? Hier ist Odysseus! Hi!“ Noch bevor er die Worte ins rauschende Telefon gesprochen hatte, spürte er körperlich, wie lächerlich klang, was er sagte. Er begann zu schwitzen. „Also hier ist Maik.“, setzte er um Gelassenheit bemüht nach. „Ist es ein Fehler, dich anzurufen?!“ Wenn es Momente gibt, in denen sich ein Augenblick ins Unermessliche dehnt, dann war dies so einer.
„Ohhh ...!“, kam es aus dem Hörer. Ein verräterisches „Ohhh“, eines, das Zeit schinden will, nicht nur weil der Anruf überraschend kam, sondern weil er kam. Maiks Sinne befanden sich in einem übersteigerten Zustand der Wahrnehmung, deshalb entging ihm das nicht. Er drückte den Hörer fest ans Ohr, glaubte die Frau am anderen Ende fast riechen zu können. Und ihre Stimme roch gut, was ihn um so nervöser machte. Er trat auf der Stelle, als ziehe er einen Fuß aus einem Fettnäpfchen. Aber es half nichts. Ebenso gut hätte er auch auf Arbeit seine Chefin mit einem obszönen Anruf belästigen können.
„Na ja, nun ist es wohl zu spät ...“, klang es hart vom anderen Ende der Leitung. Es sollte ein verbales Augenzwinkern sein, aber unmissverständlich blitzte ihr Ärger über Maiks Anruf durch. Circe, die Zauberin, die Chefin, war erzürnt, enttäuscht, schien es aber auch zu genießen, das Gespräch von Anfang an zu dominieren. Maik war im Begriff, einen Traum zu zerstören. Einen Traum, der vor gut einem Monat begonnen hatte, als er die neuste Ausgabe des „Twen“-Magazins aufschlug, für welches er als Fotograf tätig war ...

Seine Gratisexemplare hatte er bisher immer nur wegen der Bildästhetik durchgeblättert, aber seit einiger Zeit klebte er auch an den Texten. Er schien von dort verschlüsselte Botschaften zu erwarten, die sein Leben beeinflussen könnten. Er glaubte nun, obwohl er sich manchmal selbst belächelte, an den Wert dieser Magazine, redete sich ein, jung zu sein, solange er noch wusste, was hip und trendy ist. Maik ging auf die dreißig zu.
Als erstes begutachtete er die Covergestaltung, dann studierte er Kontaktanzeigen. Hatte er das nötig? Darum geht es nicht, hätte Maik geantwortet, andere interessieren sich für Kreuzworträtsel, ich mich eben für Kontaktanzeigen. Maiks Freundin hieß übrigens Jessi. Sie war Mitte zwanzig, gutaussehend (wenn auch das gewisse Etwas fehlte, wie Maik sich ausdrückte) und studierte Musik. Nach einem abgebrochenen Pädagogikstudium wohnte sie wieder bei ihren Eltern; eine eigene Wohnung konnte sie sich zur Zeit nicht leisten. Und der ungestellten Frage, ob Jessi nicht zu ihm ziehen könne, war er bisher immer geschickt ausgewichen.
Vor einem halben Jahr hatte er sie kennen gelernt, kurz vor den Semesterferien. Maik machte Fotos für einen Artikel zum „Hochschulstandort Deutschland“. Obwohl das mit den „Porträtaufnahmen der besonderen Art“ bei sich zu Hause ein schlüpfriger Scherz war, hatte er sie doch tatsächlich mit seiner forschen Art überzeugt. Und weil Jessi sich in Maik verliebt hatte, verliebte Maik sich auch in Jessi. Am Anfang einmal mehr dieses Ewigkeits-Gesäusel, aber aus ehrlichem Empfinden heraus. Nur im Nachhinein erschien es Maik lächerlich. Denn er dachte immer öfter wie hinter vorgehaltener Hand: ein halbes Jahr ist eben ein viertel Jahr zu viel! Somit hatte die Ewigkeit türgroße Löcher bekommen, durch welche sich die Wirkung romantischer Abende mit Rotwein und Longdrinks immer schneller verflüchtigte. Als hätte Maik sie schon mal statt seiner vorgeschickt. Inzwischen benötigte er aber auch den Rausch des Weines, wenn er abends mit Jessi auf die sentimentale Suche nach einem gemeinsamen Anfang ging und dem Ende nicht nüchtern entgegensehen wollte. Allmählich wuchs sich Maiks Unzufriedenheit zur Krise aus. Es war höchste Zeit, sich einen Traum zu erfinden.

