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Mittwoch, 17. Juni 1998

Aussteiger

Zwei Tage bevor Gregor zu seinem alten Studienfreund Max fahren wollte, ging das Auto kaputt. Die Reise wollte er trotzdem antreten, dann eben mit dem Zug.
Gregor musste unbedingt raus. Raus aus diesem Kaff. Außerdem hatte er Max zu lange nicht mehr gesehen. Max arbeitete jetzt bei einem Verlag in Bayern. Und Gregor? Er war vor Jahren, nach Abschluss eines Germanistikstudiums in die Geburtsstadt seines Lieblingsdichters gezogen, um dort ein Antiquariat zu eröffnen. Mit Hilfe eines kleinen Erbes.
Es war eine fixe Idee, aber dafür war Gregor bekannt. Er fasste den Entschluss an einem verträumten Frühlingstag, er war voller Aufbruchstimmung. Nur lag die Dichterstadt in der Provinz und war nichts anderes als ein in die breite gegangenes Dorf. Gregor verglich den Ort immer mit der Gerichtsvollzieherin, die in ihrer Jugend auch nicht besser ausgesehen haben konnte. Wenn sie wieder einmal unangemeldet vor seiner Tür stand und mit dem Hinweis auf eine „mögliche Pfändung mobiler Wertgegenstände“ ihre Macht ausspielte (nur was gab es zu pfänden?), bekam Gregor jedes Mal große Lust sie zu demütigen. Damit wollte er wenigstens die Erniedrigung zurückzahlen, die ihre hochgezogene Augenbraue bei ihm fühlbar machte. War er ihr nicht mehr als eine armselige Figur Dostojewskis? Aber weder sie noch irgendwer sonst schienen hier zu lesen. Auf ihren Dichter waren die Einheimischen jedoch stolz. Natürlich, weil er zur Stadt gehörte wie die Kirche, in die sich nur noch selten jemand verirrte. Und weil man eine der vielen Straßen nach ihm benennen konnte. Straßen, in denen abends nicht mal allen Laternen ein Licht aufgeht.
Das Denkmal des großen Poeten am Rathausplatz war nur ein besseres Ziel für die Schneebälle der Kinder im Winter. Sonst landete höchstens eine Taube auf dem lächerlich umkränzten Dichterhaupt und hinterließ geringschätzig eine Kotspur im bronzenen Gesicht, die sich wie eine versteinerte Träne ausnahm.

Das Antiquariat, welches Gregor im Spätherbst aufgemacht hatte, lief nicht. Dabei ging anfangs alles glatt: der faire Preis für ein kleines Fachwerkhaus im Zentrum, das er im Sommer teilweise mit Max ausbaute, der bewilligte Bankkredit, die aufmunternden Worte der Nachbarn ...
Im nächsten Herbst musste Gregor den Laden wieder schließen. Er konnte die erste Rate für den Bankkredit nicht zusammenbringen. Die Leute waren nur gekommen, um ihm ihre nutzlosen Bücher anzudrehen, die Gregor kaufte, als gelte es, eine literarische Arche Noah auszurüsten, die ins gelobte Land der Analphabeten fuhr. Dafür musste er sich bald bei den ansässigen Geschäftsleuten, welche ihrem neuen Kollegen gegen Zinsen gerne unter die Arme griffen, Geld leihen. Somit hatte er neben Bergen alter Bücher auch einen ganzen Haufen neuer Gläubiger und er war verpflichtet, in der Kleinstadt zu bleiben und seine Schulden irgendwie abzuarbeiten. Das Haus wurde natürlich von der Bank gepfändet, aber wenigstens durfte Gregor bis auf weiteres als Mieter darin wohnen. Die Bücher gehörten ebenfalls der Bank, was Gregor belustigte, denn die wusste natürlich auch nichts mit ihnen anzufangen. Also staubten sie unten im Laden ein.

Gregor wurde im neuen Jahr bei einer Versicherungsfirma am Rathausplatz eingestellt, als Buchhalter. Wobei die Bezeichnung „Buchhalter“ bei ihm einen schweren Lachanfall auslöste, nachdem er im Februar vom Arbeitsamt wegen des vermittelten Jobs informiert worden war. Aber durch das Jonglieren mit den roten Zahlen als Antiquar war er für diese Tätigkeit bestens geeignet. Nach dem ersten Tag in der Firma warf Gregor selbst Schneebälle gegen das Denkmal seines ehemaligen Lieblingsdichters.
Acht Jahre, hatte er ausgerechnet, würden nötig sein, um wenigstens den Geschäftsleuten ihr Darlehen zurückzuzahlen. Acht Jahre war er also in diese Kleinstadt verbannt. Davon hatte er nun die Hälfte überstanden. Aber er galt immer noch als Einzelgänger. Er hatte dort nicht einen einzigen richtigen Freund, geschweige denn eine Freundin gefunden. Er frischte nur hin und wieder seine Affäre mit der strammen Iris von der Kundenbetreuung auf, die mit ihm bei der Versicherung arbeitete. Sie würde mich glattweg heiraten, hatte Gregor zu Max am Telefon gesagt, aber dann wäre mein Schicksal vollends besiegelt. Max hörte Gregors Hilferufe heraus und schickte ihm daraufhin eine Karte mit dem Motiv von Spitzwegs „Bibliothekar“. Typisch Max. In vertrauter Krakelschrift schrieb er:

„Hallo Gregor, alter Traumtänzer, falls du Pfingsten nichts Besseres zu tun hast, als mich besuchen zu kommen, dann mach das einfach. Ich bin gerade dabei, die neue Wohnung einzurichten, und kann jede Hilfe gebrauchen. Marina ist solange mit den Kindern verreist. Viele Grüße – Max (Würzburger Straße 18, 2. Etage, Regensburg). PS: Die ersten Biergärten haben offen!!!“

Leisten konnte Gregor sich die Fahrt eigentlich nicht, aber er war Max die Hilfe schuldig.
In der Autowerkstatt hieß es, man brauche wegen der Auftragslage vor den Feiertagen und der Bestellung irgendeines Thermostats mindestens vier Tage. Also ließ sich Gregor am Donnerstagabend telefonisch die Zugverbindung nach Regensburg ab Mittag durchgeben. Abfahrt: 13.50 Uhr, viermal umsteigen, Ankunft: 18.40 Uhr. Na was soll’s. Gregor notierte sich die einzelnen Bahnhöfe, wo er umsteigen musste, und die Abfahrts- und Ankunftszeiten. Dann rief er Max an und sagte ihm, dass er mit dem Zug käme. Max wollte 18.40 Uhr am Bahnhof sein und ihn abholen.

Nachdem sich Gregor ein paar Eier gebraten hatte, packte er seinen Rucksack. Viel brauchte er nicht, aber es kam dennoch einiges an Wäsche zusammen. Unten im Laden suchte er sich ein passendes Buch für die Fahrt aus. Er stöberte dort oft rum, sah aber nicht ein, Staub zu wischen.
Bücher mussten bei Gregor genauso zu Situationen und Befindlichkeiten passen wie Musik. So entschied er sich – vielleicht ein wenig selbstmitleidig - für „Hunger“ von Knut Hamsun. In satten Studententagen hatte er es bereits gelesen, als Feinschmecker guter Literatur, nun war er selbst ein Hungriger. Oft genug sogar im wörtlichen Sinne. Durch unvorhergesehene, aber regelmäßig auftretende Geldeinbußen war Gregor meistens Tage vor dem nächsten Lohn mit seinem ausgereizten Dispokredit am Ende. So auch in diesem Monat. Oben im Schlafzimmer nahm er von den 400,- Mark, die er noch im Portemonnaie hatte, 200,- Mark heraus und legte sie mit der Kreditkarte unters Telefon. Als letzte Reserve. Für die Rückfahrt würde er sich von Max noch 50,- Mark borgen und – so bald er konnte – zurückzahlen. Geschenkt haben wollte er nichts, aus einem gewissen Stolz heraus, über den Max den Kopf schüttelte, obwohl er diesen Stolz auch schätzte.
Gregor schob das Portemonnaie in die Seitentasche des Rucksacks und atmete tief durch. Bald bin ich soweit, dass mich jeder dahergelaufene Straßenköter anpinkeln kann, sagte er sich wütend und dachte an die Matrone von der Bank.

