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Mittwoch, 5. August 2015

150 | Dinge IV


Der Ring


Vor anderthalb Jahren verstarb meine Lebensgefährtin. Seitdem trug ich einen silbernen Ring mit ihrem Fingerabdruck. Er tröstete mich, gab mir Halt, ließ sie bei mir sein. Wie ein Ehering sah er aus. Ja, sah. Denn vorhin, als ich am felsigen Strand ins Meer stakste, riss eine Welle mich um und mir den Ring vom Finger.
Mein erster Gedanke: Oh nein! Mein zweiter: Ich muss ihn finden! Trotz der Brandung und des Gerölls. Und während ich mehr oder weniger haltlos zu suchen begann und auf ein blinkendes Wunder hoffte, kam mir der dritte Gedanke: Was, wenn sie es war, die mir den Ring nahm? Um mich freizugeben. Weil sie ihren Platz in meinem Herzen ohnehin sicher weiß. Sie, meine Liebe, mein Engel. Möglicherweise wollte sie mich vor dem Dilemma bewahren, den Ring eines Tages abzulegen, ohne es wirklich zu können. Zuzutrauen wäre es ihr. Sie war ja so pragmatisch in vielem. Sie war überhaupt so vieles. Und so vieles mehr.
Dann tauchte ein weiterer Gedanke auf: Vielleicht will sie mich testen. Will sehen, wie ausdauernd ich den Ring suche. Und das tat ich, keine Frage. Und während die Wellen hin und her wogten, dachte ich mit angeschwemmtem Pathos: Das Meer gibt, das Meer nimmt. Genau wie das Leben.
Etwas später wollte ich nach dem erfolglosen Unterfangen wenigstens Ersatz mitnehmen: einen Stein. Nur welchen? Der ganze Strand ist voller Steine! Da verließ ich mich auf meine Intuition (mehr hat man im Zweifel ja nicht) und entschied mich für diesen hier:
Noch etwas später kehrte ich erneut zum Strand zurück. Das war ich mir schuldig. Und ihr sicher auch.
Während ich über den nackten Ringfinger strich, fühlte ich wieder die Lücke, die sie hinterlassen hatte. Aber mich tröstete ein vorerst letzter Gedanke: Jenes Bild, wie das von ihr so geliebte Meer sich den Ring holt und in sich verschließt, hätte ihr gefallen. Genau wie die Slapstick-Nummer, als das Meer mir vorhin die Füße wegriss. Und mich doch wieder aufstehen ließ.

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