An einem Vorweihnachtsabend nahm er sich die Magazinanzeigen der Dezemberausgabe vor. Er wollte sich entspannen, sich zerstreuen, und er war gerade allein. Er genoss diese Freiheit.
Das erste Inserat unter „Sie sucht ihn“ war Circes Anzeige. Wie hätte es auch anders sein können, es musste das erste sein, dachte Maik später. Das schicksalhaften Zeichen, nach dem er immer vergeblich gesucht hatte:

„Circe erwartet die Ankunft von Odysseus. Ich werde am Strand stehen!
Circe c/o C. Pedersen, An der Mole 3, 25813 Husum”

Da stand es, schwarz auf weiß, sein Schicksal! Und es wartete am Strand, bereit, ihn mit offenen Armen zu empfangen! Denn nur er konnte mit Odysseus gemeint sein. Soviel wusste er. Zog es ihn nicht hinaus in die Ferne, zum Abenteuer hin? War er nicht ständig auf der Suche danach anzukommen, obwohl er doch eine Heimat hatte, eine Insel, wie Jessi meinte? Und war ihm die Suche im Grunde nicht auch wichtiger als das Ankommen? Circe, ja, er wollte sich verzaubern lassen, sich auf ein Wagnis einlassen, sich selbstvergessen in Leidenschaft versteigen, um wieder Leben zu fühlen. Er musste ihr einfach schreiben! Und Jessi? Sie wird schon nichts erfahren. Und wenn schon! Bei Stillstand hilft nur Bewegung, egal in welche Richtung. Außerdem sah Jessi Maik in letzter Zeit so an, als wüsste sie, dass ihre gemeinsame Zeit wie der vergangene Herbst längst hinter ihnen lag. Frauen wissen in Beziehungsfragen immer schon die Antwort, wenn Männer die Fragen noch nicht mal ahnen können.

Was Maik Circe schrieb, war eine von Mythen inspirierte Quelle poetischer Spontaneität, ein entsprungener Fluss voll Tiefgründigkeit und überschäumender Phantasie, der sich seinen Weg nach Husum bahnen sollte. Später würde Odysseus ihm folgen, dachte Maik. Die zu erwartende Flaschenpost anderer Schreiber sollte von seinem Schreibfluss zurück ins Meer gespült werden. Maik schrieb wie ein hellseherischer Troubadour, dem ein antiker König folgt und ein zeitloser Hofnarr zur Seite steht. Aber warum? Gab Circe, die Zauberin, in ihrer hintergründigen Dominanz und berechnenden Leichtigkeit diesen Stil bereits vor? Wirkten ihre inserierten zwei Sätze nicht wie das widersprüchlich runde Konzentrat des Urweiblichen schlechthin, gerade stark genug für einen größenwahnsinnigen Odysseus? Sie hatte den uralten Traum aller Männer geweckt. Und dafür musste sie aus zwei Extremen bestehen, die sich in dem Inserat als Schwesternpaar zu erkennen gaben: der männerfressende Vamp und die feenhaft gute Seele, die nach jedem kleinen Tod für die Auferstehung sorgt. Es war klar, welche der Schwestern die Fäden in der Hand hielt, dachte Maik später.
Jessi war nur gute Seele, war Erhalterin, nicht in der Lage, Maik zu verstehen oder aus sich selbst zu befreien, und deshalb quälte Maik sie mit Sarkasmus. Aber verstand sich Maik selbst? Im Grunde fühlte er nur, was zu tun war. Bei Jessi befand er sich wie der Drachentöter vor einer leeren Höhle, in die er Steine warf, um sich einen würdigen Gegner zu erfinden. Dass Jessi ihn zum Inselkönig salbte, reichte nicht, er wollte nach überstandenen Abenteuern in Dracheblut baden. So aber badete er in Jessies Tränen, die ihn nicht stark machten, sondern lähmten. Und die Langeweile schlich sich jeden Tag als träge Skylla zu den erstarrten Beziehungsopfer und leckte sich das riesige Maul. Für Maik wäre es unverzeihbar gewesen, in ihrem Magen zu landen. Er wollte nicht wie Jonas im Dunklen sitzen und grübeln. Dann schon lieber von Sirenen zerrissen werden, damit sich seine Seele offenbart. Denn die Befreiung der Seele ist das Ziel jeder Selbstzerstörung. Und für dieses Ziel war er nicht nur bereit, sich zu opfern, sondern auch Jessi.