Am nächsten Tag kam er bereits gegen 13.00 Uhr nach Hause. Er hatte früher Schluss machen können. Dennoch war die Zeit knapp, aber sie reichte, um eine Büchse Hühnereintopf heiß zu machen. Derweil zog er sein kurzärmliges Hemd und die Bundfaltenhose, sein „Arbeitskostüm“, aus. Einen Schlips besaß er nicht. Auch wenn die Versicherungsfirma es als Selbstverständlichkeit ansah, dass ihre männlichen Mitarbeiter Krawatten trugen, hatte sich Gregor diese „Hundeleine“, wie er sie bezeichnete, immer gut vom Hals gehalten, was sein Chef missbilligend duldete. Frei und als er selbst konnte sich Gregor erst in der Jeans, in die er schlüpfte, und dem T-Shirt fühlen, das er sich hastig überstreifte. Dann schlang er zwei Teller Suppe im Stehen runter, verbrannte sich den Gaumen und sprang immer wieder auf, um irgendwelche Stecker zu ziehen, Fenster zu schließen und vergessene Kleinigkeiten in den Rucksack zu stopfen. Er kam ins Schwitzen. Es war halb zwei. 20 Minuten würde er bis zum Bahnhof brauchen, wenn er zügig lief. Warum musste das verdammte Auto auch kaputt gehen, dachte er. Den Abwasch ließ er stehen, schulterte den Rucksack, schnappte sich noch den Müllbeutel und schloss hektisch seine Wohnungstür ab.
Am Bahnhof hatte er nicht mehr die Zeit, sich eine Fahrkarte zu kaufen, zumal sich vor dem Schalter eine unverschämt lange Schlange gebildet hatte. Er sah auf den Abfahrtsplan und begab sich zum Gleis 2.
Der Bahnsteig war voll von Leuten, für die sich Gregor nie interessiert hatte. Ganz einfach deshalb, weil sie aus dieser Kleinstadt kamen. Oder weil sie dort zu Besuch waren, wo vernünftige Leute nie hinreisen würden, wie er es Max gegenüber einmal gesagt hatte, nachdem der bei ihm war. Gregor stellte seinen Rucksack ab und verschaffte sich nur schnell einen Überblick, ob ein schönes Mädchen unter den Reisenden sei, zu dem er sich unauffällig gesellen konnte. Aber da waren nur Männer und Frauen jenseits von gut und böse und eine Handvoll Lehrlingen, die man nicht mal mit den Fingerspitzen anfassen konnte. Stumpfsinnig spuckten sie ins Gleisbett und sagten idiotische Sachen wie: „Ey, du Arschloch, du hast doch heute Geburtstag, oder?!“
Unabhängig von diesen Mitreisenden fühlte sich Gregor unwohl, weil er gehetzt war. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und versuchte, ruhiger zu werden. Er kontrollierte, ob er auch wirklich sein Geld und den Wohnungsschlüssel eingesteckt hatte. Es war alles da. Aber der Herd! Hatte er den Herd ausgemacht? Verdammt, er wusste es nicht, spürte nur die Hitzewellen, die wieder durch ihn fluteten. Er schwitzte, versuchte sich an jeden Handgriff zu erinnern. Aber ob der Schalter ausgedreht war, wusste er beim besten Willen nicht zu sagen. Dreimal hatte er den Herd in den letzten Wochen angelassen, es jedoch noch rechtzeitig bemerkt, als eine der Kochplatten zu knacken anfing und die Küche ungewöhnlich warm wurde. Sollte er besser zurückgehen? Wenn er nicht einen der drei Pfingsttage verlieren wollte, war es für eine Umkehr zu spät.
Der Herd wird schon aus sein, beruhigte sich Gregor, als der Zug einfuhr. Er muss einfach aus sein!

Bevor er sich um einen Sitzplatz kümmerte, suchte er die Schaffnerin auf, um seine Fahrkarte nachzulösen. Beinahe zögernd gab er die 114,- Mark hin. Aber wenigstens musste er nichts draufzahlen. Max sagte immer, es kämen wieder bessere Zeiten, doch Gregor glaubte nicht mehr so recht daran. Außerdem hatte Max als Besserverdiener und Familienvater gut reden. Gregor kam sich vor wie ein diplomierter Bettler. Und irgendwie war er das ja auch. Seinen Magistertitel hätte er sofort zu Geld gemacht, wenn das möglich gewesen wäre. Manchmal lag er nachts in seinem Bett und dachte an nichts anderes als an Geld. Aber er wusste beim besten Willen nicht, wie er auf ehrliche Art etwas hinzuverdienen könnte. Und nach weiteren vier Jahren in der Provinz konnte er zwar wegziehen, aber nicht der Bankverpflichtung entkommen. Es war hoffnungslos. Max hatte seit Jahren mit Investmentfonds Erfolg und spekulierte wohl auch direkt mit Aktien, aber davon verstand Gregor nichts. Er kannte sich nur mit Literatur aus, und das war weniger als gar nichts. Außerdem fehlte Gregor für Fonds der finanzielle Grundstein, der ja monatlich von der Bank einkassiert und in einen Tresor ohne Boden geworfen wurde.

Gregor fand mit Glück noch einen freien Fensterplatz, allerdings im Raucherabteil. Er nahm sich den Hamsun aus dem Rucksack, sah durch die große Scheibe in die Landschaft und versuchte, sich zu entspannen, nicht mehr an Geld oder glühende Herdplatten zu denken.
Draußen schien die Sonne. Die Welt begrüßte ihn als wiedergewonnenen Sohn. Beinahe idyllisch, dachte Gregor nach einer Weile, wenn nur der Rauch von den Zigaretten nicht wäre, die alle gleichzeitig im Abteil angezündet wurden. Er versuchte zu lesen:
„Es war in jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist ...“
Gregor sah wieder aus dem Fenster und dachte doch an den Herd. Es war wie eine Zwangsvorstellung. Wie lange würde es wohl dauern, bis die Wohnung in Flammen aufginge ... Oder könnte so eine Herdplatte einige Tage vor sich hinglühen, ohne dass etwas passiert?
Er zwang sich zum Lesen und sah nur hin und wieder auf, wenn jemand das Abteil durchquerte, um zur Toilette oder sonstwohin zu gelangen. Allmählich stellte sich bei ihm Gelassenheit ein. Je länger er unterwegs war, um so mehr verlor seine Vorstellung, die Wohnung könne ausbrennen, ihren Schrecken. Er dachte immer seltener daran, wie an ein bereits gewesenes Ereignis, das mit den zurückgelegten Kilometern weiter und weiter in die Ferne rückte. Er hatte sein Los in die Hände des Schicksals gelegt, ohne sich weiter Gedanken über Gewinn und Verlust zu machen. Dadurch fühlte er sich beinahe frei. Er blinzelte in die Sonne und schlief ein.

Wäre in Weimar nicht Endstation gewesen, hätte Gregor den Ausstieg verpasst. Schlaftrunken packte er den Hamsun in den Rucksack und wenig erholt aus.
Weimar. Hierhin wollte er vor Jahren nicht ziehen, als einige Kommilitonen es vor hatten. Zum einen hielt er es nicht für originell genug, zum anderen mochte er Goethe nicht. Und außerdem hieße es Eulen nach Athen zu tragen, wenn man in Weimar versuchte, ein Antiquariat aufzumachen. Der letzte Grund war der einzige, der Max einleuchtete. Und nun? Nun wäre Weimars blasierter Kunstbetrieb, der die totgemachte Literatur wiederbelebte, Gregor tausendmal lieber gewesen als in seiner Kleinstadt Schneebälle gegen das Schicksal zu werfen. Weimar wusste wenigstens zu leben.
Gregor hatte knapp zwanzig Minuten Aufenthalt und beschloss, etwas über den Bahnhofsvorplatz zu schlendern. Vorher kaufte er sich am Bistro-Stand eine kleine Flasche Apfelschorle und trank sie im Gehen halb leer. Draußen empfand er den Rucksack als sehr hinderlich. Er nahm er ihn ab, setzte sich auf die Außentreppe des Eingangsbereichs und nippt weiter an seiner Schorle.
Die Stadt räkelte sich an diesem wolkenlosen Frühnachmittag müßig zu seinen Füßen wie eine sich sonnende Frau, die ihn mit den Zehen anstupst, die ihn verlockt. Er glaubte sie zu kennen, ihre Lebensgeschichte genauso wie ihre Friedhöfe, auf denen sich letzte Geheimnisse den neuesten Grabschändern entzogen. Weimar, letztlich auch nur eine romantische Raststätte im Nichts.
Gregor sah auf seine alte Armbanduhr. Noch 10 Minuten. Er stand auf, warf die leere Flasche in den Abfall, schulterte den Rucksack und suchte seinen Zug auf. Er brauchte 20 Minuten bis nach Göschwitz, musste dort umsteigen und fuhr dann weitere 4 Minuten bis nach Jena. So was Blödes, dachte er, umsteigen für eine Vier-Minuten-Fahrt.
In Jena stand ein Intercity bereit.
Die zwei Stunden bis Nürnberg verbrachte er wieder lesend. Von Hamsuns Hungerbeschreibungen bekam er Appetit auf eines der belegten Baguettebrötchen, wie sie an Bahnhofbistros immer ausliegen. Gregor beschloss, sich in Nürnberg gleich eines zu kaufen, denn in Jena war dafür keine Zeit gewesen und die Suppe, die er zu Hause gegessen hatte, hielt nicht lange vor.

