Seiten

Sonntag, 10. Januar 2010

105 | Schnee von gestern

Seit dem 2. Weihnachtsfeiertag liegt in Berlin Schnee, sind die Nebenstraßen nicht geräumt, macht die S-Bahn wieder Zicken. Und nicht nur die. Eine ältere Frau sagte im Fernsehen, dass es so was zu DDR-Zeiten nicht gegeben habe, das mit dem S-Bahn-Chaos. Dabei sorgten Verschleißerscheinungen, Versorgungsengpässe und Finanzierungsprobleme doch ständig für Chaos, will ich meinen. Bloß dass dieses Chaos nicht als chaotisch, sondern fatalistisch wahrgenommen wurde. Oder offenbar gar nicht, wie von dieser Frau. Selbst wenn sie Recht hat, wenn es zu DDR-Zeiten bei der S-Bahn zu keinerlei Ausfällen kam - so wie sie es sagte, erinnerte sie mich an Margot Honecker, die trotzig im vergangenen Herbst den 60. Geburtstag der DDR in Chile beging. Oder an noch Gestrigere, die ganz genau wussten, dass es so was bei Hitler nicht gegeben habe.
Ja, ja, die Erinnerung. Ein Moderator des RBB konnte sich nicht entsinnen, wann Berlin jemals so verschneit war. Ich schon, nämlich erst im letzten Winter. Da stapfte ich über den zugefrorenen Weißen See und musste mich im „Milchhäuschen“ mit einer Heißen Schokolade aufwärmen. Doch generell hat der Moderator natürlich Recht. Weiße Weihnachten ist wie der Weihnachtsmann zum Mythos geworden. Und weiße Winter gibt es fast nur noch an den schmelzenden Polkappen. Da wird man hier natürlich selbst bei Schneeregen ganz aufgeregt. Denn nur ein Gradchen kälter, schon überdeckte herrlichstes Weiß die ganze Alltagstristesse. Aber dazu kommt es meist nicht, vielleicht weil zu viele aufgeheizte Gemüter den Klimawandel zusätzlich beschleunigen. Und bald fangen die Deutschen sicher an, ihre grauen Winter so wortreich zu unterscheiden wie die Eskimos den Schnee.
Bietet Berlin seinen Nagern mit Abfällen und milden Wintern eigentlich ideale Tarn- und Lebensbedingungen, flüchten zumindest die Mäuse derzeit lieber in den Bundestag, wie um sich bei den höheren Tieren über soziale Kälte und eben Schneefall zu beschweren. Dabei sollen Schneespuren auch immer wieder auf den Örtlichkeiten des Reichstagsgebäudes zu finden sein. Beides Themen, welche die Medien vor allem zum chronisch schleppenden Jahresbeginn dankbar aufgreifen, um ihr winterliches Pendant zum Sommerloch zu füllen. Aber beides nichts im Vergleich zu einem angekündigten Unwetter mit Hamsterkäufen wie erst vor drei Wochen:
Der RBB zeigte gestern eine Reportage über die Folgen des Tiefs Daisy für Berlin. Nur gab es da nichts Berichtenswertes, von einigen gemütlichen Flöckchen, die es auf sage und schreibe 2 Zentimeter Schneedecke schafften, abgesehen. Wow! Dabei hätten die Bilder ganz dramatisch werden können, etwa wie beim Hochwasser 2002. Ja, sogar eine Sondersendung wurde für 20.15 angekündigt und - obwohl Daisy so harmlos wie Moshammers Yokshire-Terrier blieb - ausgestrahlt. Vergleichsweise als Warm-up für den Film, den RTL heute Abend zeigt: „The Day After Tomorrow“. Am Tage danach genau das Richtige für meine medial geprägte Erwartungshaltung.