„ Ich konnte nicht länger warten ... Dir einen weiteren Brief zu schreiben, hätte ich nicht ausgehalten. Papier ist mir zu geduldig.“, rechtfertigte sich Maik. Er warf sich seiner Zauberin gleichsam vor die Füßen und händigte ihr mit untertäniger Geste sein Drachentöterschwert aus: schlage mich zu deinem Ritter oder schlage mir den Kopf ab!
„Bist du so ungeduldig?!“ Sie begann zu spielen, mit ihrer Stimme, mit ihm, verkörperte ganz ihre Rolle, nachdem sie sich gefasst hatte. „In deinem letzten Brief stand, wenn ich so bin, wie ich schreibe, könntest du dich in mich verlieben ... Ist das nicht etwas voreilig? Schließlich weißt du nicht einmal, wie ich aussehe ...“ Nein, das wusste er natürlich nicht, aber er konnte sie sich vorstellen, den Typ Frau, der am Strand auf einen Seefahrer wartet: Rückenansicht mit wehenden langen Haaren und weißem Kleid. Ein Klischee, ja, ein Ideal, etwas, das schon immer da war, genau das wollte er endlich in seinen Armen halten! Und in ihrem ersten Brief trat Circe aus der wartenden Strandpose heraus, wandte sich ihm zu wie Botticellis Aphrodite dem Betrachter. Maik fühlte, wie sie aussah, das reichte ihm.
„Ich kenne dich“, sagte er überzeugt, „kannte dich schon immer, denn du bist ewig. Du musst die Eine sein, auf die ich mein Leben lang gewartet habe. Du bist schön, ich weiß es, denn du strahlst von innen.“ Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus, und welche Frau würde sich davon nicht beeindrucken lassen? Circe sah auf den vor ihr knienden Ritter. Sie fühlte sich geschmeichelt, ja, aber sie wollte eben nicht auf ihn herabschauen müssen. Sie wollte zu ihm aufsehen, wollte besiegt werden, nicht etwa sein Schwert ausgehändigt bekommen.
In ihrem Briefwechsel sahen sie sich von gleicher Höhe aus in die Augen, sprachen über gleiche Träume, hatten die gleiche Art zu schreiben, waren Seelenverwandte, die wiedergeboren werden und sich in jedem Leben neu finden. Deswegen versuchten sie auch nicht das Pathos ihrer Worte ironisch zu brechen. Mit dem Anruf aber war Odysseus gesunken, weil er sich damit in Circes Augen selbst erniedrigt hatte. Und nun kniete er auch noch vor ihr ...
Das Wasser, über welches er gegangen war, stand ihm bis zum Hals. Er kam Circe zu gezähmt vor, aber irgendwie interessierte er sie doch. Maik spürte das. Und Odysseus schwamm auf seine Erscheinung zu. Er betrat das ersehnte Ufer, obwohl ihm das Neuland unter den Füßen brannte. Maik nahm das Telefon, setzte sich in einen Sessel und rieb sich die Fußsohlen.
„Ich weiß nicht, ob ich ewig bin“, sagte Circe, „zumindest kann ich mich an meine vergangenen 14 Leben erinnern.“
Maik horchte auf: „Wie, du glaubst, schon mal gelebt zu haben?“
„Ich glaube es nicht, ich weiß es. 14 Mal, wie gesagt."
Sie sagte das so selbstverständlich, als handelte es sich um Szenen ihres Lieblingsfilms, den sie in- und auswendig kannte. Circes Stimme klang fest, überzeugend, mit einem Anflug von Müdigkeit.
„Und du kannst dich an jedes einzelne dieser Leben erinnern?“, fragte Maik.
„Hör zu, ich will dich nicht überzeugen, dass so was möglich ist, glaub von mir aus, was du willst; aber ich weiß eben, dass es so ist, und das genügt mir.“
„Schon gut.“, sagte Maik. Sie wirkte auf einmal so anders auf ihn, fremd und kalt, nicht wie die Schreiberin der Briefe. „Ich wollte dich nicht verärgern, im Gegenteil. Es interessiert mich. Aber es klingt so ... ungewöhnlich.“ Er musste nach passenden Worten suchen, um die Zauberin nicht erneut zu erzürnen.
„Ja, ich weiß, mich haben auch schon etliche Leute für verrückt erklärt ...“
„Ich halte dich jedenfalls nicht für verrückt!“, sagte Maik. Aber trotz der lebhaften Faszination stellte sich bei ihm Skepsis ein. „Erzähl von diesen Leben, es interessiert mich! Wie verlief dein letztes?“ innerlich musste er lachen.