Als der Zug einfuhr, half er noch einer alten Frau mit einem viel zu großen Koffer raus, die alles aufhielt. Für einen winzigen Augenblick dachte Gregor daran, dass sie ihm dafür möglicherweise 5,- Mark in die Hand drücken würde, so wie es seine Großmutter immer tat, wenn sie zu Besuch kam. Und er, Gregor, würde lächelnd ablehnen. Natürlich war das Blödsinn, denn außer seiner Großmutter hatte ihm noch nie jemand 5,- Mark in die Hand gedrückt. Meistens guckten die alten Leute nur misstrauisch, wenn Gregor ihnen mit dem Gepäck half, als habe er vor, sie eben darum für immer zu erleichtern. Selbst die alte Frau, die jetzt hektisch zwei kleine Räder und einen Griff an ihrem Koffer rauszog, vergaß, sich wenigstens zu bedanken.
Gregor stellte sich neben eine Bank, um nicht im Wege zu sein, sah auf seinen kleinen handgeschriebenen Zettel mit den Zugverbindungen und konzentrierte sich auf die Durchsagen. Er konnte seine eigenen Notizen kaum entziffern: „nach Regensburg - 17.38“. Jetzt war es halb sechs. Zur Sicherheit sah er auf den gelben Abfahrtsplan in der Mitte des Bahnsteigs. Da stand: „17.37, Eurocity, Gleis 4“. Also ging Gregor zum Gleis 4 und dachte darüber nach, warum der Zug wohl Eurocity heißen könnte und warum er nun doch 1 Minute eher fuhr. Na egal, so ein IC oder EC ist allemal komfortabler und schneller als ein Regionalexpress. Insofern freute sich Gregor auf die weitere Fahrt. Bis er sich zu den anderen Reisenden in die engen Gänge stellte. Er dachte, der Zug sei hoffnungslos überfüllt. Aber die Ursache, warum es nicht weiterging, war anscheinend wieder mal ein Koffer, der beim Tragen aufgegangen war und nun den Gang versperrte. Gregor hatte schon draußen seinen Rucksack abgenommen und versuchte, niemanden damit anzurempeln. Aber selbst ohne Rucksack hätte er Mühe gehabt, sich einen vorläufigen Stehplatz zu sichern, so dicht an dicht standen alle. Er schob kurzerhand ein paar Taschen auf der Gepäckablage zusammen und wuchtete seinen Rucksack hoch in die freigewordene Lücke. Vom vielen Umsteigen und der Furcht, einen Anschlusszug zu verpassen, war er nervös geworden. Auf seiner Stirn und den Handinnenflächen bildete sich wieder ein feiner Schweißfilm; jedoch beruhigte ihn die angenehm kühle Luft im Zug trotz der vielen Menschen nach einer Weile. Dafür spürte er nunmehr den immer stärker werdenden Hunger. Er fühlte sich schwach und schwindlig. Das belegte Brötchen, dachte er, als der Zug losfuhr. Er würde sich also erst in Regensburg etwas Essbares kaufen können, denn für das über die Lautsprecher schmackhaft gemachte Bordrestaurant hatte er zu wenig Geld.
Um sich von seiner Brötchenvision frei zu machen, sah er sich im noch immer verstopften Wagen um. Vor ihm, auf dem Sitz, an dessen Haltegriff er sich festhielt, saß eine Mittdreißigerin mit dunkelblonden Haaren. Sie schien Gregor schon eine gute Weile beobachtet zu haben und schaute ihn unverhohlen aus ein wenig frechen Augen an. Dann drehte sie ihren Kopf mit dem Anflug eines Lächelns zum Fenster hin. Sie hatte ihr schulterlanges Haar nach hinten gekämmt und mit einem grünen Tuch locker gebunden. Das Tuch passte ausnahmslos gut zu ihrem hellen, ebenfalls grünen Kostüm. Wie wohl ihre Augen aussehen, überlegte Gregor, denn das hatte er bei dem flüchtigen Blickkontakt nicht erkennen können. Also nahm er sich vor, ihr kurz, aber bewusst in die Augen zu sehen, wenn sie sich ihm wieder zuwenden würde. Sicher ist sie eine Geschäftsfrau, dachte er, als der Zug sich in Bewegung setzte. Doch würde sie dann 2. Klasse fahren ...?
Sie sah ihn wieder an. Grün, ihre Augen waren ebenfalls grün. Aber ein von Bernsteinbraun eingeschlossenes Grün. Und Gregor wurde rot. Er hatte sich ein wenig länger ihrem Blick ausgesetzt, als es im Allgemeinen üblich war, und das war ihm peinlich. Der Frau nicht. Sie lächelte immer noch leicht in sich hinein und musterte ihn. Ihre Blicke schienen wie Spinnen an Gregors weißem T-Shirt nach unten zu wandern und in der eng sitzenden Jeans zu verschwinden. Gregors Hüften waren genau auf Höhe ihres Kopfes und glichen die leichten Bewegungen des Zuges aus. Gregor sah zur Seite, spürte aber, wie ihre grünen Bernsteinaugen Löcher in seine Hose brannten. Er hatte Angst, eine Erektion zu bekommen, und versuchte nicht daran zu denken, was er gerne mit ihr tun würde. Deshalb war er froh, als der Gang endlich wieder passierbar wurde und er die Gelegenheit bekam, sich zu setzen. Zwei Sitzreihen hinter ihr, aber auf der anderen Seite, fand er zu seiner Freude einen freien Platz. Er sah noch etwas von ihrem Haar, sah ihren Arm auf der Sitzlehne ruhen, sah wie ihr Daumen den Ehering am Finger hin- und herschob, als würde es sie dort jucken. Da sie sich aber nicht nach ihm umwandte, verlor er allmählich sein Interesse. Er musste an eine ähnliche Situation denken, als er in Studententagen mit einer Frau allein in einem kleinen Zugabteil saß. Über vierzig war sie wohl, besaß aber mehr Ausstrahlung als alle Studentinnen, die er kannte. Sie saß Gregor gegenüber und las ein Buch oder eine Illustrierte. So genau wusste er das nicht mehr, aber an ihre Bluse konnte er sich noch genau erinnern. Es war eine kurzärmlige Sommerbluse aus seidigem taubenblauen Stoff, der von Perlmuttknöpfen zusammengehalten wurde. Nur der oberste Knopf war geöffnet und zeigte im Ausschnitt einen makellosen Halsansatz. Unter ihrer Bluse zeichnete sich deutlich die Struktur des BHs ab und ihre Beine, die glattrasiert aus einem knielangen, dunklen Rock wuchsen, schlug sie immer häufiger übereinander, je länger Gregor sie beobachtete. Er nahm wahr, dass sie seit fünf Minuten unverwandt auf eine Seite gestarrt hatte. Plötzlich stand sie auf, ohne Gregor bis dahin auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen, und griff nach ihrer Handtasche, die in der Ablage über Gregor lag. Ihr Schoß näherte sich so verräterisch seiner Nase, dass er meinte, ihre Erregung riechen zu können. Dann verließ sie das Abteil. Als sie nach einigen Minuten wiederkam, hatte sie Parfüm aufgelegt und auch den zweiten Knopf ihrer Bluse geöffnet. Sie nahm wieder Platz, stellte ihre Tasche neben sich, schlug ein Bein über das andere und las weiter. Auch jetzt wieder, ohne Gregor einen einzigen Blick zuzuwerfen. Aber ihr BH war verschwunden, das sah er sofort. Sie hatte ihn in ihrer Handtasche verschwinden lassen. Nun drückten ihre aufgerichteten Brustwarzen gegen den seidigen Blusenstoff, als fühlten sie sich immer noch eingeengt. Und Gregor saß da wie gelähmt. Das war alles. Irgendwann stieg sie aus und sah ihm zum ersten Mal in die Augen.
„Die Fahrkarte, bitte!“
Der Schaffner stand vor ihm. Ein mittelgroßer Mann mit Lesebrille und grauem Vollbart. Gregor zog seine kleine Nachlösefahrkarte umständlich aus der hinteren Hosentasche. Sie war etwas zerknittert. Der Schaffner prüfte sie gründlich und setzt schon die Stempelzange an. Dann setzte er sie wieder ab und fragte Gregor, indem er über den Rand seiner Lesebrille blickte:
„Wo wollen Sie denn hin?!“
„Nach ... ähm ... Regensburg“, antwortete Gregor irritiert.
Die Augen des Schaffners schlossen sich einen arrogant-entnervten Wimpernschlag zu lang, bevor sie sich – um Ruhe bemüht - wieder öffneten und er sagte:
„Das ist die entgegengesetzte Richtung, hier geht’s nach Würzburg!“
Gregor sah auf seine Fahrkarte, die der Schaffner immer noch in seiner Hand hielt.
„Wie bitte?“, fragte Gregor, da er nicht begreifen konnte, was er hörte.
„Dieser Zug fährt nach Würzburg. Und ich bekomme von Ihnen 35,- Mark für die Fahrt, inklusive EC-Zuschlag!“ Dem Schaffner war es egal, wohin Gregor wollte. Er hatte seinen Job zu machen, und das tat er überaus korrekt.
Die Situation schien Gregor zu überfordern. Er saß da wie ein Schachspieler, dem man gerade ein unerwartetes „Matt!“ geboten hat.
„35,- Mark, bitte!“, drängte der Schaffner, stellte sich kerzengerade hin und sah in den Gang.
Gregor stand auf, ging zu seinem Rucksack, der sich immer noch weiter vorn auf der Ablage befand, und kramte nach dem Portemonnaie. Dann gab er zwei 20,-Mark-Scheine hin und bekam vom Schaffner die alte und eine neue Fahrkarte mit den 5,-Mark Restgeld.
„Wie heißt denn die nächste Station?“, fragte Gregor.
„Würzburg“, sagte der Schaffner und ging weiter.

