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Montag, 8. Februar 2010

107 | EOC-Silberhochzeit

Gestern Abend war ich nach 8 Jahren endlich wieder bei einem Element-of-Crime-Konzert. Damals präsentierten sie in der Arena Berlin ihre CD „Romantik“, jetzt, beinahe als Abschluss einer Tour durch den deutschsprachigen Raum, die Platte „Immer da wo du bist bin ich nie“. Ohne Komma. Und ohne Anführungszeichen.
So schön wie H.P. Daniels darüber heute im Tagesspiegel-online geschrieben hat (www.tagesspiegel.de/kultur/pop/H-P-Daniels-Element-of-Crime;art971,3024755), kann ich das nicht. Ich musste erst einmal googlen, was unter Mariachi-Melodien oder dem Bo-Diddley-Beat zu verstehen ist und bin jetzt schlauer. Aber ich kann bestätigen, dass es ein guter Abend war, mit guter Musik und Texten, wie ich sie liebe.
Wegen der Hallenakustik verstand ich zwar nicht alles, doch fühlte ich mich gleich wieder wie zu Hause, als altbewährte Songs erklangen. Songs, denen man nicht vergisst, dass sie einem seit Jahren Asyl gewähren.

H.P. Daniels hat sich in seiner Konzertkritik detailliert, aber einzig auf Element of Crime bezogen. Schade, denn zu meiner guten Stimmung trugen weiterhin nicht nur zwei Himbeer-Margaritas vorab bei, um mir das Warten schönzutrinken, sondern auch die Vorband: Florian HORWATH. Ein aus Tirol stammender Neu-Berliner, der mit seinen Jungs Musik macht, die mich irgendwie an die weniger stressigen Sachen von Velvet Underground erinnerte. Gefiel mir also. Und als sie zum Abschluss Norman Greenbaums 40 Jahre altes „Spirit in the Sky“ spielten, swingte ich mich gleich zur guten Laune rüber. Die wurde von den übrigen Konzertbesuchern beinahe mehrheitlich geteilt. Einem Publikum, das im Allgemeinen altersmäßig gemischt war, im Besonderen jedoch für eine Ü-40-Party rekrutierbar war. Kein Wunder, denn die Hauptgruppe kann auf 25 Jahre Bandgeschichte zurückblicken. So wünschten sich insgeheim etliche aus dem Publikum bereits nach dem Einlass einen Sitzplatz, als wären sie zur EOC-Silberhochzeit geladen. Was aber auch an dem Stress liegen konnte, den die überfrorenen Fußwege zur Konzerthalle verursachten.
Am Ende waren manche froh, heil im Bett angekommen zu sein, und empfanden das Konzert als „sehr gelungen“.
Früher hätten sie „geil“ gesagt; heute werden sie wehmütig, wenn „Damals hinterm Mond“ gespielt wird. Ein geiles Lied übrigens, seufze auch ich voller Wehmut.

Donnerstag, 4. Februar 2010

106 | Winterblues

Der Schnee von gestern zermatscht allmählich. Doch über den Frühling nachzudenken lohnt längst noch nicht. Am besten man hält, wenn man kann, die Füße still und bleibt schön auf seiner Couch liegen, bei Tee und einem guten Buch. Schon wegen der überfrierenden Nässe am Morgen und am Abend. Oder man geht, wie ich, mittags den Büchern entgegen. Das muss nicht immer der bekannte Weg zu Dussmann sein.
So entdeckte ich gestern, als ich auf unbekannten Pfaden durch den Tag rutschte, in der Weißenseer Gustav-Adolf-Straße 14 das „Mendel-Antiquariat“ (www.mendel-antiquariat.de). Und das ist so, wie man sich ein Antiquariat vorzustellen hat: ein Regallabyrinth mit Büchern und Ruhe bis unter die Decke.
Nur selten ertönte die Türglocke. Ich hatte also genügend Muße, mich umzusehen. Die Bücher dort sind keine bibliophilen Kostbarkeiten, sondern welche mit Gebrauchswert. So man den für sich erkennt. Die Bücher wollen gelesen werden. Vieles entstammt der DDR, aber es gibt auch ein Regal mit Kinderbüchern von hüben wie drüben. Ich kaufte mir Klassiker: Johann Gottfried Seumes gesammelte Werke in zwei Bänden mit der „Reise nach Syrakus“ (Sehnsucht nach Ferne!) und Jean Pauls „Flegeljahre“.
Wieder zu Hause hörte ich mir seit langer Zeit wieder melancholische Platten von Hans-Eckardt Wenzel an: „Traurig in Sevilla“ und „Lied am Rand“. Letztere Platte besteht komplett aus vertonten Gedichten von Theodor Kramer (1897-1958), den immer noch viel zu wenig Menschen kennen. Als Jude in Wien geboren, im Londoner Exil 18 Jahre vereinsamt, in Wien gestorben. Sein größtenteils unveröffentlichter Nachlass umfasst mehr als 10.000 Werke. Herta Müller, die Literatur-Nobelpreisträgerin, gab 1999 einige von ihnen heraus und nennt Kramer in einem Atemzug mit Paul Celan. Kramer, der Flaneur unter den Landstreichern.
In der Wende- und Nachwendezeit hörte ich ständig Wenzels erste Platten „Stirb mit mir ein Stück“ (1986) und „Reisebilder“ (1989). Auf dem Debüt-Album bereits schon mit vertonten Kramer-Gedichten.
Eines der beeindruckendsten ist für mich „Der reiche Sommer“ vom 12.04.1930 (auf der „Lied am Rand“-Platte):


DER REICHE SOMMER

Sie lagen zu zweit über Mittag im Sand
vor der staubigen Jutefabrik;
lose saß um die Hüften ihr Leinengewand
und die Sonne beschien ihr Genick.
Längst schon hatte der Staub, der aus Faser und Sack
stieg, die Lungen zur Gänze durchsetzt;
und sie fühlten sich oft schon vom süßen Geschmack
ihres eigenen Blutes benetzt.

Und sie tunkten ihr Brot in den Milchtopf, den Stich
in der Lunge verhielten sie gern;
denn sie wussten: sie hatten den Sommer vor sich
und der rasselnde Herbst war noch fern.
Rein und blau war die Zeit und die Luft roch nach Seim,
nicht allein ihre Haut schien geschält;
sie erzählten sich Dinge von einst, von daheim,
die sie bisher noch keinem erzählt.

Und es dünkte zu Mittag ihr eigenes Wort
Tag für Tag sie erstaunlich und weich;
noch war keine der roten Begonien verdorrt,
und bemalt war das Leben und reich.
Reich war alles: der Sand und das Gras und das Wehn
und die strahlende Glut im Genick;
und sie hörten verschattet die Spindeln sich drehn
in der staubigen Jutefabrik.


Als ich dieses und andere Kramer-Gedichte wieder von Wenzel interpretiert hörte, war ich kurz versucht, ihm über seine Homepage (www.wenzel-im-netz.de) einen Mail zukommen zu lassen. Doch was hätte ich schreiben sollen? Dass die meisten seiner Lieder mich immer noch erreichen und mir kreative Impulse geben? Ja, vielleicht hätte ich das tun sollen. Aber vielleicht hat mich auch nur der Winterblues mit seinem Ziehharmonika-Spiel fest im Griff.
Also schrieb ich keine Mail, machte mir noch einen Tee und warte ab.