Sie schwieg einen Augenblick, als hörte sie sein Gelächter, fasste sich und sagte: „Davon möchte ich nicht sprechen, es war zu schrecklich. Ich war im Krieg, in einem Dschungel, wurde verfolgt und erschossen, auf der Flucht. Ich hatte es nicht anders verdient.“
„Im Dschungel? Hast du dort gelebt?“
„Nein, ich war Soldat, ich habe gekämpft.“
„Du warst ein Mann?“
„Ja, dachtest du, ich werde immer nur als Frau wiedergeboren?“ Sie belächelte seine Unwissenheit. Maik verging das Lachen.
„Ich weiß nicht, hab da nie so drüber nachgedacht.“, sagte er. „Warum hattest du den Tod verdient?“
„Weil ich böse war, ich hatte vielen geschadet, aber ...“, sie unterdrückte ein Schluchzen, „aber ich möchte mich nicht daran erinnern, es tut so weh.“
„Wo war der Dschungel? Hast du das herausfinden können?“ In Maik erwachte der Forscher. Er begann wie einer seiner Zeitungskollegen über die Bilder zu recherchieren, die Circe ihm zuspielte.
„Ich weiß nicht, welches Land es war; wenn ich da wäre, könnte ich dir alles zeigen, aber wozu? Dieses Leben ist abgeschlossen, mein Tod war gerecht.“
Maik ließ nicht locker. Er war nicht mehr Odysseus, der sein Leben der idealen Frau vermacht. Er riss sich die Maske vom Gesicht, unter der er schwitzte. Ein Wahrheitssuchender, das war er jetzt. Maik versuchte, ohne dass es ihm bewusst wurde, die Zauberin zu entzaubern. Er wollte ihre Schleier lüften, um ihr wahres Gesicht zu sehen. Aber er musste behutsam vorgehen.
„Hast du auch schon einmal in Deutschland gelebt?“, fragte er.
„Ja.“
„Gibt es dafür ... Anhaltspunkte?“ Maik wollte nicht Beweise sagen.
„Ja, einen Ring. Ich lebte als einzige Tochter eines Grundbesitzers in Mecklenburg ...“
„Wann war das?“
„Vor ungefähr 200 Jahren. So genau kann ich es nicht sagen, ich entsinne mich nur an die Kleidung, die wir damals getragen hatten.“
Dieses „wir“ führte Maik vor Augen, wie absurd das Gespräch letztlich war, wenn auch alles sehr logisch klang. In ihren Briefen benutzten sie die gleiche Sprache, aber jetzt erkannte Maik den Unterschied: seine Metaphern waren ihre Realität. Maik kam es vor, als versicherte ihm Circe, den 8. Kontinent, die Terra incognita, entdeckt zu haben. Und nun gab sie ihm auch noch die Koordinaten dafür, obwohl doch jeder Zentimeter der Welt erforscht war.
„Ich war ein leichtfertiges Mädchen. Und ich erwiderte nicht die unglückliche Liebe des Hauslehrers zu mir.“ Sie verfiel in einen angenehmen Erzählton. Das Ich ihrer Briefe kehrte zurück. „Ich war ungefähr sechzehn Jahre alt. Er Ende zwanzig. Ich hatte ihn einmal verführt, dann wollte er mich heiraten, traute sich aber nicht, bei meinem Vater vorzusprechen. Statt eines Eherings schenkte er mir einen aus Hirschhorn, aber ich wollte ihn nicht annehmen. Als er ein Jahr später erfuhr, dass ich den Sohn eines benachbarten Gutsbesitzers heiraten sollte, kündigte er seine Stellung auf. Nicht lange nach der Hochzeit fand man meinen Mann und mich tot im Gutshaus auf. Erschossen. Neben mir lag der Hirschhornring, er war zerbrochen. Da niemand außer mir von diesem Ring wusste, konnte der Hauslehrer auch nie überführt werden.“
Sie schwieg. Maik war beeindruckt von ihrer Geschichte, wenn am Ende auch wieder eine Gewalttat stand. War denn jedes ihrer vorgeblichen Leben so unwahrscheinlich spektakulär?