Die Geschäftsfrau in grün sah er beim Ausstieg nicht mehr, er achtete auch nicht weiter auf die anderen Fahrgäste. Sie waren nur die Strömung, mit der sich Gregor treiben ließ, nachdem er eingesehen hatte, dass schwimmen zwecklos sei.
Es war 18.30 Uhr. Jeden Augenblick würde Max den Regensburger Hauptbahnhof betreten und auf den 18.40-Uhr-Zug mit Gregor warten. Und dann? Dann würde er vielleicht noch den nächsten abpassen, bis er einsehen müsste, dass Gregor aus irgendeinem Grund verhindert sei. Ich muss Max anrufen, dachte Gregor nervös. Nie und nimmer wird Max damit rechnen, mich um 20.40 Uhr aus Würzburger Richtung zu empfangen, geschweige denn so lange zu warten. Doch 20.40 Uhr, das war die Ankunftszeit des nächsten Zuges, wie Gregor dem Abfahrtsplan entnahm. Und der nächste Zug würde sich in – ach Gott! – 5 Minuten in Bewegung setzen! Gregor hastete zu dem unterirdisch liegenden Schalter, um den Fahrpreis zu erfahren. Beinahe hätte er ein Kind umgerannt, das abrupt stehen geblieben war.
69,- DM hieß es an der Kasse. Gregor zog sein Portemonnaie: 50,- DM und ein paar Münzen waren ihm noch geblieben, über 10,- DM fehlten. Sollte er für eine Teilstrecke bezahlen und die letzten Stationen schwarz fahren? Aber dann würde er sich nachts zu Fuß in Regensburg auf den Weg nach der Würzburger Straße machen müssen, vorausgesetzt, dass man ihn nicht mehr vor Regensburg kontrollieren würde. Regensburg, Würzburg ... alles drehte sich in seinem Kopf, der vor Hunger schon schmerzte. Sollte er trampen? Als den ewigen Tramp, ja, so sah ihn die Frau am Schalter mittlerweile an, nur ohne Mitleid und durch eine feste Scheibe gegen das Leid anderer geschützt, als sie fragte:
„Also, was ist nun?!“
Hinter Gregor hatte sich schnell eine kleine Schlange gebildet, von Leuten, die ihn genauso ansahen wie die Frau hinter der festen Scheibe, das spürte Gregor. Eine Schlange, in die Gregor so gut passte wie eine unverdauliche Beute. Gedankenverloren verließ er den Schalter und suchte einen Fernsprecher auf. Aber wer sollte am anderen Ende rangehen? Max stand am Bahnhof und seine Frau war mit den Kindern verreist. Gregor hielt sich so lange den Hörer ans Ohr, bis das Freizeichen in ein Besetztzeichen überging. Nicht mal den Anrufbeantworter hatte er eingeschaltet, dachte Gregor resigniert. Und was nun? Er steckte die Telefonkarte langsam zurück ins Portemonnaie und lief in Richtung Ausgang. Vielleicht gibt es bei einem Ausgang immer auch einen Ausweg, sagte er sich und hielt sein Portemonnaie noch in der Hand, als sei es ein Schlüssel zu einem viel zu großen Schloss.
Er steuerte gedankenversunken auf eine Aussteigerin mit geschorenem Schädel zu, die wie eine heimliche Hüterin das Portal überwachte. Ausgang, Ausweg, Aussteigerin – passt!, schoss es ihm durch den Sinn. Er fühlte die Hoffnungslosigkeit seiner Lage so stark, dass in ihm eine Art Clown erwachte, der über die ganze Misere witzelte. Über Gregors Hunger und seine gegenwärtige im wahrsten Sinne des Wortes „verfahrene“ Situation, die nur widerspiegelte, was das gesamte Leben für ihn bereitzuhalten schien. Gregor war nunmehr alles egal und so gab er sich diesem Clown wie ein müder Freiwilliger aus dem Publikum hin. Aussteigerin, Aussätzige, Auserwählte, rief der Clown. Gregor versuchte ihn zu ignorieren. Er war nur noch gut 20 Schritte von der Tür entfernt und konnte seinen Blick nicht von der Kahlschädligen lassen. Eine wie sie hätte er im sauberen Bayern nicht erwartet, höhnte der Clown in ihm. Vielleicht blieb sie auch nur von der Bahnhofspolizei verschont, weil sie allein und ohne Hund war. Vielleicht war sie aber auch ein Wesen aus einer phantastischen Welt und nur Gregor konnte sie wahrnehmen, denn jeder andere sah an ihr vorbei. Der Clown verdrehte die Augen. Sie schnorrte, kein Zweifel, aber sie war stolz wie eine Königin und schien nicht jeden ansprechen zu wollen. Auf eine gewisse Weise fühlte sich Gregor mit dieser fremden, nicht einmal schönen Erscheinung verbunden. Da, schon nahm sie Gregor in Augenschein, prüfend und verachtend zugleich. Vielleicht hätte sie auch ihn für nicht würdig befunden, wenn da nicht sein Portemonnaie wie ein Köder gewesen wäre. Gregor war nur noch wenige Schritte von ihr entfernt, er sah, wie sie sich bereits ihre Frage nach Kleingeld hinter verschlossenen Lippen auf die Zunge schob. Da überredete ihn der Clown, diese stolze Königin zu überrumpeln. Auf den letzten Metern sah er weg, als wolle auch er ihr und ihrer Frage ausweichen, als wolle auch er sie durch Nichtbeachtung strafen und verschwinden lassen. Doch dann – er spürte förmlich, wie sie einatmete, um zu ihrer Frage auszuholen – kam er ihr zuvor:
„Hast du mal `ne Mark?!“, fragte er und hielt ihr die offene Hand hin. Der Clown konnte sein Grinsen schlecht verbergen. Sie war verblüfft. Tatsächlich stand ihr Mund eine Weile offen, gerade soviel, dass eine Zigarette zwischen ihren trockenen Lippen Platz gehabt hätte. Dann schloss er sich, schlossen sich halb ihre Augen. Sie sah Gregor zwischen langen Wimpern wie hinter Schießscharten verächtlich an. Ihr Kopf drückte sich in den Nacken, als spanne sich der Hahn einer Flinte. Offenbar glaubte sie, Gregor habe ihr den Krieg erklärt. Und das hatte sie gelernt: zu verachten und zu kämpfen, nicht aber, wie eine Königin auf den Hofnarren zu reagieren. Sie ahnte nicht einmal, dass Gregor sie überhaupt zur Königin erhöhte, spielerisch, wie ein Sänger der niederen Minne, ein fahrender Ritter ohne Lehen, welcher Mägde und gefallene Engel adelt. Aus einem romantischen Bedürfnis heraus, das Gregor mit seinem Lieblingsdichter teilte. Es fehlte nicht mehr viel und aus Gregor wäre ein bemitleidenswerter Don Quichotte geworden. Doch die Königin zielte nur mit ihrem Zeigefinger auf Gregors Romantik und schoss ein „Verpiss dich!“ ab.
Gregor lächelte matt und hatte Mühe, eine der schweren Bahnhofstüren aufzudrücken. Er schwitzte wieder, aber diesmal vor Hunger und Schwäche. Die Episode mit der Aussteigerin wischte er weg wie den Schweiß von der Stirn.

Windstill und lau war der sich ausbreitende Abend. Vor dem Bahnhof war nicht mehr viel los, aber ein Imbisswagen hatte noch auf. Es roch nach knusprigem Fleisch. „Brathenderl“ stand auf einem weißen Schild. Daneben das Bild eines Hahnes mit Messer und Gabel im Rücken, der sich irre lachend über den gelben Schnabel leckt. Der Verkäufer war schon am Zusammenpacken seiner Gerätschaften. Nur ein einziges Hähnchen drehte sich noch am Spieß vor der Grillwand.
„Einen halben, bitte. Oder besser zwei!“, beeilte sich Gregor zu sagen.
„Das ist mein Abendessen“, erwiderte der Verkäufer vorwurfsvoll. Dann lachte er. „Na, na! Ich kann die Viehcherl net mehr sehn.“ Routiniert nahm er den Braten vom Spieß und teilte ihn mit einer Geflügelschere. Die knusprige Haut war schon ein wenig zu braun geraten, aber das Ganze duftete so würzig, dass Gregor fast wahnsinnig vor Gier wurde. Er musste beständig schlucken. Dann lagen die zwei heißen Folienpakete vor ihm. Der Verkäufer wischte sich das Bratenfett an seiner speckigen Schürze ab.
„Acht Mark, weil du´s bist!“ Weil ich´s bin? Gregor gab das Geld hin, nahm die Pakete und dachte im Gehen über diesen Satz nach. Aber wohin ging er? Zog es ihn wieder zum Bahnhof? Er sah durch das Glas der Flügeltüren, als suchte er jemanden. So stand er eine ganze Weile da, bis jemand heraus wollte. Sie wird ohnehin Vegetarierin gewesen sein, dachte Gregor und verließ den Eingangsbereich. Die zwei Hähnchenhälften in seinen Händen waren wie ein kleines Glück: ein wärmender, verführerisch riechender Trost, der ihm die Geborgenheit seiner Kinderzeit vorgaukelte. Gregor ging zur Betoneinfassung einer Rabatte, legte das zerteilte Glück hin und nahm seinen Rucksack so umständlich ab, als trüge er dessen Last schon ein halbes Leben lang. Er dachte an seinen Stiefvater. Der hatte, da war seine Mutter gerade zur Kur, vor seinen Augen ein ganzes Brathähnchen allein verspeist. Zur Strafe. Zur Strafe für die Dose Dorschleber, die Gregor nach der Schule ohne böse Absicht verschlungen hatte. Denn er hatte Hunger und es war weiter keiner da, mit dem er hätte teilen können. Nur war es die einzige Dose Dorschleber im Haus und folglich ging es seinem Stiefvater ums Prinzip. Der ging unmittelbar nach seiner zornigen Moralpredigt aus dem Haus, um das Brathähnchen zu kaufen. Anschließend schmierte er Gregor demonstrativ ein Butterbrot und machte sich selbst über das knusprig-braune Fleisch des Broilers her. Am schlimmsten waren die selbstgerechten und lieblosen Blicke des Stiefvaters, während er das Hähnchen systematisch abnagte, aber nicht nur dann. An diesen Blicken änderte sich auch nach dem Tod der Mutter nicht viel. Gregors Stiefvater hielt sich für „hart, aber gerecht“ und glaubte Gregor so am besten auf das Leben vorzubereiten.
„Doch, Vater hat dich lieb, was du bloß wieder denkst!“, hatte die Mutter traurig nach der Kur gesagt. Vater ... Nie wäre Gregor auf die Idee gekommen, ihn Papa zu nennen. Dieses Wort galt einem Mann, den er nicht kannte. Doch die Mutter hatte recht; Jahre später wusste Gregor, dass sein Stiefvater ihn liebte. Nur hatte er nie gelernt, diese Liebe zu zeigen, selbst dann nicht, als Gregor sie am nötigsten brauchte. Er war zehn, als seine Mutter starb, und flüchtete sich in die Traumwelt der Bücher, die er von seinem Taschengeld kaufte, als wolle er einen Schutzwall um sich aufbauen. So hoch, dass die Worte des Stiefvaters ihn nicht mehr erreichen konnten, die ihn anschnoben, er solle endlich aufwachen.