„Weißt du, wie der Ort in Mecklenburg hieß?“, fragte er. „Kannst du dich an Nachnamen erinnern? Man könnte in Kirchenbüchern nachsehen ...“ Er biss sich auf die Zunge. Erregte sein Zweifeln ihren Missmut? Er wollte sie auf keinen Fall verlieren. Aber sie blieb unerwartet ruhig.
„Nein, an Namen von Personen und Orten kann ich mich nicht erinnern. Aber ich habe diesen Ring.“ Sie triumphierte still über diesen ungläubigen Thomas.
„Wie, du hast den Ring? Ich denke, der lag zerbrochen neben den zwei Eheleuten ...“
„Neben meinem Mann und mir, ja. Aber eines Morgens hatte ich eine Eingebung. Es zog mich zum Bahnhof, ich musste es einfach tun...“
„In diesem Leben?“, unterbrach er sie leicht verwirrt. Und das belustigte ihn.
„Ja“, sagte Circe, „vor ein paar Jahren. Ich kaufte mir eine Fahrkarte für den nächsten Zug, egal wohin, und stieg ein. Ich wusste, dass es so richtig war. Intuitiv wusste ich auch, wann ich auszusteigen habe ...“
„Wo war das?“
„Spielt eigentlich keine Rolle ...“
„Sag es mir trotzdem!“
„Waren. Waren an der Myritz. Kennst du den Ort?“
„Nein. Wo liegt das?“
„In Mecklenburg. Ich lief wie im Traum durch die Stadt, glaubte Gebäude wiederzuerkennen. Aber nichts passierte. Bis ich vor einem kleinen Antiquitätenladen stand. Mein Blick fiel sofort auf einen Ring in der Auslage.“
„Der Hirschhornring!“
„Genau! Ich ging rein, war völlig aufgelöst, wie im Fieber. Außer mir befand sich keiner weiter im Laden, nur der Besitzer, ein älterer Mann mit langen weißen Haaren. ,Den Ring!’ ,sagte ich, ,Kann ich den Ring aus dem Schaufenster sehen?!’ Er reichte ihn mir. Ich erkannte ihn sofort wieder. Er war geklebt. ‚Was kostet er?’ , fragte ich. Nachdem er mir den Preis genannt hatte, gab ich den Ring zurück. Er war zu teuer. Ich verließ das Geschäft und begab mich zurück zum Bahnhof. Aber auf halbem Weg kehrte ich um. Ich musste diesen Ring einfach besitzen, koste er, was er wolle! Ich betrat also ein zweites Mal den Antiquitätenladen. ‚Den Ring?’ ,fragte mich der Besitzer. ‚Ja’, sagte ich, ‚ich kaufe ihn doch!’ Der Mann hatte ihn noch neben der Kasse liegen und gab ihn mir. ‚Hier’, sagte er, ‚du brauchst ihn nicht zu bezahlen, es ist ohnehin deiner ...’ Ich sah ihn an und er lächelte. Ich fragte ihn nicht, wie er darauf käme, nahm den Ring und verschwand.“
Maik war wieder beeindruckt. Und er hatte seinen Anhaltspunkt. Der Antiquitätenbesitzer müsste sich ohne Schwierigkeiten ausfindig machen lassen. Aber er teilte Circe diese Überlegung nicht mit, da sie ohnehin wusste, was er gerade dachte.
„Seitdem ist der Ring wieder bei mir.“, schloss sie ihre Erzählung.
Maik schwieg eine Weile. Dann fragte er: „Kannst du dich auch an dein Leben zwischen den Leben erinnern?“
„Wie meinst du das?“
Er suchte nach Worten: „Wenn du tot bist, schwebst du ... schwebt deine Seele dann frei rum?“
„Das kann ich dir nicht sagen, ich weiß nur, wie es ist, wenn meine Seele den Körper verlässt. Und dann wird ihr aufgetragen, in den Körper eines noch ungeborenen Lebens zu schlüpfen. Das ist alles.“
„Wer erteilt den Auftrag? Gott?“
„Das weiß ich nicht, vermutlich. Aber den Zeitpunkt, meinen Körper zu verlassen, lege ich selbst fest.“
„Wie, du kannst deinen Körper verlassen, wann immer du willst?“
„Ja. Ich habe gelernt, mich darauf zu konzentrieren. Es ist, als löse sich meine Seele wie eine Blase ab. Ich kann in diesem Zustand fliegen, wohin ich will, kann durch Wände gehen ... Erst vor ein paar Tagen schwebte ich draußen im Regen ... Und einmal lief ich mit Rehen um die Wette. Sie konnten mich sehen, hatten aber keine Furcht.“
In dem Moment begriff Maik, dass er sie nie wirklich lieben könnte. Er spürte nun seinerseits Mitleid, aber auch eine gewisse Herausforderung.