„Schloafst du?“ Eine Stimme fiel in seine Erinnerung und zerriss die Bilder so schnell, dass Gregor zusammenzuckte.
Zerstreut wie ein Greis und schutzlos wie ein Kind sah er auf. Vor ihm stand ein bärtiger Mann. Er roch nach den Glascontainern trister Hinterhöfe. Neben ihm tauchte ein Hund mit schwarz-rotem Halstuch auf und schnupperte an Gregors Knien.
„Na, I hoab ma ´denkt“, sagte der Mann, „du schaffst dei´ Händerl nimmer. Und da könntest mir ... also für Stiesel, net für mi ... Stiesel, aus!“ Der Hund setzte sich. Gregor fühlte sich jetzt nicht mehr hungrig, aber auch nicht gerade satt. Eigentlich wusste er gar nicht, wie er sich fühlte oder fühlen wollte. Alles war so weit weg, das Fernste wie das Naheliegendste. Er war leidenschaftslos wie ein Yogi, den das Leben nicht kümmert und der Tod nicht schreckt. Und trotzdem – oder gerade deshalb – legte er dem Hund das restliche halbe Hähnchen vor und leckte seine mit Bratenhaut verklebten Fingerspitzen ab.
„Schadet ihm das nicht, ich meine die Hühnerknochen?“, fragte Gregor durch eine Art Gedankennebel, hinter dem er ratlos Bilderfetzen betrachtete.
„Freili´, Stiesel woaß scho´, was guat für ihn ist un was net“, sagte der Mann, wohl mehr zu sich selbst. „Nun friss schön, Stiesel, friss! Ja, so is´ brav!“
Obwohl Gregor tief in sich versunken war, registrierte er doch, dass die ganze Aufmerksamkeit des Mannes, der offenbar ein Herumtreiber war, dem anderen, immer noch warmen Hähnchenpaket galt. Wie um sich selbst von dessen Anblick loszureißen, deutete er auf den fressenden Hund und sagte:
„Den hoab i im Frühling von den Bahnhofspunks g´schenkt bekommen.“ Da Gregor nichts hinzufügte, machte er eine kurze Denkpause und sprach wieder wie für sich: „War ja eigentlich nur auf der Durchreise, aber hier is´ mei Fahrt geendet. Regelrecht rausg´schmissen habens mi!“ Dann sah er Gregor zum ersten Mal und gleich wie einen alten Kameraden an. Dabei fuhr er fort:
„Nun muss i wart´n, bis i des Geld für die Fahrkart´n z´samme hoab ... Wenn´s wieder kalt wird, will i besser in München san.“
Der fremde Dialekt war ein akustischer Sog, an dessen Rand sich die Wörter zu drehen begannen. Ihr Sinn, ihre Bedeutung verzerrte sich im strudelnden Redefluss und ging zwischen den Sätzen unter. Die abgehackt klingenden Laute nahm Gregor als Hilferufe eines Ertrinkenden wahr, obwohl sie doch alles andere als dramatisch klangen. Doch in diesem Moment schien Gregor nicht mehr Herr seiner Selbst zu sein. Er kam sich entrückt vor, schwebend und fremdgesteuert von etwas, an das er nicht glaubte. Aber er gab sich diesem Etwas hin, dem Sog der Worte und dem Schicksal, das auf ihn wartete wie ein großer Wal auf den gegen den Strom schwimmenden Propheten. Und das machte ihn unbeschwert und furchtlos wie ein Kind, wie einen weisen Alten. Gregor stand langsam auf und reichte dem Bärtigen – wie um ihn loszuwerden – sein Hähnchenpaket mit den Worten: „Hier, falls dein Hund nicht satt wird“, jedoch ohne die Spur eines gönnerhaften oder ironischen Untertons. „Und hier, für deine Fahrkarte ...“, sagte er weiterhin und nahm aus seinem Portemonnaie mit einer leidenschaftslosen Geste alles Geld, was er noch hatte. Die etwas über 40,- DM hielt Gregor dem nun sprachlosen Herumtreiber als etwas Lästiges hin. Misstrauisch starrte der abwechselnd auf das Geld und in Gregors Gesicht, welches durch die sich unmittelbar dahinter befindliche Sonne nur dunkel zu erkennen war. Dem Bärtigen erschien die Sonne wie ein Heiligenschein oder Scheinwerfer, der einen Irren erstrahlen lässt. Aber trotz aller Irritationen nahm er die staniolumwickelte Hähnchenhälfte und das Geld, ohne weiter darüber nachzudenken. Er hatte in den letzten Jahren kaum mehr als 10,- DM auf einmal geschenkt bekommen und wusste, dass dies hier eine Chance war. Und Gregor? Der war nah dran, ihm auch noch seinen Rucksack zu überlassen. Aber dann setzte er ihn doch gedankenlos auf und machte Anstalten, ohne ein weiteres Wort zu gehen.
„Wo willst denn jetzt hin? So ohne Geld!“ Der Bärtige sah Gregor besorgt an.
„Ich habe keine Ahnung!“, antwortete Gregor mit vergeistigter Gleichgültigkeit. „Vielleicht nach Regensburg, aber das ist nun auch schon egal.“
Dieses „schon egal“ kannte der Bärtige zu gut, und er wusste, dass Gregor seine Hilfe braucht. Wenigstens eine Bleibe für die anbrechende Nacht. Er musste sich um diesen Verrückten da kümmern. Das Geld jedoch steckte er schnell weg.
„Weißt was“, sagte er, „i nehm di mit zum AKZ, doa is´ heut bestimmt was los, wenn hier die Punks fehl´n. Und wenn doa was los is´, dann kannst du da sicher auch glei´ übernacht´n.“ Gregor war es so recht wie billig. Der Bärtige öffnete das Hähnchenpaket, rief seinen Hund und begann – statt dem Hund den Braten zu überlassen - im Gehen hastig zu essen. Dabei nickte er Gregor, der ihm wie ein zweiter Hund folgte, zu, als wolle er sagen: Es wird schon wieder. Und Gregor nickte zurück. Der Clown in ihm riss die Augen auf, als suche er nach einer Pointe für seinen nahenden Lachanfall. Das brachte Gregor mit jedem seiner Schritte ins Diesseits und zu sich selbst zurück. Fast bereute er, sein Geld verschenkt zu haben, denn er taugte genauso wenig zum Heiligen wie sein bärtiger Begleiter, der sich mit vollem Mund vorstellte:
„I bin übrigens der Hannes.“
„Gregor“, sagte Gregor. Fast hätte er „Angenehm!“ gesagt.
Sie bogen rechts an einer großen, dicht befahrenen Straße ein und ließen die Altstadt, über der sich die ersten Sterne zeigten, links liegen. Vor Gregor breitete sich mit dem Straßenlärm das große Unbekannte aus, was mehr als ein Abenteuer ist. Hinter ihm lag etwas, dem man nur selten entkommt, weil es einem seine Schatten immer weit vor die Füße wirft. Einer stolpert, der andere fällt, dachte Gregor und sah auf Stiesel herab, der um Hannes´ Beine schwänzelte und sich einige Happen erbettelte, die er in der Luft auffing.
Hannes war mindestens über fünfzig, wie alt genau, war schwer zu sagen. Das Leben auf der Straße lässt einen eben schneller altern. Seine gelbgrauen Haare waren kurzgeschnitten, aber der dunkle Bart durfte ungepflegt wachsen. Über seiner ausgewaschenen grauen Jeans hing ein Pullover mit Rentiermuster, unter dem sich der Ansatz eines Bauches abzeichnete. Gregor versuchte sich vergeblich vorzustellen, wie Hannes, der Bärtige, in seinem Alter ausgesehen haben mochte. Und wie würde er, Gregor, mit fünfzig sein?
Als Hannes das Abendmahl beendet hatte, warf er die Reste zwischen die jungen Bäume vor einem Parkplatz und pfiff den Hund zurück, der gleich hinterher sprang. Dann wischte er seine Finger an der Hose ab und schickte sich an, die noch stark befahrene Straße zu überqueren, wobei er den Hund am Halstuch festhielt. Sein Ziel war das Billardcafé auf der anderen Seite, eingeklemmt zwischen zwei trostlosen Fachwerkhäusern. Gregor ging ohne Fragen mit.
„Wart halt hier draußen mit Stiesel auf mi, i bin glei´ wieder do!“, sagte Hannes vor dem Eingang und ging rein. Stiesel fiepste unruhig und setzte sich mit Blick zur Tür auf die Hinterbeine. Warum dieser Hannes ins Billardcafé musste, interessierte Gregor nicht; er sah nur auf seine Uhr - es war kurz nach acht - und er dachte an Max, der nach einer Erklärung suchen würde, eine Erklärung, die nicht einmal Gregor selbst hatte. Gregor stand da vor dieser fremden Kneipe in dieser fremden Stadt wie ein Kind, das um Einlass bittet. Er wartete dort auf einen Stadtstreicher, der sicher gerade am Tresen ein paar Biere kippt. Eine Erklärung ... Er hörte seinen Stiefvater, der ihn, der das Kind anschrie: Hast du dafür eine Erklärung?! Eine Erklärung?! Sieh mich an! Sieh mich an!! Aber Gregor mochte ihn nicht ansehen. Er sieht nach oben, in den wolkenlosen Nachthimmel. Großmutter sagte immer, auf jedem Stern sitzt die Seele eines verstorbenen Menschen und schaut auf ihre Lieben herab, sodass Gregor immer den Himmel nach dem einen Stern absuchte, auf dem sich die Seele seiner Mutter befinden sollte. Später, als er nicht mehr daran glaubte, weil er den Stern nicht finden konnte, fragte er die Großmutter, ob sie dafür eine Erklärung hätte. Was denn für eine Erklärung, Junge?! Na, woher sie wisse, dass es so sei, wie sie glaubt. Aber da lächelte die Großmutter und sagte: Eine Erklärung! Die Dinge geschehen einfach. Das Schöne versteht man immer ohne Erklärungen und für das Hässliche gibt es nichts, das uns vollkommen verstehen lassen würde. Eine Erklärung ist nur wie eine Leiter, mit der man sich seinen Überblick verschafft; aber man würde nach wie vor seine Arme nach etwas Unerreichbarem ausbreiten.
Als die Kneipentür wieder aufging, hielt Hannes Gregor eine Flasche Obstler unter die Nase und grinste, als hätte er sie gerade gewonnen.
„Von meinem Geld?“, fragte Gregor, obwohl er wusste, dass sich Hannes davon nie und nimmer eine Fahrkarte gekauft hätte.
„Mei, ´s is´ ja noch was doa!”, sagte Hannes. Es klang wie: Mein Gott, bist du kleinlich. Er schickte sich an weiterzugehen, wohl auch aus Verlegenheit. Gregor und Stiesel folgten ihm. „Für´s AKZ; i wollt´ halt net mit leeren Händ´n komm´n!“ Hannes war etwas beleidigt.
„Schon gut“, meinte Gregor beschwichtigend. „Was heißt AKZ eigentlich?“
„AKZ? Ja ...“ Er blieb kurz stehen um nachzudenken und sah den Rücklichtern eines Kleintransporters mit Münchner Kennzeichen nach. „Irgend wos mit Autos“, sagte er. Dann gingen sie weiter. Minuten später überquerten sie eine Brücke.
„Sikst es scho?!“ Hannes deutete mit dem Obstler den Fluss lang. Hinten gab es eine zweite Brücke. Davor brannte am linken Mainufer ein Lagerfeuer in der dunkler werdenden Böschung. Gregor hörte Musik. Es war fast windstill. Auf der anderen Seite fuhr ein Zug der längst untergegangenen Sonne hinterher. Gregor fröstelte ein wenig. Er nahm den Rucksack ab und kramte seine zerknitterte Jeansjacke hervor. Derweil schraubte Hannes knackend die Schnapsflasche auf. Stiesel bellte, weil er irgendwo eine Wasserratte witterte und jagte über die Brücke. Gelassen sah ihm Hannes nach. Er gönnte seinem Hund dieses Vergnügen.
Unter ihnen lag der Main, dunkel wie der Fluss des Vergessens. Nur dort, wo Laternen ihn beschienen, war zu erkennen, dass er sich bewegte, als erinnere er sich seiner Quelle. Nach Leben und nicht nach Tod roch der Fluss, trotz seiner fast schwarzen Färbung.
„Der erste Schluck is für di!“ Hannes hielt Gregor die Flasche unter die Nase. Erst wollte Gregor ablehnen, dann sagte er:
„Ich denke – als Mitbringsel – für dort unten.“ Er deutete auf den Feuerschein. Hannes lachte:
„Du würd´st ... du würd´st glatt noch Geschenkpapier drumwickeln!“
Gregor musste mitlachen. Er nahm einen kräftigen Schluck, verzog seinen Mund und reichte Hannes die Flasche zurück.
„Der is´ guat!“, sagte Hannes, nachdem er die Flasche wieder abgesetzt hatte. „Nur Zigaretten, Zigaretten bring´n di´ um.“
„Hab auch aufgehört“, sagte Gregor und dachte an das Nachtangeln mit seinem Stiefvater. Vierzehn war er, da durfte er zum ersten Mal einen Schluck Weinbrand trinken, zum Aufwärmen. Einer der glücklichen Momente am Ende seiner Kindheit ... Natürlich nicht wegen des Weinbrands, daraus machte er sich nie etwas. Aber es war das Mannbarkeitsritual und der tiefe Frieden, der es umgab; Dinge, die einfach geschehen ...
Nachdem Stiesel wieder aufgetaucht war, schlugen sie sich ins Gestrüpp der Uferböschung. Ein überwachsener Pfad führte sie allmählich dem Feuerschein entgegen, die Musik wurde lauter.
„Wart e´mol“, sagte Hannes und drehte sich breitbeinig dem Fluss zu, „i muss hier erst für den richtigen Wasserstand sorgen.“ Er lachte wieder und urinierte in die Dunkelheit. Irgendwie schien er mit seinem Leben zufrieden zu sein. Es war überschaubar und frei von selbst auferlegten Zwängen. Gregor gesellte sich dazu. Sie standen einträchtig wie vor unsichtbaren Pinkelbecken nebeneinander und lauschten ihrem prasselnden Strahl.
„Ob oaner arm oder reich geboren wird – am Ende macht jeder beim Pissen das gleiche dumme Gesicht“, meinte Hannes. Gregor wollte etwas fragen, aber da begann Stiesel aufgeregt Laut zu geben. Aus der Richtung des Feuers war näher kommendes Gebell zu hören. Noch bevor Hannes seinen Reißverschluss wieder oben hatte, war er von drei großen Hunden umstellt, die atemlos hechelten und an ihm schnupperten. Stiesel umsprang sie freudig und wedelte mit dem Schwanz. Von weitem wurden die Namen der Hunde gerufen.
„Na, ihr Räuber!“, begrüßte sie Hannes und kraulte sie derb am Kopf. Augenblicke später führte er die ganze Meute aus dem Dickicht zu einer Art Musik umspülten Anlegeplatz - für Schiffer und gestrandete Existenzen. Gregor folgte ihm ein wenig unsicher.
„Hannes, alter Verbrecher, wen schleppst du denn da an?“, rief jemand und warf von einem Holzhaufen Scheite ins Feuer, dass die Glut hoch stob.
„Dachte schon, die Glatzen kommen“, meinte ein anderer und setzte eine Flasche an den Mund. Vor einem kleinen Steg beschien das Lagerfeuer eine Gruppe von fünfzehn bis zwanzig Leuten. Ihre Schatten tanzten auf der blassen Fassade des kleinen Hauses im Hintergrund. Sie bewegten sich wie in Ekstase zur harten 3-Akkorde-Musik der Sex Pistols. Aber die Leute selbst tanzten nicht. Sie saßen auf einem entwurzelten Baum, auf Getränkekisten oder lagen auf Matratzen. Nur einer stand leicht abseits und brüllte den Text falsch mit, brüllte seine Wut auf den Fluss raus, als könnte der sie ersäufen oder vergessen lassen.
Wie ein Szene-Tourist kam sich Gregor mit seinem verdammten Rucksack vor. Was hatte er hier auch verloren? Mit Max im Biergarten bis geschlossen wird, so hätte es sein sollen. Nun stand er unentschlossen am Feuer, sah zu, wie sich Hannes ein Bier aus einem Kasten nahm und seinen Obstler in die Runde reichte. Die meisten waren Ende zwanzig wie Gregor, aber dadurch dass sie ihr Leben offensichtlich am Rande der Gesellschaft fristeten, wo alles schneller, kompromissloser und brutaler zuging, sahen sie - wie Hannes - älter aus, reifer, und doch wie Kinder – wie trotzige Kinder. Sie hatten was von Schillers Räubern, waren romantische Desperados, die so lange zu den moralisch Überlegenen gehören wie die Nacht als Kulisse ihnen einen Auftritt gewährt. Unter ihnen waren auch Frauen.
„Hey, das ist doch der Wichser vom Bahnhof“, sagte eine irgendwie vertraute Stimme, „wollte mich doch glatt verarschen und hat mich angeschnorrt!“ Die Stimme gehörte der kahlschädligen Türhüterin, die zwischen den Lederhosenbeinen einer Frau in schwarz saß und wütend an einer Zigarette sog. „Hat Sinned angeschnorrt!“ Einige lachten. Sinned also, dachte Gregor.
„Der is´ in Ordnung“, wurde er von Hannes verteidigt, “hat mir sein goanzes Geld g´schenkt, der Irre.“
„Freedom is just another word for nothing left to lose!“, ließ sich die Lederhosenfrau hinter dieser Sinned altklug vernehmen.
„Nun setz dich erst mal, Alter“, sagte jemand mit abgeknicktem Irokesen-Kamm, „greif dir ein Bier!“ Gregor nahm einmal mehr seinen Rucksack ab und stellte ihn an den Holzstapel. Hannes warf ihm eine Flasche zu, die ordentlich spritzte, als der Irokesen-Mann sie mit einem Feuerzeug öffnete. Gregor trank den Schaum schnell ab und prostete stumm in die Runde. Er war durstig, da er den ganzen Tag kaum etwas getrunken hatte, und leerte die Flasche recht zügig. Sinned funkelte ihn aus ihren großen Augen böse an.
„Wos wird hier eigentlich gefeiert?“, fragte Hannes.
„Nichts Heftiges“, sagte der Irokesen-Mann, „Banshi hat von ihrer Oma nur etwas Geld zugesteckt bekommen, und die Stadt wollte das AKZ über Pfingsten ganz offen lassen.“
„Haben wohl wieder Randale befürchtet“, meinte die Lederhosenfrau und umarmte Sinned.
„Was heißt AKZ eigentlich?“, fragte Gregor.
„Autonomes Kulturzentrum.“ Gregor nickte. Irgendwas mit „Autos“ also ... Er grinste spöttisch zu Hannes rüber, aber der war mit den Hunden beschäftigt. „Ein paar von uns hatten vor drei Jahren die alte Flößerstation da hinten besetzt.“ Gregor sah auf das kleine Haus mit den tanzenden Schatten. „Dann kamen die Bullen und als die uns nicht schafften die Stadtoberen mit ihrem Selbstinitiative-Projekt. Aber solange die uns hier nicht freie Hand lassen, wird gar nichts passieren.“