„Dann kannst du mich ja heute Nacht besuchen kommen.“, sagte er halb im Scherz. „Und morgen sagst du mir, wie es hier aussieht.“ Er bewegte lauernd einen Fuß, den er über eine Sessellehne hängen ließ. Jetzt war er in der Lage, mit ihr zu kämpfen. Doch jetzt kamen sie als ungleiche Gegner nicht mehr für einander in Frage.
Die Zauberin zögerte mit ihrer Antwort zu lange, verriet Unsicherheit, dann sagte sie: „Ja, das könnte ich. Wenn ich es wollte. Aber ich weiß nicht, ob ich es will ... Außerdem nehme ich in diesem Zustand Gegenstände nur als die Energie wahr, die sie abstrahlen. Weißt du, was ich meine?“
„So in etwa.“
Dass ihre Seele zu ihm fliegen könnte, war wohl ausgeschlossen, dachte Maik. Also gab sie wie ein Kind vor, nicht zu wollen. Er hatte seine Bestätigung. Je mehr sie an Sicherheit verlor, desto selbstbewusster wurde Maik. Der romantische Beweggrund, warum er Circe anrufen musste, war gänzlich vergessen. Hier hatte sich etwas unerwartet Neues aufgetan. Maik fielen die Worte eines alten chinesischen Dichters ein, der rätselte, ob eine Person, die träumt, ein Schmetterling zu sein, nicht auch dieser Schmetterling sein kann, der träumt, diese Person zu sein. Odysseus verstieg sich ins Inseldickicht, wo er die Antwort darauf vermutete. Die wartende Frau am Strand, die Eine, die Göttin der Liebe, verblasste, je weiter er sich durch das Dickicht arbeitete.
„Du hältst mich auch für verrückt, was? Denkst du, ich bin so eine hysterische Ziege, welcher nur ein Kerl fehlt, der sie mal ordentlich durchnimmt?“, fragte sie. Nun verblasste die ganze Insel. Maik setzte sich auf und starrte erschrocken auf den Fußboden. Sie hatte die Fassung verloren, weil ihr Zauber versagte.
„Nein“, log Maik, „Nein, ich ... ich finde das alles sehr interessant, kann es aber nicht recht glauben. Ich denke aber, dir kommen deine Erlebnisse so real vor, dass du sie glauben musst. Ich würde an diese ... Erscheinungen ... auch nicht zweifeln, wenn ich sie hätte, aber ich habe sie nicht.“
„Hör zu“, sagte sie, „glaub, woran du willst, aber deine Arroganz kotzt mich langsam an. Wer bist du, dass du dich hier als mein Analytiker aufspielst? Ich weiß, dass ich nicht verrückt bin. Ich war mal bei einer Psychologin, und die hat mir gesagt, dass sie auch solche Erscheinungen hat, wie du sie nennst.“
Sie lüftete den letzten Schleier selbst. Was Maik sah, gefiel ihm ganz und gar nicht. Er schwieg. Er hatte seine Circe auf dem Weg zu ihr verloren. Wie ein alter Mann erhob er sich aus dem Sessel. Er ging er durch sie hindurch auf das Wasser zu. Da stand sie. Reglos am Strand. Und starrte verbissen auf den Horizont. Sie erwartete Odysseus. Maik ließ sie in ihrer Einsamkeit zurück. Er kannte nicht mal ihren wahren Namen ...
Sie redeten wohl noch eine Weile in verschiedenen Sprachen aneinander vorbei, bevor sie sich verabschiedeten. Maik dachte an Ithaka, bestieg ein kleines Boot und ließ sich von der Ebbe raus aufs Meer ziehen. Seine romantische Sehsucht nahm er mit. Das Bild von Botticellis Aphrodite war wie ein Leitstern in sein Herz gebrannt. Er legte den Hörer auf und rieb sich die nassgeschwitzten Hände an der Hose ab. Er sah sich im Zimmer um, während er seine Gedanken ordnete. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er die Telefonauskunft anrufen sollte. Wegen der Nummer des Antiquitätenladens. Dann schleuderte er diese Vorstellung weit von sich und ging in die Küche. Dort legte zwei Flaschen Weißwein in den Kühlschrank. Er sah auf die Uhr. In einer Stunde würde Jessi hier sein.