„Ja, meistens ist der Laden hier dicht, verdammte Scheiße!“, sagte der, der sich eben noch zu den Sex Pistols freigebrüllt hatte und nun vor dem entwurzelten Baum lag.
„So dicht wie du.“, spottete der Irokesen-Mann und wurde daraufhin von einem Kronkorken getroffen.
„Macht doch mal endlich die bekackten Pistols weg“, rief einer. Woraufhin der unter dem entwurzelten Baum Liegende ihm zubrüllte:
„Mach kaputt, was dich kaputt macht!!!“
„Ach, fick dich, Sid!“, wurde zurückgebrüllt.
Banshi, Sinned, Sid ... Phantasienamen, hinter denen man sich genauso gut verstecken kann, wie sie einem eine neue Identität verschaffen.
Aus dem Rekorder kamen nun ruhigere Töne, aber voll aufgesetzter Melancholie. Keiner sprach mehr ein Wort, jeder gab sich seinen Gedanken hin, ging seinen Weg zurück, wo es angefangen hatte oder träumte sich vorwärts. Keiner verriet, woher er kam, keiner fragte Gregor, wohin er mit seinem Rucksack wolle. Sie waren nur zufällig an einem Haltepunkt zusammengekommen, wo sich Schicksale gleichen, wo Fragen dieselben sind und deshalb nicht mehr gestellt werden. Zumindest kam es Gregor in diesem Moment so vor. Sinned verschmolz mit der Lederhosenfrau während eines intensiven Kusses. Darauf standen beide auf und verschwanden in dem kleinen hintergründigen Haus, der alten Flößerstation.
Gregor sah ihnen noch nach, als sie schon längst darin verschwunden waren. Dann genoss er die Wärme des Feuers, die Kühle des Bieres und die Leichtigkeit des Seins ohne Rucksack, ohne Lasten. Er roch die Frische des Flusses, roch den Staub, das fettige Fell der Hunde, den süßen Duft verbrannten Holzes, den bitteren Rauch filterloser Zigaretten und den ranzigen Schweiß müder Körper. Er roch das Leben, die Sehnsucht und den Tod. Er nahm wahr, wie sein eigener Körper allmählich diesen Geruch anzunehmen begann. Er roch Veränderung. Und er roch Stillstand. Aus dem Kassettenrekorder schlichen, torkelten und stampften Songs von Tom Waits. Sie verstärkten Gregors Wahrnehmung, sein Fühlen und Erkennen. Es waren Songs, welche ihm die ganzen Situationen vor Augen führten, die er durchlebte.
Der Irokesen-Mann bot ihm eine Zigarette an, als wüsste er, was in Gregor vorging. Wortlos griff Gregor zu, die erste Zigarette nach zwei Jahren. Als er gedankenverloren in seinen Hosentaschen nach einem Feuerzeug suchte, obwohl er keines besaß, fiel ihm der Zettel mit den Zugverbindungen in die Hände: „Ankunft: 18.40 Uhr“. Er zerknüllte ihn, warf ihn ins Feuer und zündete sich mit einem brennenden Zweig die Zigarette an. Er inhalierte tief und voll innerem Frieden. Dann legte er Holz nach, wie wenn er die Asche des verbrannten Zettels auch noch begraben wollte. Hannes hatte sich von irgendwoher eine Decke geholt und saß eingewickelt vor den Baumwurzeln, die auf ein paar Sterne am Himmel zeigten. Er trank den letzten Schluck Obstler aus der Flasche und streichelte Stiesel, der auf seinem Schoß eingeschlafen war. Die anderen Hunde waren auch irgendwo zur Ruhe gekommen. Das Feuer loderte auf und erhellte den alten Anlegeplatz. Gregor warf seine Zigarette fort, ging zum Steg und setzte sich an dessen Ende. Die Füße ließ er über der schwarzen Wasseroberfläche baumeln. Hin und wieder tauchte er die Schuhspitzen ein.
„Es gibt Moment, da könnte ich übers Wasser gehen ...“, hörte er eine irgendwie vertraute Stimme hinter sich sagen. Er drehte sich um. Sinned stand dort, allein. „Aber immer in der Mitte des Flusses hört es auf. Ich sinke bis zum Hals ein und schwimme auf der Stelle, weil ich mich für keines der Ufer entscheiden kann ...“ Gregor sah wieder aufs Wasser und schwieg eine Weile.
„Meinst du, zwischen Männern und Frauen?“, fragte er zögerlich.
Sie lachte: „Wie bist du denn drauf?“ Gregor wurde verlegen wie ein Schuljunge und stand auf.
„Doch, ich weiß schon, was du sagen willst, ich kenne das ja auch. Vielleicht muss man nur fest daran glauben, dass man das andere Ufer erreichen kann. Loslassen ist die eine Sache, seinen Weg gehen die andere. Gehen oder schwimmen, das nimmt sich nicht viel.“
Sie sah ihn mit ihren großen Augen an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Gregor erging es ähnlich. Er musste tatsächlich einmal um sie herumgehen, damit er ihr Gesicht im Widerschein des Feuers auflodern sehen konnte. Denn die spröde Bettlerin, die sie noch vor kurzem war, wurde von Minute zu Minute, von Wort zu Wort reicher und schöner.
„Hast du gewusst, dass man denselben Fluss nicht zweimal betreten kann?!“, fragte Gregor.
Sinned legte die Stirn in Falten: „Was?“
„Na ich meine ...“, Gregor suchte nach Worten, „also ... es ist wie mit den richtigen Momenten, in denen wir das Falsche tun oder etwas, das uns im Nachhinein leid tut, aber dann ist es zu spät ...“
„Du meinst, so wie heute am Bahnhof?!“ Sinneds Stimme wurde immer sanfter, immer vertrauter.
„Ja, vielleicht.“ Gregor lächelte. Dann schwiegen beide. Schließlich fragte Sinned:
„Tut es dir leid, dass du jetzt hier bist?“
„Nein“, sagte Gregor ohne zu zögern.
„Aber du hättest jetzt woanders sein sollen?“ Sie sah ihn fragend an. Er wich ihrem Blick aus.
„Hat dich eine Frau verlassen?“ Gregor spürte, wie sie versuchte, ganz tief in ihm etwas aufzuschließen. Und Sinned, die Hüterin des Bahnhofportals, wusste ihre Schlüssel geschickt zu handhaben.
Gregor erhob sich mit ernstem Gesicht. Der Clown in ihm hatte längst begonnen, sich abzuschminken.
„Eine Frau?“ Gregor dachte an die zahllosen Nächte verzweifelter Einsamkeit und an die dicke Iris, mit der er sich selbst betrogen hatte.
„Die muss erst gefunden werden“, sagte er. „Doch das ist es nicht. Nur ... jetzt ist irgendwie alles anders. Heute morgen war das Unklare noch klar, oder umgekehrt, verstehst du?“
„Klar!“ grinste Sinned frech und funkelte mit ihren schönen Augen. „Nein, eigentlich verstehe ich kein Wort.“ Sie verkniff sich das Lachen. Dann wurde auch sie ernst und sagte: „Aber ich fühle, was du meinst.“ Gregor starrte auf den Fluss und nickte. Auf der anderen Seite fuhr ein Zug vorüber.
Nachdem es wieder still wurde, fragte Sinned: „Wohin wirst du gehen?“
Gregor wandte sich ihr zu und lächelte sie beinahe zärtlich an.
„Ich hätte schwören können, dass mich das hier keiner fragt“, sagte er, „ ... aber ich weiß nicht, vielleicht zurück, vielleicht nach München oder noch weiter.“ Er lachte: „Oder nach Italien! Zu Fuß über die Alpen, wie ein romantischer Taugenichts ... Und du? Was hat dich hergeführt?“ Sie sah zum Feuer zurück.
„Also mich hat kein alkoholkranker, brutaler Vater vergewaltigt oder so, und meine Kindheit war auch nicht absolut verkorkst. Aber die Wahrheit liegt immer irgendwo dazwischen. Vielleicht bin ich hier, weil ich daran glaube, dass jeder eine zweite Chance verdient hat.“
„Oh, die hast du mir am Bahnhof aber nicht eingeräumt“, neckte Gregor sie, „da hast du mich gleich zum Teufel geschickt.“ Jetzt funkelten auch seine Augen. Als spiegelte sich darin ein ganz besonderer Stern wider ...
„Hast du Lust zu baden?“, fragte Sinned. Sie sah ihn herausfordernd an. Dann zogen sie sich aus. Sein Schatten berührte ihren weißen Körper. Und ihre Nacktheit ließ sie einen Moment so schutzlos wie ein kleines Mädchen erscheinen. Aber sie war stark genug, es zuzulassen. Auf einmal verstand Gregor das biblische Wort: „Und Adam erkannte Eva!“ Er kannte sie in diesem magischen Augenblick; einfach deshalb, weil sie es zuließ. Und er wusste, warum die Reisenden am Bahnhof sie nie erkennen konnten: weil sie es ihnen immer verwehren würde.
Doch jetzt, jetzt zitterte sie und küsste ihn wie jemanden, der nach einer langen Reise heimkehrt oder im Begriff ist, Abschied zu nehmen. Sie küsste voller Hingabe und schmeckte doch wild und ungezähmt.
„Ich werde dich nicht nach deinem Namen fragen“, flüsterte Sinned, da sie das Wesentliche über ihn wusste. So wie er über sie.
„Gregor“, flüsterte er lächelnd zurück.
Dann glitten sie vom Steg langsam in den kalten Fluss. Sie lachten wie zwei Königskinder, denen kein Wasser zu tief ist und schwammen gegen die Strömung, bis sie müde wurden.
Am anderen Morgen war Gregor verschwunden. Seinen Rucksack hatte er da gelassen.